Bei der Wahl 2021 sind 736 Abgeordnete in den Bundestag eingezogen, so viel wie nie, darunter 34 mit einem Überhangmandat und 104 mit einem Ausgleichsmandat. Nach Chi­na hat Deutschland das zweitgrößte Parlament der Welt. Laut Wahlgesetz soll der Bun­destag nur 598 Mitglieder haben. Schon bei der Bundestagswahl war die Zahl der Abge­ordneten von 631 (2013) auf 709 gestiegen, weil die FDP wieder und die AfD erstmals in den Bundestag einzogen.

Seitdem hat es eine Reihe von Bestrebungen gegeben, diesen „Auswuchs“ einzudämmen, zumal er zwangsläufig hohe Kosten verursacht. Eine Reform ist zwingend. Im aktuellen Koalitionsvertrag heißt es deswegen: „Wir werden innerhalb des ersten Jahres das Wahlrecht überarbeiten, um nachhaltig das Anwachsen des Bundestages zu verhindern. Der Bundestag muss effektiv in Richtung der gesetzlichen Regelgröße verkleinert werden. Eine Verzerrung der Sitzverteilung durch unausgeglichene Überhangmandate lehnen wir ab.“

Überhangmandate entstehen bekanntlich, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt als es ihrem Anteil an den Zweitstimmen entspricht. Diese Parla­mentssitze werden durch die Vergabe zusätzlicher Sitze (Ausgleichsmandate) in einem Maße ausgeglichen, dass am Ende die Sitzverteilung nach dem Verhältnis der Zweitstim­men gewahrt bleibt.

Bis 1987 war die Ermittlung der Parlamentssitze nach einer Bundestagswahl zumeist eine einfache und nachvollziehbare Angelegenheit. Es gab im Bundestag meistens nur drei Parteien, und die Partei, die die meisten Direktmandate gewonnen hatte, hatte fast immer auch eine entsprechend hohe Zahl an Zweitstimmen. Deshalb gab es nur selten Über­hangmandate, von der 1. bis zur 11. Wahlperiode (1949–1987) insgesamt 17. Eine Aus­gleichsregelung für Überhangmandate gab es nicht.

Doch dann änderte sich die Rechtslage, 2012 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass mehr als 15 Überhangmandate ohne Ausgleich verfassungswidrig seien. Daraufhin verabschiedete der Bundestag 2013 ein Sitzzuteilungsverfahren, das Überhänge durch die Erhöhung der Zahl der Mandate vollständig ausgleicht. 2020 erfolgte eine Modifikation da­hingehend, dass maximal drei Überhangmandate bleiben durften.

Gleichzeitig stieg die Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien. Heute sind es sechs, bei Einrechnung der CSU sogar sieben. Direktmandate sind jetzt schon mit 25% der Erst­stimmen erreichbar, der Negativrekord lag 2021 bei 18,2%! Dementsprechend wuchs die Zahl der Überhang- und Ausgleichsmandate. Besonders deutlich ist das Ungleichgewicht in Bayern, wo die CSU 2021 zwar nur 31,7% der Zweitstimmen erhielt, aber 44 von 45 Wahlkreisen gewann. Da macht es schon stutzig, dass die CSU gegenüber 2013 17,6% der Zweitstimmen, also rund ein Drittel ihrer Wähler/innen verlor, jedoch kein einzi­ges Mandat. Dieses Privileg versucht die Union zu sichern.

Reformversuche haben ihr Ziel nicht erreicht oder sind mangels Mehrheit gescheitert. So hatten Grüne, FDP und Linke 2019 (vergeblich) vorgeschlagen, die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 zu verringern. Dann wäre man insgesamt auf rund 660 Sitze gekommen. Eine andere, recht kreative Lösung sieht vor, dass weiterhin Kandidat/innen in allen Wahlkreisen antreten und das (per Zweitstimme ermittelte) Sitzkontingent einer Partei mit jenen Bewerber/innen ausgefüllt wird, die die besten Wahlergebnisse erzielt haben. Der Anteil der direkt Gewählten und der Listenplätze wäre frei gestaltbar. Überhangmandate gäbe es dann nicht mehr. Ein vergleichbares Verfahren gilt bei Landtagswahlen in Baden-Würt­temberg.

Im April 2021 hat der Bundestag auf Antrag von CDU/CSU und SPD die Einsetzung einer Kommission zur Reform des Bundeswahlrechts und zur Modernisierung der Parlamentsar­beit beschlossen. Diese Wahlrechtsreformkommission wurde nach der Bundestagswahl erneut eingesetzt, sie besteht aus 13 Abgeordneten und 13 Sachverständigen. Die Kommission soll sich „auf der Grundlage der personalisierten Verhältniswahl mit Vorschlä­gen befassen, die eine effektive Verkleinerung des Bundestages in Richtung der gesetzli­chen Regelgröße bewirken“. Da die 299 Wahlkreise bestehen bleiben sollen, ist die Aufga­benstellung sehr anspruchsvoll.

Weiterhin ist es der Kommission aufgegeben, eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern im Bundestag anzustreben. Zudem soll sie sich mit der Senkung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre, mit der Verlängerung der Wahlperiode des Bundesta­ges, mit der Digitalisierung der Parlamentsarbeit und mit einer intensiveren Beteiligung der Bür­ger/innen befassen. Ungeachtet dieses breiten Spektrums soll sie ihre Ergebnisse spä­testens am 30. Juni 2023 vorlegen.

Zum Thema Bundestagsgröße haben die Ampelfraktionen inzwischen ein kompliziertes Modell vorgelegt, das ohne Überhang- und Ausgleichsmandate auskommt, aber nicht mehr jedem/r direkt Gewählten ein Mandat sichert. Einer Partei sollen nur so viele Wahl­kreismandate zugeteilt werden, wie es ihren Zweitstimmen entspricht („Zweitstimmende­ckung“). Die Bewerber/innen mit den schwächsten Ergebnissen würden leer ausgehen. Durch eine Ersatzstimme, die zur Erststimme addiert wird, wird dann ermittelt, wer den frei gebliebenen Wahlkreis vertreten soll (ohne dass ein Überhangmandat entsteht).

CDU/CSU lehnen diesen Vorschlag ab, die CSU droht sogar mit einer Verfassungsklage. Die Union favorisiert das sogenannte „Grabenwahlrechtsmodell“ oder „Zwei-Stim­men-Wahlrecht“, bei dem in zwei unverbunden nebeneinander stehenden Systemen alle 299 Wahlkreise wie bisher unabhängig vom Zweitstimmenergebnis an die stimmstärksten Be­werber/innen gehen und die weiteren 299 nach dem Zweitstimmenanteil vergeben wer­den. Aufgrund dieser Stärkung des Mehrheitsprinzips kann die Größe der Fraktionen er­heblich vom Zweitstimmenanteil abweichen, den die Parteien erzielen. Bei der vergange­nen Bundestagswahl wären nach diesem Modell die Mehrheiten zwischen Union und SPD und damit das Wahlergebnis umgekehrt worden. Mit den Vorgaben des Bundesverfas­sungsgerichts scheint eine solche Lösung kaum vereinbar.

Auch die Linkspartei lehnt den Ampelvorschlag ab, sie hat verfassungsrechtliche Beden­ken. Bekanntlich waren die Linken nur aufgrund von drei Direktmandaten wieder als Frak­tion in den Bundestag eingezogen, obwohl ihr Zweistimmenanteil unter 5% lag. Die AfD stimmt dem Ampelvorschlag grundsätzlich zu und verweist auf frühere eigene Vorlagen, die in eine ähnliche Richtung gegangen seien.

Im August hat die Kommission einen Zwischenbericht mit einigen Sondervoten vorgelegt und beschlossen. Darin empfiehlt sie (gegen die Stimmen der Union) eine Absenkung des Wahlalters bei Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre. Die Umsetzung bedarf einer Grundgesetzänderung. Gegen eine Verlängerung der Wahlperiode auf fünf Jahre scheinen keine Bedenken zu bestehen, zumal dies bereits für fast alle Landtage und für das Europaparlament gilt. Eine Zusammenlegung aller Wahltermine wird ebenso abge­lehnt wie eine Begrenzung der Zahl der Mandatszeiten. Noch kein Votum gab es in der Frage der Beibehaltung/Streichung der Regel, dass eine Partei, die mindestens drei Di­rektmandate gewinnt, als Fraktion in der Bundestag einzieht („Grundmandatsklausel“). Der Punkt, ob und wie Wähler/innen Einfluss auf die Reihenfolge in den Landeslisten ha­ben sollen, wurde vertagt.

Im September und Oktober waren die Erhöhung des Frauenanteils Beratungsgegen­stand. Derzeit sind nur 35 % der Bundestagsmitglieder Frauen, allerdings gibt es zwischen den Fraktionen starke Unterschiede. Der geringe Anteil hat seine Ursache bekanntlich in den Parteien, wo es bis­lang nur Absichtserklärungen und Selbstverpflichtungen zur Parität gibt und Frauen selten als Direktkandidaten aufgestellt werden. Einerseits wurde ein „Er­leichterungs- und Anreizbündel“ für die Kandidatur von Frauen vorgeschlagen, anderer­seits das Modell einer „paritätsabhängigen Sitzverteilung“. Eine andere Idee war, die Zahl der Wahlkreise zu hal­bieren und „Tandems“ kandidieren zu lassen. Verbindliche Vorgaben für die Parteien oder Fi­nanzkürzungen bei Verstößen wären nach Ansicht der Sachver­ständigen verfassungswid­rig.

Wer die Niederschriften der bisherigen Kommissionssitzungen liest, gewinnt nicht den Ein­druck, dass es eine einvernehmliche Lösung geben wird. Womöglich werden die Ampel­fraktionen letztlich ihre Vorlage beschließen, vielleicht mit leichten Modifikatio­nen. Mit Aus­nahme der Senkung des Wahlalters reicht dafür eine einfache Mehrheit. Bis zum Jahres­ende will die Kommission einen Kompromiss erarbeiten und Mitte 2023 ihre Empfehlun­gen vorlegen. Das Gesetzgebungsverfahren soll dann im September 2023 be­ginnen.

Der Zeitplan ist also eng und die Problematik anspruchsvoll. Die einfachste und beste Lö­sung, nämlich die Reduzierung der Zahl der Wahlkreise, ist – aus unerklärlichen Gründen – nicht ernsthaft angegangen worden. Gleiches gilt für den Vorschlag, Überhangmandate mit Listenplätzen aus anderen Bundesländern zu verrechnen.

Ein Neuzuschnitt der Bundestagswahlkreise wäre nichts Neues, er ist in gewissen Fällen sogar vorgegeben (§ 3,1 Bundeswahlgesetz). Danach muss die Zahl der Wahlkreise in den einzelnen Ländern möglichst deren Bevölkerungsanteil entsprechen, und die Bevölke­rungszahl eines Wahlkreises soll nicht mehr als 15% nach oben oder unten von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl der Wahlkreise abweichen. Liegt der Wert über 25%, muss eine Neuabgrenzung erfolgen. Bei der Einteilung sollen nach Möglichkeit die Gren­zen der Kommunen eingehalten werden.

Sowohl das Ampel-Modell einer Zweitstimmendeckung als auch das Grabenrechtsmodell der Union erfüllen das Ziel, die Zahl der Abgeordneten auf die gesetzlich vorgeschriebene Zahl zu reduzieren. Das Ampelmodell ist jedoch etwas kompliziert und wird den Wähler/innen nur schwer verständlich zu machen sein. Außerdem ist die dort vorgesehene Aussonderung der stimmschwächsten Wahlkreisgewinnern keine optimale Lösung. Verfas­sungsprobleme sehe ich dennoch nicht. Es dürfte dem Geist des Grundgesetzes ent­sprechen, dass eine Partei (nur) genau so viele Sitze erhält, wie es dem Wahlergebnis ent­spricht. Die Ausgestaltung ist dann Sache des Gesetzgebers.

Dagegen würden die Ergebnisse des Grabenwahlrecht der Union nicht dem allgemeinen Wählerwillen entsprechen (sondern eher dem Wunsch der CSU). In manchen Konstellatio­nen würde das bisherige Wahlergebnis sogar umgedreht. Gemäß Art. 38,1 hat „die Wahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim“ zu sein. Eine Wahl ist gleich, wenn jeder Wähler grundsätzlich das gleiche Stimmgewicht besitzt. Daher ist zu vermuten, dass das Grabenwahlrecht, sofern es denn beschlossen würde, vor dem Verfassungsgericht landet.

Wie wichtig das Wahlrecht ist, sieht man gerade in Italien. Weil drei (rechte) Parteien ein Wahl­bündnis bildeten und sich auf gemeinsame Kandidat/innen einigten, haben sie weit mehr Direktmandate gewonnen als es ihnen nach Zweitstimmen zugestanden hätte. Da­durch ha­ben sie mit 44% der Stimmen 57% der Parlamentssitze gewonnen. Ausgleichs­mandate gibt es in Italien nicht.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.