Als Wolfgang Schäuble 1972 das erste Mal in den Bundestag gewählt wurde, war die Hälfte der heutigen Abgeordneten noch nicht geboren. Willy Brandt war Bundeskanzler. Der CDU-Vorsitzende hieß Rainer Barzel. Das Drei-Parteien-System schien stabil – SPD, Union und FDP kamen auf zusammen 99,1 Prozent und alle „Sonstigen“ auf 0,9 Prozent. Von Grünen war selbst in Universitätsstädten noch nichts zu sehen. Borussia Dortmund stieg aus der Bundesliga ab. Der sportbegeisterte Schäuble war ein Fan von Bayern München. Gern erzählt er, er habe damals das Angebot der Fraktionsführung, Mitglied des Sportausschusses zu werden, angenommen – auf Eintrittskarten zur Fußballweltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik hoffend. Auf Fotos der Siegerehrung ist Schäuble auf der Ehrentribüne zu sehen. Vorne Overath, hinten er.
Schäuble lebt in, von und für die Politik: pro-europäisch, macht- und selbstbewusst, pragmatisch, durchsetzungsfähig. Sein Vater war CDU-Abgeordneter im damaligen Badischen Landtag. Bruder Thomas war in Baden-Württemberg CDU-Innenminister. Schwiegersohn Thomas Strobl ist es heute. Seine Frau Ingeborg war Vorsitzende der Welthungerhilfe. Eines der Kinder, Christine Strobl, ist ARD-Programmdirektorin. Schäubles Lieblingserzählung ist familiärer Art. Seiner Frau habe er als junger Finanzbeamter einst versprochen, nicht Berufspolitiker werden zu wollen; seine Bewerbung um eine Wahlkreiskandidatur sei ja auch so gut wie aussichtslos. Es kam anders. Kein Abgeordneter gehört und gehörte je einem deutschen Parlament so lange an wie er – ohne Unterbrechung stets direkt gewählt im Wahlkreis Offenburg.
Unter Bundeskanzler Helmut Kohl, der Leitfigur, Ziehvater und Trauma war, wurde Schäuble einflussreich und mächtig: erster Parlamentarischer Geschäftsführer, Chef des Kanzleramtes, Innenminister, Fraktionsvorsitzender. Den „Einigungsvertrag“ mit der DDR zu deren Auflösung handelte Schäuble aus. Dass Berlin Regierungssitz wurde, hat er bewirkt. Dass die Grünen 1994 erstmals eine Bundestagsvizepräsidentin stellen konnten, arrangierte er durch Austricksen der SPD. Vielen galt er als Gegner des Bündnisses mit der FDP, sondern als Anhänger einer großen Koalition. Schäuble wurde Kohls Hausmeier und Kronprinz. Doch stürzen wollte er ihn nicht – auch nicht, als Kohl seinen Zenit überschritten hatte. Erst 1998, nach dem Sieg von SPD und Grünen, wurde Schäuble CDU-Vorsitzender.
Schicksalsschläge, Niederlagen und Enttäuschungen hatte er zu erdulden. Seit dem Attentat 1990 ist er gelähmt. Kohls und auch seine eigene Spendenaffäre führten zum Zerwürfnis zwischen ihnen, zu seinem Rücktritt als CDU-Chef und zum Aufstieg Angela Merkels. Doch nie gab er beleidigt auf, auch nicht, als die Kanzlerin ihn nicht zum Bundespräsidenten machte. Schäuble reihte sich ein. Pflichtbewusst, starrköpfig und flexibel zugleich, hart gegen sich selbst – und gegen andere: abermals Innenminister, Finanzminister, Bundestagspräsident. Am kommenden Sonntag wird er 80 Jahre alt. Demnächst wird er 50 Jahre dem Bundestag angehören, als Zeitzeuge und prägender Akteur dessen Bonner und Berliner Jahre.
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