In der UN-Generalversammlung vom September 2022 wurde (wieder einmal) über die Zu­sammensetzung des Sicherheitsrates diskutiert. Ziemlich überraschend erhob Kanzler Scholz dort den Anspruch Deutschlands auf einen ständigen Sitz in diesem Gremium. Jahrzehntelang hatte die deutsche Regierung dieses Anliegen vertreten, zeitweise sogar mit dem Wunsch nach einem Vetorecht. 2021 war anscheinend ein Meinungswandel erfolgt. Im Koalitionsvertrag findet sich ein solcher Anspruch nicht mehr. Statt dessen heißt es dort: „Wir setzen uns für die Stärkung der Vereinten Nationen als wichtigster Institution der in­ternationalen Ordnung politisch, finanziell und personell ein. Eine Reform des VN-Sicher­heitsrates bleibt ebenso unser Ziel wie eine gerechtere Repräsentanz aller Weltregionen.“ Was unter „Reform“ zu verstehen ist, blieb allerdings offen.

In der jüngsten Sitzung wurde von fast allen Staaten die 1945 festgelegte Zusammenset­zung des Sicherheitsrates als historisch über­holt kritisiert und eine Reform durch Aufnah­me weiterer Mitglieder verlangt. Viele Staaten forderten eine Abschaffung des Vetorechts der fünf ständigen Mitgliedstaaten, da dieses – oder die Androhung damit – in der Vergan­genheit fast immer zur Handlungsunfähigkeit des Rates in wichtigen Fragen des Friedens und der internationalen Sicherheit geführt hatte. Zuletzt hatte Russland damit eine Resolu­tion zur Verurteilung seines Überfalls auf die Ukraine verhindert. US-Präsident Biden un­terstützte die Erhöhung der Mitgliederzahl und plädierte dafür, Vertretern aus Afrika, La­teinamerika und der Karibik einen ständigen Sitz einzuräumen.

Doch weder die Abschaffung der bestehenden Vetos noch ein neues Vetorechte für Deutschland sind realistisch; sie würden am Widerstand der jetzigen Veto-Mächte schei­tern. Pragmatischer und aussichtsreicher ist die Haltung des Länder des Südens, die eine stärkere Vertretung ihrer Kontinente im Sicherheitsrat fordern, gegebenenfalls einen stän­digen Sitz oder gar ein Vetorecht für einzelne Staaten. Als Bewerber für Asien tritt Indien auf (aber auch Japan), während es in Lateinamerika (Brasilien, Argentinien, Mexiko) und Afrika (Ägypten, Südafrika, Nigeria) mehrere Bewerber gibt.

In Wissenschaft und Politik wird überwiegend die Ansicht vertreten, dass Struktur und Ar­beitsweise des Sicherheitsrates überholt sind. In der UN-Millenniumsproklamation 2000 wird dies ausdrücklich betont. Bemängelt wird nicht nur die undemokratische Praxis, dass fünf Staaten sich keiner Wahl stellen müssen und ein Vetorecht ausüben können, sondern auch die überholte Zusammensetzung des Rates, die nicht mehr der Zahl der Mitgliedsstaaten, ihrer Einwohnerzahl und ihrer gewachsenen Bedeutung entspricht. 2005 hatte der UN-Generalsekretär daher ein Modell vorgelegt, das eine Erweiterung um sechs ständige und drei weitere Mitglieder vorsieht. Hierauf bauen die aktuellen Forderungen auf.

Der Sicherheitsrat (SR) ist das wichtigste Gremium der Vereinten Nationen und für Kon­fliktlösung und Friedenssicherung zuständig. Ihm gehören 15 der 193 UN-Mitgliedstaaten an. Fünf Atommächte sind ständig dabei und haben ein Vetorecht bei allen Entscheidun­gen: die USA, China, Russland, Großbritannien und Frankreich. Die anderen 188 Mit­gliedstaaten wechseln sich auf den anderen zehn Sitzen alle zwei Jahre ab. Deutsch­land bewirbt sich alle acht Jahre um einen Sitz. Das Vetorecht, das fünf Staaten eine umstrittene Sonderstellung einräumt, wurde 1945 auf der Konferenz von Jalta verabredet. Es dien­te zur Wahrung der Interessen der sogenannten Siegermächte des Zweiten Welt­kriegs und sollte ihre Zustimmung zur Gründung der Vereinten Nationen sichern.

Der SR ist die einzige Institution der Welt, die im Rahmen des Völkerrechts militärische Maßnahmen gegen Staaten oder bewaffnete Kräfte beschließen kann. Jedoch darf der SR diese erst anordnen, wenn “eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine An­griffshandlung vorliegt” und zunächst alle nicht-militärischen Möglichkeiten zur Konfliktschlichtung ausgeschöpft wurden (UN-Charta). Einzelnen Staaten steht ein Recht auf mili­tärische Gewalt ausschließlich im Fall der Selbstverteidigung zu. Militäreinsätze ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats sind völkerrechtswidrig und verstoßen gegen die univer­sellen Grundsätze von Friedenspflicht und Gewaltverzicht.

Die Forderung Deutschlands nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat erfolgt nicht nur zu einem brisanten Zeitpunkt, sondern ist auch unangemessen und politisch fragwür­dig. Die deutsche Regierung sollte statt dessen allen Bestrebungen zur Ausweitung der Zahl vetoberechtigter Staaten entgegentreten und sich für eine schrittweise Abschaffung des Veto-Rechts der fünf ständigen Mitgliedstaaten einsetzen. Ein erster, wenn auch wahr­scheinlich aussichtsloser Vorschlag könnte sein, dass betroffene Staaten nicht in eigener Sache ein Veto einlegen dürfen. Zur Unterstützung wäre vielleicht sogar ein positiver Be­schluss der UN-Generalversammlung erzielbar. In der Vergangenheit ist schon mehrfach ein Votum der UN-Vollversammlung erfolgt, wenn der Sicherheitsrat wegen eines Vetos nicht handlungsfähig war. Ein solches Votum ist zwar nicht bindend, entfaltet aber politi­sche Wirksamkeit.

Die Bedenken gegen das deutsche Anliegen lassen sich an fünf Punkten festmachen:

1. Ein öffentlichkeitswirksames Streben nach einem ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat verdrängt die wahren internationalen Aufgaben Deutschlands. Nicht Prestigedenken und Großmannssucht, sondern nachhaltige Bemühungen zur Beilegung und Verhinderung von Konflikten, für den Abbau von religiösen oder ethnischen Konfrontationen und für die Be­seitigung der Armut in der Welt sollten die deutsche Außenpolitik prägen.

2. Die Forderung der Bundesregierung ist ein Zeichen von Selbstüberschätzung und ver­kennt die realen Gegebenheiten und Interessenlagen in der UN-Völkerfamilie. Wenn Än­derungen im UN-Sicherheitsrat nötig sind, dann zugunsten des Staaten der südlichen Kontinente.

3. Es ist zu erwarten, dass ein ständiger Sitz Deutschlands im UN-Sicherheitsrat dazu be­nutzt würde, weltweite Militäreinsätze der Bundeswehr zu fordern und zu rechtfertigen. Wer eine einfluss­reiche Rolle im UN-System spielt, so würde die Bundesregierung künftig argumentieren, dürfe sich seiner Verpflichtung für Militäraktionen nicht entziehen.

4. Das Streben nach einem ständigen deutschen Ratssitz steht in offenkundigem Wider­spruch zu dem Ziel, die europäische Außenpolitik zu harmonisieren und die EU weltweit mit einer Stimme sprechen zu lassen. Aufgrund dieser Zielsetzung wurde in der Vergan­genheit bereits die Idee eines gemeinsamen ständigen Sitzes aller EU-Staaten entwickelt, was jedoch an Frankreich und Großbritannien scheiterte.

5. Je größer die Zahl ständiger Ratsmitglieder mit Veto-Recht wird, desto eher besteht die Gefahr, dass der Sicherheitsrat handlungsunfähig wird und seine Verantwortung für den Erhalt des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht wahrnehmen kann. Die Vergangenheit hat gezeigt, wie oft und wie dreist vor allem die UdSSR und die USA aus eigennützigen politischen Gründen von ihrem Veto-Recht Gebrauch gemacht haben.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.