Und: wie der “Boulevard” Diskursmacht übernimmt

Die Launigkeit von Helmut Höge schätze ich sehr. Seine lose Endlosserie über “die lustige Tierwelt” hat bei der Jungen Welt, dort leider meistens hinter Paywall, eine Entsprechung unter “Wirtschaft als das Leben selbst”. Heute erfreut er uns mit seiner Erforschung der Krokodile, die uns, seit wir Kleinkinder waren, aus dem Kasperle-Theater bestens bekannt sind: Die wollen doch nur spielen – Die lustige Tierwelt und ihre ernste Erforschung (155): Krokodile werden von menschlichen Horrorgeschichten verfolgt.”

Das ist real existierende Natur und Ökologie: Fressen und Gefressenwerden. Wollen wir das? Ich bevorzuge die evolutionär entwickelte Fähigkeit, als Mensch zu Kultur, Empathie und Solidarität zu finden. Wobei sich zweifellos Realismus statt romantisierende Träumerei empfiehlt. Den Krokodilen sind die menschlichen Projektionen des Kasperletheaters komplett schnurzpiepegal. Gegessen habe ich noch keins. Nur einmal ein angebliches Haifischsteak in einem Hotelrestaurant in Norden. Das schmeckte recht akzeptabel.

Boulevardisierung – ein linker Systemabsturz?

Kennen Sie Ezgi Güyildar? Ich auch nicht. Bis eben. Sie hat im Wahlkreis Essen II kandidiert. Das war viele Jahrzehnte der sicherste SPD-Wahlkreis der ganzen BRD. Frau Güyildar erwirbt sich nun Bekanntheit – und nicht wenig Popularität – weil sie sich traut in asozialen Netzwerken den Herrn Melnyk anzugreifen und zu kritisieren, und der ihr die Ehre erweist, sie zu beschimpfen. Obwohl ich in erster emotionaler Reaktion dazu neigte, mit der schönen Frau gegen den bösen Mann zu sympathisieren, endete ich doch in einem sehr, sehr schalen Geschmack. Die individualistische Personalisierung: sie kotzt mich an. Nicht auszuschliessen, eher wahrscheinlich, dass Frau Güyildar nun zur Belohnung Talkshoweinladungen kassiert …

Was Du nicht willst, das mann dir tu, das füg auch keinem andern zu. Ich bin Anhänger dieses Prinzips. Ich bekäme einen Allergieschock und Fluchtreflexe, wenn meine Familien- und Liebesbeziehungen durch den Fleischwolf des Medienzirkus und der Politik gedreht würden. Bei meinem Ex-Chef Roland Appel musste ich mich (1990-2000) nicht wenig mit der Abwehr derartiger Angriffe beschäftigen. Da wurde dann auch mal ein VW Scirocco zu einem Porsche erklärt. Wenn Ignorieren – als meistens beste Option – nicht durchzuhalten war, war die zweitbeste Lösung die aggressiv-freundliche Umarmung der aggressiv-instrumentalisierten Journalist*inn*en und ihre Fütterung mit “exklusiven” Infos. Politik ist ein schmutziges Geschäft. Und die meisten Volksweisheiten sind gar nicht doof.

Die Alternative finde ich im gleichen Medium – Berliner Zeitung – bei einem Genossen von Frau Güyildar, Fabio de Masi. Der versteht noch etwas mehr vom Zusammenhang zwischen harter politischer Recherche und ihrer publizistischen Verbreitung. In seiner aktuellen Kolumne setzt er “Human Touch” offensiv und erzählerisch virtuos ein. Es läuft allerdings alles auf eine trockene politische Analyse hinaus, die im übrigen auch vollkommen zutrifft.

Der Kerl hat nicht mehr für den Bundestag kandidiert. Er weiss warum.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net