Als die Grünen NRW den Abschluss der Koalitionsvereinbarung verkündeten, hatten sie den größten politischen Fehler bereits abgesegnet: Sie waren bereit, ein Symbol der Klimabewegung, das Dorf Lützerath, abbaggern zu lassen. Ja, sie waren erfolgreich, indem sie 280 Mio. Tonnen Braunkohle im Boden gelassen haben. Ja, der Kohleausstieg wurde von 2038 auf 2030 vorgezogen. Aber sie verkannten völlig, welch symbolische Bedeutung dem kleinen Ort an der Kante des Tagebaus Garzweiler 2 über die Region hinaus zukommt.
Lützerath hat in wenigen Jahren für die Umweltbewegung ungefähr die Symbolkraft erlangt, die einst Gorleben für die Anti-AKW-Bewegung hatte. Niemand hätte es der rot-grünen Bundesregierung 1998 ff. verziehen, hätte sie Gorleben im Rahmen des Atomausstiegs “aufgegeben”. Selbst gegen einen früheren Ausstieg aus der Atomenergie hätte das damals keine Umweltaktivistin akzeptiert. Genau das aber haben praktisch die NRW-Grünen im Rahmen der Koalitionsverhandlungen mit der CDU getan. Sie haben ein Symbol – auch grüner Politik – geopfert.
Schlecht verhandelt, fahrlässig argumentiert
Sie haben insofern suboptimal verhandelt, als sie aufgrund der Rahmendaten entschieden haben, die allesamt der RWE-Konzern geliefert hatte. Dagegen haben inzwischen das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und andere Institute errechnet, dass RWE Lützerath nicht braucht, um die vereinbARTE Strommenge zu erzeugen. Luisa Neubauer von Fridays For Future hat den Grünen auf ihrem Bundesparteitag im vergangenen Jahr darüber hinaus vorgehalten, dass sie den Kohleausstieg zwar um 8 Jahre auf 2030 vorgezogen haben, RWE aber im kürzeren Zeitraum nahezu die gleiche Menge CO² emittieren darf, die sie sonst bis 2038 emittiert hätte. Gebetsmühlenartig rechnen dagegen die regierungs- und parlamentsunerfahrene Wirtschafts- und Klimaministerin Mona Neubaur und ihr Kollege Umweltminister Oliver Krischer der Öffentlichkeit vor, dass immerhin fünf Dörfer weniger abgebaggert werden, 280 Mio. t Braunkohle im Boden bleiben und der “Kompromiss” mit RWE ein “voller Erfolg” für die Grünen sei.
Die falsche Haltung zum Kompromiss
Dabei haben sie völlig unterschätzt, welche emotionale Sprengkraft Lützerath gewinnen würde, wenn sich in dem kleinen Weiler die Umweltaktivisten verbarrikadieren und sei es nur, um sich von der Polizei räumen zu lassen. Gegen die Bilder, die derzeit dabei entstehen, während einige hundert Jugendliche, die in bitterer Kälte und zum Teil strömendem Regen aushalten, weil sie deutlich machen wollen, dass es um ihre und unser aller Zukunft geht, kommen keine Regierungsargumente an, die daran festhalten, alles richtig gemacht zu haben. Es ist die Hybris der Politiker*innen um den ehemaligen Fraktionsvorsitzenden und “Realo” Reiner Priggen, zu glauben, allein mit Regierungsarbeit und starrem Festhalten am Status Quo würde die Politik enden und wäre nur mit Verve schön zu reden und schon erfolgreich. Wesentlich glaubwürdiger wäre eine Haltung, wie sie die Jungen Grünen einnehmen, die politische Fehler eingesteht und auf der Seite des außerparlamentarischen Widerstands Partei ergreift. Denn eigentlich könnten auch die Grünen NRW und im Bund den Aktivisten doch dafür dankbar sein, dass sie Druck machen und ihnen letztlich in der Energiewende den Rücken stärken.
Aktivisten sorgen für überzeugende Bilder
Das Basislager der Protestbewegung in Kayenberg etwa hat mit perfekter Organisation, Kulturprogramm und nachhaltigen Diskussionen dafür gesorgt, dass das Ausmaß der Umweltzerstörung deutlich wird, die der Tagebau in den letzten Jahren gerissen hat. Und mit jeder Minute Sendezeit, die die Medien über Lützerath berichten, wird die Notwendigkeit klarer, dass Klimapolitik konsequenter werden muss. Auch die Tatsache, dass die Temperaturen derzeit mit weit über 10 Grad Celsius für die Jahreszeit viel zu mild sind, verstärken die Eindringlichkeit des Klimaprotests noch. Und nicht zuletzt die Einblicke der Medien in die phantasievollen, friedlichen Protestformen der Aktivisten im Klimacamp setzen einen klaren Kontrapunkt zu den beständigen Gewaltvorwürfen, unter anderem von Innenminister Reul. Die Räumung, so die Polizei am Mittwochabend, sei bisher friedlicher als erwartet verlaufen. Wenn die Aktivist*innen der Klimabewegung klug sind, wird es zu keinen weiteren Zuspitzungen kommen. Das Klima der Räumung aber, das wissen Menschen mit jahrelanger Demonstrationserfahrung, bestimmt letztendlich die Polizei und ihre Taktik. Noch ist die Räumung nicht beendet.
Keine substanzielle Bedeutung?
Wie andere Energiekonzerne auch versucht RWE seit geraumer Zeit, in klimaneutrale und alternative Energieerzeugung umzusteigen. Da verwundert es nicht, dass die “Tagesschau” heute meldet, dass RWE mit der Kohleverstromung kaum noch Profite macht und die SpARTE am liebsten loswerden möchte. Vor diesem Hintergrund erscheint das ganze Gezerre um Lützerath eher als eine Farce. Auch der “Bonner Generalanzeiger” äußerte kürzlich die These, Lützerath werde überhaupt nicht wegen der Kohle, sondern wegen des zur Verfüllung von Garzweilwer 2 günstig gelegenen Abraums gebraucht. Diese Indizien nähren den Verdacht, dass die Zerstörung von Lützerath für RWE nichts mehr ist, als ein fadenscheiniger Vorwand für eine besondere Art des Triumphs des Konzern und der CDU über die Grünen. Deren jahrzehntelange Nadelstiche gegen die Braunkohleverstromung und die Waldbesetzer*innen im Hambacher Forst haben RWE letztlich zur energiepolitischen Umorientierung des gesamten Konzerns gezwungen. Deren Rache nach dem Motto “Carthago esse delendam”: “Lützerath esse delendam” ist nicht mehr und nicht weniger als kalt genossene Rache.
Zu klein, um klimapolitisch relevant zu sein
Die Grünen haben die Dynamik des Symbols Lützerath offensichtlich unterschätzt und sind in die von RWE und dem Koalitionspartner aufgestellte Falle getappt. Das Angebot, fünf unbekannte, längst geräumte Orte zu verschonen und an Lützeraths Zerstörung festzuhalten, war vergiftet und der Hoffnung der RWE geschuldet, Klimagegner und Grüne zu entzweien. Die Grünen haben die Falle nicht rechtzeitig erkannt und die Klimabewegung ist – das kann man ihr nicht verdenken – auf die Symbolik voll eingestiegen. Denn natürlich eignet sich kaum ein anderer Ort als Lützerath besser, über die Frage der Klimapolitik hinaus auch die jahrzehntelangen machtpolitischen Machenschaften der RWE zu thematisieren. So beherrschten die Lobbyisten der RWE lange die NRW-SPD, was fast zum Bruch der rot-grünen Koalition führte, die der Autor als Fraktionsvorsitzender der Grünen mitverantwortet hat. Man “bestellte” dort den Ministerpräsidenten Clement einfach ein, um gemeinsam die resolute Umweltministerin Bärbel Höhn zu traktieren. Und die Zahl der CDU und SPD-Abgeordneten, die neben ihrem Landtagsmandat noch als Mitarbeiter auf der Payroll von Rheinbraun oder RWE – oder wie der CDU-Fraktionsvorsitzende Laurenz Meyer der Preussenelektra / E-On standen, ist legion.
(Selbst-)Erkenntnis der Grünen erforderlich
Vor allem die Grünen wären gut beraten, das Spiel, das RWE und CDU mit ihnen gespielt haben und noch spielen, zu durchschauen und sich nicht weiter gegen die Klimabewegung ausspielen zu lassen, Wenn ein in gutem Glauben geschlossener Kompromiss sich als politisches Manöver herausstellt, gibt es gute Gründe, ihn neu zu bewerten und anders zu interpretieren. Was hält eigentlich Neubaur und Krischer davon ab, aufgrund der neuen Fakten, des DIW-Gutachtens und der neuen Geschäftsstrategie der RWE einen Sonder-Koalitionsausschuß zu fordern, der über eine Neubewertung der Situation berät, um damit die CDU in die Bredouille zu bringen und Kompensation für diesen Versuch der hinterhältigen Begünstigung der RWE zu fordern? Und warum hält Neubaur daran fest, mit Leidensmiene einen “Kompromiss” zu verteidigen, bei dem die Grünen über den Tisch gezogen wurden, anstatt einen Fehler einzugestehen und darüber mit dem Rückenwind der Klimabewegung weitere Zugeständnisse in der Klimapolitik von einem Koalitionspartner zu fordern, der die Grünen gemeinsam mit der RWE einfach gelinkt hat? Es wäre töricht und das Gegenteil von Machtpolitik, sollten sich Grüne und Klimabewegung so weiter gegeneinander ausspielen lassen.
Wenn Symbolpolitik über Argumente gestellt wird, kommt man wissenschaftlich-sachlich auf die schiefe Bahn. Wenn man den Kompromiss wegen Symbolpolitik wegfegt, beschädigt man Demokratie. Wenn man den erbitterten Willen weniger Fanatiker über demokratische legitimierte Entscheidungen und Gerichtsurteile stellt, wird man tyrannisch.
Selbst das Recht kennt die Möglichkeit, bei neuen Erkenntnissen und neuer Sachlage eine Entscheidung durch Wiederaufnahme des Verfahrens zu überprüfen. Das hat nix mit Tyrannei zu tun, mit der Demokratie beschädigt würde. Im Gegenteil!
Tyrannei kann nie von einer sozialen und ökologischen Bewegung ausgehen, die ihr Recht in Anspruch nimmt gegen eine Katastrophe zu demonstrieren.
Ich bin der Bewegung dankbar für Ihren Protest. Jedoch sehe ich dieses leere kleine Dorf nicht als wesentlich ein. Es geht nicht darum leere marode Häuser zu retten, es geht um die Kohle darunter. Für mich war der Hambacher Forst und die südlich gelegene Abbaustelle das wesentliche Symbol. Deshalb hab ich diesen auch mit dem Fahrrad aus München besucht.
Ich fände es gut, wenn die Notwendigkeit des Kohleabbaus jetzt neu bewertet würde.
Wenn die Örtlichkeit nur für die Verfügung benötigt werden, um so besser.
Statt vieler Worte: Herzlichen Dank an Roland Appel für seine aufklärende Einordnung und Deutung von Lützerath.
rudolf schwinn
Vor Urzeiten pflegten Drachen Menschen zu fressen. Dann wurde man humaner und vereinbarte mit dem Drachen, das eine Jungfrau geopfert wird und der Drache versprach, die anderen Menschen zu verschonen. Die Jungfrau, die nach Recht und Gesetz “zum Wohle der Allgemeinheit” geopfert wird, heißt heute Lützerath.
Es kommt aber darauf an, den Drachen unschädlich zu machen.
Märchenhafte Grüße von Klaus Jung.
Ich empfehle zum besseren Verständnis, was da politisch passiert, Ralf Heimanns Analyse der Medienproduktionsverhältnisse:
https://www.mdr.de/altpapier/das-altpapier-2976.html