Alles sein, bloß kein Alman: Eine Begegnung mit meinem Enkel in Berlin – Der Enkel hat Verwandte aus den USA, Polen, Italien. Menschen, die er nicht mag, nennt er Almans. Unsere Autorin hört ihm zu – und erkennt sich wieder.
Endlich treffe ich meinen Enkel mal wieder. Ich tröste mich damit, dass es in seinem Alter völlig normal ist, die Zeit lieber mit Kumpels als mit Omis zu verbringen, von denen er allerdings mehrere interessante Exemplare in seiner weit verzweigten Patchworkfamilie hat. Und alle lieben es, Zeit mit ihm zu verbringen. Unser Verhältnis war innig, bis die Corona-Zeit unsere regelmäßigen Treffen einfror. Jetzt ist er plötzlich größer als ich, tritt mir mit verschränkten Armen entgegen und raunt, dass Küssen und Streicheln in der Öffentlichkeit verboten sind.
Früher haben wir in meiner Wohnung zusammen Animationsfilme produziert. Sie sind alle auf vimeo.com zu sehen. Ich bin in der Familie für meine Kreativität verschrien und förderte seine Zeichen-Begabung.
Wir haben nur wenige Stunden miteinander. Meine Idee ist, mit ihm auf den Turm der Zionskirche zu klettern und ihm unaufdringlich etwas über die widerständigen Aktivitäten an diesem Ort zu erzählen. Der Turm ist leider geschlossen. Die Geschichte mit dem Tunnel, den die Rote Kapelle unter der Straße gegraben hat, findet mein Enkel gut, aber Führungen durch Kirchen öde.
Bald stehen wir wieder auf der Straße. Es regnet. Auf der Suche nach einem Restaurant schlendern wir durch die Straßen und sprechen über Reisepläne. Er wird mit seiner Urgroßmutter für zehn Tage nach New York fliegen und anschließend mit dem italienischen Flügel seiner Familie nach Sizilien. Ich werde eine Radtour nach Polen machen, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Seit zwei Jahren lerne ich Polnisch und komme überhaupt nicht voran. Mein Enkel erzählt, er sei ein bisschen polnisch, da die Großeltern seines Vaters aus Polen gekommen seien. Das ist neu für mich. Ich sage: Du bist eine gute Berliner Mischung. Ein bisschen jüdisch bist du ja auch.
„Jüdisch ist doch kein Land“, sagt er
Er schaut auf mich herab, zieht seine sommersprossige Nase kraus und sagt: „Hä? Jüdisch ist doch kein Land.“
Hätte er sich für das Jüdische Gymnasium entschieden, was vor zwei Jahren eine Option war, dann wüsste er mit Sicherheit bereits etwas über Israel und seine Geschichte. Aber ich werde jetzt nicht mit Israel anfangen. Die kurze Zeit mit ihm ist mir zu kostbar, als dass ich eine Gesprächsreihe „Israel eins bis unendlich“ mit ihm eröffnen möchte. Vielmehr interessiert mich, was in seinem Leben los ist, was ihn gerade bewegt.
Mein Enkel hat ein feines Gespür für Unausgesprochenes und fragt nach: „Oder woher sollen Juden kommen?“
Ich fange an, etwas über aschkenasische und sephardische Wege zu erzählen. In meiner Geste gestalten sie sich wie eine Umarmung des europäischen Kontinents, wobei mein rechter Arm der Aschkenasische ist und mein linker der Sephardische. Ich lasse die Arme sinken, als ich merke, dass ich im Begriff bin, einen Vortrag zu halten. So einfach ist das ja alles auch nicht. Gar nichts ist einfach, wenn wir beginnen, den Satz „Jüdisch ist doch kein Land“ unter die Lupe zu nehmen. Letztendlich, sage ich, kamen alle vor sehr vielen Jahren aus einer Gegend in der Nähe von Ägypten.
„Aus der Nähe von Ägypten“, äfft mein Enkel mich nach, als hätte ich meinen Ruf in der Familie, ein bisschen spinnert zu sein, mal wieder bestätigt.
Eigentlich fühle ich mich nicht befugt, ihn über jüdische Geschichte, Herkünfte und Identitäten zu belehren, denn ich bin nicht jüdisch. Aber es überrascht mich, dass er nichts weiß. Er kennt jüdische Feste und Bräuche. Als er noch klein war, zeigte er während einer Straßenbahnfahrt einmal auf einen Kirchturm und sagte: Da, eine Synagoge. Seine Mutter sang ihm jiddische Lieder vor. Er weiß, warum seine Urgroßmutter im New Yorker Exil ihrer Eltern geboren wurde. Ich habe ihm die Comic-Version des Tagebuchs der Anne Frank geschenkt.
Als ich so alt war, sah ich zum ersten Mal Bilder aus Auschwitz
Ich gestehe, dass ich hin und her gerissen war, als das Jüdische Gymnasium in der Familie diskutiert wurde. Einerseits ist es eine gute Schule, wahrscheinlich um Welten besser als die, in der er jetzt darum kämpft, versetzt zu werden. Andererseits sah ich Schwierigkeiten auf ihn zukommen. Er hätte sich in den Straßen Weddings, die er so liebt, erklären und rechtfertigen müssen. Er wäre angegriffen und beschimpft worden. Die Polarität des Jüdischseins hätte ihn eingeholt. Dafür hätte er nicht einmal jüdisch sein müssen. Es hätte genügt, sich für diese Schule zu entscheiden.
Ich war genauso alt wie er und wusste auch nichts, als ich das erste Mal Bilder von Auschwitz sah. Ich erinnere mich an jedes Detail dieses Augenblicks. Es geschah während der großen Pause. Meine Freundin war essen gegangen. Ich ging nicht essen. Ich fand mich zu fett. Ich war allein im Klassenzimmer geblieben und knabberte an einem Apfel. Es war einer der ersten heißen Frühlingstage, an denen man mittags schweißgebadet ist, weil man sich morgens den Wintertemperaturen entsprechend gekleidet hat.
Ich trug einen grasgrünen Wollpullover und schwarze Cordhosen, auf die ebenso grasgrüne Äpfel gedruckt waren. Ich hasste mein Spiegelbild in der Büchervitrine. Ich öffnete sie und zog einen dicken Bildband mit dem Titel „Auschwitz“ aus dem Regal. Die Sonne knallte ins Zimmer. Von unten, vom Hof, drang Pausenlärm durch die weit geöffneten Fenster. Mit dem Apfelgriebs in der Hand starrte ich auf die Leichenberge. Natürlich hatte ich längst das Tagebuch der Anne Frank gelesen. Ich hatte von den Konzentrationslagern gehört, in denen Juden ermordet worden waren. Im Deutschunterricht hatten wir über „Professor Mamlock“ von Friedrich Wolf gesprochen. Aber außer dem Wohnungs-Versteck, das Anne nicht verlassen konnte, besaß ich keine Bilder der Geschichte.
Ich sog ein, was ich auf den grobkörnigen Schwarz-Weiß-Fotos sah. Als meine Freundin vom Essen zurückkam, klappte ich das Buch zu und stellte es zurück. Ich tat so, als sei nichts geschehen. Jedenfalls versuchte ich so zu tun. Ich sprach mit niemandem über das, was ich gesehen hatte. Ich besaß dafür keine Sprache. Es muss dieser Moment gewesen sein, der aus mir eine Antisemitismusforscherin machte.
Meine Mutter machte einen antisemitischen Spruch
Mit meinen Nachforschungen begann ich in meiner Familie. Meine Großmutter sagte, sie hätte den Juden niemals etwas Schlechtes gewünscht, aber sie hätte sie nicht gemocht. Ich wollte wissen, warum. Aber sie konnte das nicht erklären. Ich weiß nicht, sagte sie. Das war eben so. Seltsam. Wie konnte sie eine ganze Gruppe von Menschen nicht gemocht haben, von denen doch zumindest einige so toll wie Anne gewesen sein mussten? Ich liebte Anne Frank. Für mich war sie wie eine Schwester.
Ich fragte meine Mutter, die die Nazizeit allerdings kaum erlebt hatte. Sie machte einen antisemitischen Spruch. Ich begann, meiner Familie zu misstrauen, und je mehr ich erfuhr, desto mehr misstraute ich dem ganzen Land. Einige Jahre später traf ich im Berliner Büro der Aktion Sühnezeichen zum ersten Mal einen Jungen meines Alters, der aus einer jüdischen Familie kam. Wir waren sehr jung, kaum älter als mein Enkel jetzt. So kommt es mir jedenfalls vor. Ich hatte so viele Fragen, dass ich einfach nicht mehr von seiner Seite wich. Schließlich heirateten wir. Ich erinnere mich an die strengen, jüdischen Damen in seinem Umfeld, die mich für meine Unwissenheit ausschimpften. Damals hörte ich oft den Satz: Aber das weiß man doch!
Ich werde keinen jungen Menschen mit diesem Satz verletzen. Man weiß nichts, wenn man aus der Schule kommt. Man hat die meisten Bücher noch nicht gelesen, die Filme noch nicht gesehen, die persönlichen Lebensberichte noch nicht gehört. Es braucht viele Jahre, bis sich Gelesenes, Gehörtes und Geschautes zu einer eigenen Sicht auf die Geschichte verdichtet.
„Ein Alman ist unentspannt, meckert rum“
Mein Enkel praktiziert in der Schule die gleiche Lernmethode wie ich. Nach bestandener Klassenarbeit wird der Inhalt sofort wieder gelöscht. Den Hauptspeicher brauchen wir für die wichtigen Dingen des Lebens. Für mich waren das Musik, Kleidung, meine Körpermaße, andere übliche Teenager-Themen und die Antisemitismusforschungen, die in Ermangelung von Literatur vor allem im Nachsinnen über menschliches Verhalten im Allgemeinen und im besonderen Fall der Deutschen bestanden. Die Mathematikstunden eigneten sich dafür am besten.
Für meinen Enkel sind die wichtigen Dinge, die seinen Hauptspeicher füllen: Schwarzer Rap, seine Körpermaße, andere übliche Teenager-Themen, Rassismusforschungen und Schuhe. Zu Hause scrollt er kilometerlang durch Seiten mit Schuhen, kennt sämtliche Marken und Modelle und deren spekulativen Marktwert in zehn Jahren. Darüber referiert er, aufs Sofa gefläzt, den Laptop auf den Knien. Seinen Businessplänen mit dem Marktwert von Schuhen in zehn Jahren und den Gedanken über menschliches Verhalten im Allgemeinen und im besonderen Fall der Deutschen folgt er wie von selbst im Physik-, Chemie- und Deutschunterricht. In seiner Generation gibt es einen Begriff für den Gegenstand unserer Forschungen: der Alman.
„Ich bin froh, dass Mama nicht mit so einem Alman zusammen ist.“
Was ist das?, will ich wissen.
„Na, so ein Deutscher.“
Aber Mamas Freund ist in Deutschland geboren, also ist er deutsch, wende ich ein. Aber er sei kein Alman, sagt mein Enkel. Ich frage ihn, woran er Almans erkennt.
„Der ist total unentspannt, meckert rum, ist mies drauf. Er trägt diese komischen Schuhe, weiß nicht, wie die heißen.“
Wir beschließen, uns künftig auf Englisch zu schreiben
Wir einigen uns auf ein kleines Restaurant, in dem südindisches Streetfood gekocht wird. Die Kellnerin spricht Englisch. Mein Enkel kritisiert mein schlechtes Englisch. Wir beschließen, unsere WhatsApp-Nachrichten zukünftig in Englisch zu schreiben. Er darf mich dann korrigieren.
„Ich spreche viel lieber Englisch als Deutsch“, sagt mein Enkel. „Ich bin in Englisch auch viel besser.“ Seine Schulnoten bestätigen diese Einschätzung. „Ich bin froh, eine amerikanische Großmutter zu haben“, sagt er.
Ich erlebe ein Déjà-vu meines Lebensgefühls von damals. Die Flucht vor der piefigen, nationalbeflaggten, antisemitisch-rassistischen Erblast des Deutschseins hinaus ins Offene einer Weltgemeinschaft. Doch woher kommt diese Sehnsucht bei meinem Enkel? Er ist umgeben von Menschen unterschiedlicher Herkünfte, Religionen und Identitäten in einer weltoffenen Stadt. Er scheint sich klar darüber zu sein, dass das nicht die Normalität ist. Die Normalität wird in großem Maße von und für den Alman gesetzt. Noch immer.
„Dieses Restaurant hat good vibes“, sagt er. „Und ich mag, dass es gerade regnet.“
„Ich finde, wir sollten mal wieder zusammen verreisen“, sage ich.
Unsere gemeinsame Frankreich-Reise hat Corona verhagelt. Wir könnten nach Tel Aviv fahren, schlage ich vor. Soll so cool sein wie Berlin und New York. Sagt Mirna Funk, eine Schriftstellerin, die ich mag. Sie war übrigens auch ständig versetzungsgefährdet auf dem Gymnasium. Oder wir fahren in den Libanon. „Wir haben eine Freundin in der Familie, die sich im Libanon auskennt“, sagt mein Enkel.
Wir blicken auf die gleiche melancholische Art hinaus in den Regen. Definitiv haben wir die gleiche Art, den Regen zu betrachten.
„Ich weiß, das ist noch kein Thema für dich, aber falls du dich irgendwann mal intensiver für ein Mädchen oder einen Jungen interessierst, kann ich dir einen Tipp geben“, sage ich. „Ich interessiere mich nicht intensiv für Jungs“, erklärt mein Enkel.
„Na gut, wenn das so ist, kann ich dir trotzdem einen Tipp geben. Mädchen finden es süß zu sehen, wenn ein cooler Junge seine Mutter küsst. Und zwar auf den Mund.“ Mein Enkel schaut mich an. Ich kann sehen, dass er darüber nachdenkt. Er scheint diese Verführungsmethode in Betracht zu ziehen.
Kathrin Schrader, geboren 1967 in Dresden, ist Schriftstellerin. Sie lebt in Berlin.
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