Da ist sie wieder, die seit dem alten Griechenland diskutierte Frage, ob es einen gerechten Krieg gibt. Einfacher ist die Frage nach einem gerechten Frieden. Obwohl dies oft auch nicht zu einem eindeutigen Ergebnis führt. Aktuell steht zur Debatte, ob Deutschland schwere Waffen an die Ukraine liefern soll. Roland Appel hat dazu einen sehr persönlichen und sehr nachdenklichen Beitrag geliefert.
Natürlich gibt es keinen gerechten Krieg, denn in jedem Krieg geht es um das Töten. Getötet wird nicht der Gegner, sondern ein Mensch. Wie das aussieht, können wir gerade aus sicherer (?) Distanz stündlich miterleben. Notwehr ist im Strafrecht die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden. Notwehr macht die Tat nicht weniger schrecklich, sie nimmt ihr nur die strafrechtlich relevante Rechtswidrigkeit. Der in seinem Panzer verglühte russische Soldat bleibt eine arme Kreatur, um den sich seine Mutter die Augen ausweint, auch wenn der Gebrauch der Panzerabwehrwaffe völkerrechtlich nicht zu beanstanden ist.
Was im Individualstrafrecht gilt, ist auch im Völkerrecht anerkannt. Alles, was über die notwendige Verteidigung hinausgeht, ist nicht mehr vom Notwehrrecht gedeckt. Völlig abstrus ist also die Diskreditierung diplomatischer Initiativen zur Beendigung der Kämpfe, denn sie sind eindeutig das mildere Mittel. Deutschland hat in dieser Zeit eine Außenministerin, die „aus dem Völkerrecht kommt“. Sie wird wissen, wie heikel die Rechtsfigur der Ultima Ratio im Völkerrecht ist.
So schwer es in diesen Zeiten ist, richtig von falsch zu unterscheiden: Kein anderes Land auf der Welt ist so gefordert wie Deutschland, wenn es um die Beachtung des Übermaßverbots geht. Deutsche Politiker*innen, die davon sprechen, man müsse Russland besiegen, sind nicht nur unerträglich dumm. Sie haben auch im Geschichtsunterricht nicht aufgepasst. Schon Napoleon und Hitler haben sich mit schrecklichen Folgen militärisch die Zähne an Russland ausgebissen.
Waffen allein haben noch nie zum Frieden geführt. Oder wird in der Ukraine ein Stellvertreterkrieg mit den Waffen und dem Geld des Westens, aber mit dem Blut junger ukrainischer und russischer Soldaten geführt? Jeder nutzlos verstrichene Tag ohne Diplomatie ist ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Angesichts des Grauens des Krieges ist es schwierig, die Kontenance gegenüber Provokationen zu bewahren. Die Zurückweisung von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durch den ukrainischen Präsidenten Selenskyj ist nicht nur eine persönliche Beleidigung, sondern eine unglaublicher diplomatischer Affront, der in normalen Zeiten mindestens zur Ausweisung des Botschafters führen würde. Die Beleidigung eines fremden Staatsoberhaupts ist in Deutschland eine Straftat. Die Staatsanwaltschaft hat schon aus geringerem Anlass, als im Falle Melnyks und Selenskyjs Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die größtenteils lasche Kritik am Verhalten des ukrainischen Präsidenten in der deutschen Presselandschaft ist atemberaubend. Da scheint Parteipolitik über Staatsräson zu gehen. Politiker*innen, die jetzt einen Besuch von Bundeskanzler Scholz in Kiew fordern, fehlt es nicht nur an Anstand, sondern an einem Gespür dafür, was geht und was nicht geht. Aber wie gesagt, es ist gerade offenbar nicht einfach, richtig und falsch auseinander zu halten.
Alexander Kluge hält in einem beachtenswerten Plädoyer für die Kraft der Kunst in der Süddeutschen Zeitung vom heutigen Tage (Paywall) das Entsetzen über die Toten, das uns unausweichlich bewegt, für so mächtig, dass Verhandlungen über den Stillstand der Waffen unmöglich werden können. Gleichwohl erinnert er an die grundsätzlich vorhandene menschliche Fähigkeit zwischen Verstand und Emotion zu vermitteln und die Widersprüchlichkeit in uns und in der Außenwelt zu akzeptieren. Täten wir das, würden wir Anna Netrebko singen und Valery Gergiev dirigieren lassen. Vom Boykott russischer Kultur bis zur Anfeindung russischer LKW-Fahrer auf deutschen Autobahnraststätten ist es nur ein kleiner Schritt.
Krisenzeiten sind immer auch Schlaumeierzeiten. Da sind z. B. jetzt diejenigen, die immer schon wussten, dass Putin ein Verbrecher ist, mit dem man keine Geschäfte machen sollte und dass die Formel vom Wandel durch Handel keine zuverlässiger Weg zu dauerhaftem Frieden ist. Eine besondere Variante des Schlaumeiertums ist die Häme, mit der Robert Habeck überschüttet wurde, als er sich im Nahen Osten auf die Suche nach neuen Partnern machte.
Auch das anerkennende Lob für die bellizistische Annalena Baerbock ist eine Form des Schlaumeiertums. Haben wir ja immer schon gesagt, dass die Ideale der Grünen den Realitätstest nicht überstehen.
Schlaumeier waren es auch, die regenerative Energien für zu teuer hielten und unsere Kernkraftwerke lieber noch ein paar Jahre länger mit importierten Uran aus so zuverlässigen Staaten wie Russland, Kasachstan oder Niger gefüttert hätten.
Einige dieser jetzt angesichts des Mordens in der Ukraine moralisch maßlos Empörten haben sich rechtzeitig mit Aktien von Rüstungsunternehmen eingedeckt. Wenn ich es nicht mache, machen es andere.
Eine Zeit, in der alte Gewissheiten zerbröseln, ist besonders attraktiv für die Verkünder neuer Gewissheiten. Was richtig oder falsch ist, stellt sich oft erst im Nachhinein heraus. Und selbst dann kann man nicht sicher sein. Es täte uns gut, wenn wir uns ein bisschen mehr an diese Unsicherheit gewöhnen würden. Alexander Kluge hat Recht, wenn er darauf hinweist, dass die Kunst mit Räumen und Zeiten anders umzugehen vermag, als es im Alltag geschieht. Sie hat ein großes Reservoir an Vorstellungskraft. Das braucht es jetzt mehr denn je. Richtig oder falsch ist dabei möglicherweise im Moment nicht das entscheidende Kriterium.
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