Mangel an Krankenhausbetten für schwer kranke Kinder – Kliniken behaupten, wegen einer hohen Krankenrate fehle es an Betten für schwer kranke Kinder. Doch wer genauer hinschaut, erfährt: Der Mangel ist hausgemacht.

Die Öffentlichkeit könnte aus der Berichterstattung über fehlende Krankenhausbetten für Kinder und Säuglinge den Schluss ziehen, dass die bundesweite Notlage allein dadurch entstanden ist, dass zurzeit einfach viel zu viele Kinder erkranken.

Der wirkliche Grund für die seit Jahren bedrohliche und vergeblich beklagte, jetzt aber katastrophale Situation ist aber ein anderer. Seit ungefähr 1976 sorgen die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV) dafür, dass in Deutschland Krankenhausbetten abgebaut werden und dass sogar ganze Kliniken geschlossen werden müssen. Das betrifft alle Fachrichtungen, ganz besonders aber die Kinder- und Frauenheilkunde.

In Gesamtdeutschland gab es im Jahr 1975 noch 912.011 Krankenhausbetten, Verweildauer 21,5 Tage. Im Jahr 2021 waren es nur noch 483.532 Betten bei einer Verweildauer von 7,2 Tagen. Das führte zu einer unvorstellbaren und unverantwortbaren Arbeitsverdichtung und Arbeitsbelastung in allen Kliniken, sodass besonders viele Pflegekräfte den Beruf verließen.

Im Heft „Ausgewählte Zahlen für das Gesundheitswesen 1986“, Herausgeber: Statistisches Bundesamt, (absolute Zahlen nur Westdeutschland!) zeigt sich, dass die Kinderkliniken bereits seit 1969/70 betroffen waren (siehe Seite 50). Hier setzte, auch weil es weniger Geburten gab, die Schließung ganzer Kinderkrankenhäuser viel früher ein. Zum Vergleich:

1953: 15.171 Betten für Kinderheilkunde

1975: 10.693 Betten für Kinderheilkunde

1985: 6301 Betten für Kinderheilkunde.

Dadurch wurden auch viel weniger Ärzte und Pflegekräfte im Fach Kinderheilkunde ausgebildet. So wurde für einen schwerwiegenden Personalmangel in diesem Fachbereich gesorgt.

Dank der enormen Fortschritte in der Medizin, besonders auch in der Kinderheilkunde (Überleben von Frühchen, Kinderkardiologie etc.), stieg die Zahl der Krankenhausbetten für Kinderheilkunde wieder an, wurde wenig später aber erneut reduziert:

1991: 31.708 Betten für Kinderheilkunde

2020: 19.009 Betten für Kinderheilkunde.

Die Zunahme von Totgeburten

Von den Betten für Kinderheilkunde wurden bis heute, also in der jüngsten Vergangenheit, innerhalb von 19 Jahren mehr als 12.000 abgebaut, das sind mehr als ein Drittel.

Im Jahr 2009 erreichte die Zahl der Geburten in Deutschland einen Tiefstand. Es wurden nur noch 665.126 Kinder geboren. Seitdem steigt die Zahl der Geburten jedoch wieder kontinuierlich an, sodass im Jahr 2021 insgesamt 795.517 Kinder geboren wurden. Das ist ein Plus von mehr als 100.000 Geburten in nur zwölf Jahren.

Man hätte also dringend neue Kinderkliniken errichten müssen – doch es geschah, wie die Zahlen beweisen, das Gegenteil.

Eine Zahl allerdings erhöhte sich: Die Zahl der Totgeburten pro 100.000 Lebendgeborene stieg in Deutschland von 2007 bis 2021 um 24 Prozent. Die Quote lag bei 4,3. Dieser Anstieg ist so besorgniserregend, dass das Statistische Bundesamt ihn besonders hervorhebt. Das Amt gab dazu auch am 15. Juli 2022 eine Presseerklärung heraus. Die Welt brachte am 15. Juli 2022 einen ausführlichen Artikel.

Blieben diese Presseerklärung und auch der Artikel in Die Welt den Verantwortlichen unbekannt?

Die Zahlen der Totgeburten werden international erfasst. Sie müssen abnehmen und zwar kontinuierlich. Das taten die Zahlen der Totgeburten in Deutschland auch seit 1950. Brav und unverdrossen, wie international verlangt, nahmen sie ab bis zum Jahr 1992. Dann verhedderten sie sich etwas. Ab 2011 aber folgte eine unaufhaltsame und immer schnellere dramatische Aufwärtsentwicklung.

Jahr Totgeburten

1950 24.857                    Quoten der Totgeburten
1970 10.853                    Deutschland 2021 = 4,3
1990  3.202                    Niederlande 2020 = 2,8
2011  2.387                    Österreich  2020 = 3,6
2014  2.587                    England     2020 = 4,2
2015  2.787
2021  3.420

Einen überzeugenderen Beweis für die verantwortungslose Sparpolitik in der Geburtshilfe und Frauenheilkunde kann es nicht geben. In ländlichen Regionen wurden kleine Krankenhäuser und besonders kleine Geburtskliniken geschlossen, oft gegen den erbitterten Widerstand der Bevölkerung.

Das Ergebnis: Zunahme der Totgeburten. Diese Zahlen dokumentieren außerdem in erschreckender Weise die Missachtung, die in Deutschland von den Verantwortlichen nicht nur Kindern und Jugendlichen, sondern auch Schwangeren und Müttern entgegengebracht wird.

Dr.med. Annemarie Wiegand ist Ärztin und lebt in Berlin.

Über Annemarie Wiegand / Berliner Zeitung:

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