Brasilien: Interview mit FIAN Brasilien über das geforderte Exportverbot von Pestiziden

Ende November 2022 forderten 274 Menschenrechtsorganisationen aus 54 Ländern in einem Brief an Landwirtschaftsminister Cem Özdemir das Exportverbot von in der EU verbotenen Pestiziden (sowohl fertiger Produkte als auch einzelner Wirkstoffe) als ersten Schritt zu einem weltweiten Verbot. Sie fordern auch eine Reform des Pflanzenschutzgesetzes, um künftig die Ausfuhr besonders gesundheits- und umweltschädlicher Wirkstoffe zu verhindern. Cem Özdemir hatte bisher für das erste Halbjahr 2023 lediglich eine diesbezügliche Verordnung angekündigt. Brasilien mit seinem riesigen Agrarsektor ist eines der Hauptabnehmerländer der toxischen Stoffe. Gleichzeitig sind Millionen Brasilianer*innen von Ernährungsunsicherheit betroffen. Mareike Bödefeld und Almudena Abascal sprachen mit Pedro Vasconcelos Rocha von FIAN Brasilien über Landwirtschaft in Brasilien und die brasilianische und deutsche Pestizidlobby.

Welche Auswirkungen erhoffst du dir von einem Exportverbot von Pestiziden aus Deutschland beziehungsweise Europa?

Zunächst ist es für uns ein positives Zeichen für Gleichbehandlung, denn wir Brasilianer*innen bekommen von den Pestiziden genauso Krankheiten wie die Europäer*innen. Die Aussage der Unternehmen, dass es in tropischen Ländern mehr Pestizide für eine erfolgreiche Landwirtschaft brauche als in europäischen Ländern, ist nicht zielführend. Der Boden, der verseucht wird, schadet auch den Europäer*innen, da die dort hergestellten Produkte nach Europa exportiert werden. Es ist nachgewiesen, dass italienischer Grana Padano Spuren von Pestiziden aus Brasilien enthält. Die Tiere, von denen der spanische Schinken kommt, werden mit brasilianischer Soja gefüttert, für die sehr wahrscheinlich neben Gentechnik auch Pestizide zum Einsatz kamen. Der Schritt, bald keine verbotenen Pestizide mehr in andere Länder zu exportieren, der von der deutschen Regierung angekündigt wurde, ist daher sehr wichtig. Schließlich mischen die deutschen Unternehmen Bayer und BASF im Pestizidhandel ganz vorne mit. In Brasilien stehen sie für einen ethisch fragwürdigen Handel, der nur mit Gewalt und mit Pestizidbesprühungen aus der Luft funktioniert. Die Menschen in der Umgebung der mit Bayer- oder BASF-Produkten bewirtschafteten Felder leiden unter gesundheitlichen Folgen wie genetisch bedingten Missbildungen oder Krebs. In Brasilien hat das Institut PensarAgro, mit finanzieller Förderung deutscher Unternehmen, Änderungen der brasilianischen Umweltgesetzgebung erwirkt. Deutsche Lobbyisten versuchen Einfluss auf das brasilianische Giftgesetzespaket (PL 6299) zu nehmen. Dazu wollte ich in Deutschland mehr Informationen erhalten, doch leider hat das nicht geklappt.

FIAN Brasil erwartet von Deutschland einen ehrgeizigeren Vorschlag für das Exportverbot von Pestiziden, der Engagement und ethische Verantwortung signalisiert. Wir fordern insgesamt mehr Transparenz in Bezug auf die Verkäufe und Exporte dieser Produkte. Wir möchten von deutschen Parlamentarier*innen wissen, wie es ihnen gelungen ist, bestimmte Pestizide in Deutschland zu regulieren, um von ihnen für unsere Lobbyarbeit in Brasilien zu lernen. Denn hier wird aktuell der Einsatz von Pestiziden, die Umweltgesetzgebung sowie der Bergbau auf indigenen Territorien flexibilisiert.

Wie chemische Waffen

Für uns ist auch wichtig, ob Verbote nur für fertige Pestizidprodukte oder auch einzelne Wirkstoffe gelten. Brasilien verfügt über eigene Produktionskapazitäten, das heißt, wenn nur fertige Produkte verboten und weiterhin Wirkstoffe exportiert werden, hilft uns das wenig. Auch die durch die Produkte verursachten Umweltprobleme müssen stärker anerkannt werden. Wenn Probleme oder Schäden auftreten, behaupten die deutschen Unternehmen, die brasilianischen Landwirt*innen würden ihre Produkte nicht richtig anwenden. Doch in Wahrheit verkaufen sie Produkte, die wie chemische Waffen von der Luft aus gesprüht werden, zum Beispiel auf Indigene. Diese Wirkstoffe lassen sich heute in unseren Flüssen und in unserem Trinkwasser finden. Auch in Deutschland gibt es Verantwortliche, die eigentlich wissen, dass die Stoffe gesundheitsschädlich und deshalb dort verboten worden sind.

Wir arbeiten auch an der Frage der Unternehmensverantwortung, insbesondere der transnationalen Unternehmen, die in Brasilien und weltweit tätig sind. Gemeinsam mit der brasilianischen Zivilgesellschaft arbeiten wir am Gesetzesentwurf 572/22, einem brasilianischen Lieferkettengesetz, das eine Regelung zwischen Menschenrechten und Unternehmen vorschlägt, mit Schwerpunkt auf transnationale Unternehmen. Die Wirtschaftslobby in Brasilien versucht das Projekt zu stoppen. Wir vernetzen uns mit lateinamerikanischen und internationalen, etwa asiatischen Akteuren. Die EU hat signalisiert, dass sie eine unterstützende Haltung einnehmen wird. Auch ein Vorschlag über entwaldungsfreie Lieferketten wird derzeit diskutiert. Fragen zu Entschädigung und Wiedergutmachung müssen klar definiert sein, nicht wie beispielsweise im Fall Rio Doce (1), wo bis heute noch nach Verantwortlichen gesucht wird. Die wichtigsten Grundsätze sind: Vorbeugung, Transparenz, Wiedergutmachung und Nichtwiederholung. Die Konsultation indigener Völker sollte eine Leitlinie sein. Die Sorge um die Rechenschaftspflicht darf nicht nur eine Sache des globalen Südens sein.

Wie ist der politische Stand im Hinblick auf die Reduzierung von Agrargiften in Brasilien?

Wir haben einen Kampf und ein großes Bündnis gegen die Gesetzesinitiative 1459/22 (das „Giftpaket“, wie wir es nennen) gebildet und um internationale Unterstützung gebeten. Die UN-Sonderberichterstatter für die Auswirkungen giftiger Substanzen und Abfälle auf die Menschenrechte, Baskut Tuncak, sowie zum Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, betrachteten in einer Stellungnahme das Projekt mit großer Sorge. Das Gesetz würde die brasilianischen Rechtsvorschriften flexibilisieren, und das, obwohl Brasilien in den letzten Jahren bereits eine Rekordzahl von Pestiziden zugelassen hat. Im Register soll die Angabe von krebserregenden und hormonell gefährlichen Stoffen entfernt und nur eine Risikokategorie genutzt werden. Auch soll der Name „Pestizid“ zu „Pflanzenschutzmittel“ geändert werden. Es kommt zu keiner regelmäßigen Überprüfung der Register, sodass die Gefahr besteht, dass Pestizide auf unbestimmte Zeit freigegeben werden. Die Sorge um dieses Gesetzespaket haben wir bereits vielfach zum Ausdruck gebracht und zuletzt dem Landwirtschaftsausschuss vorgelegt. In der Abgeordnetenkammer beobachten wir parallel eine schrittweise Reduzierung der Förderung der Agrarökologie.

125 Millionen in Ernährungsunsicherheit

Wie kann die Agrarökologie gestärkt werden?

Mit dem Slogan „Agro ist Pop“ wird eine bestimmte Vision, wie man Landwirtschaft betreiben sollte, populär gemacht. Dieses Landwirtschaftsmodell verschafft nur einigen wenigen Menschen in Brasilien ein Einkommen und ernährt schon gar nicht die brasilianische Bevölkerung. Derzeit leiden 33 Millionen Brasilianer*innen an schwerer Ernährungsunsicherheit. 125 Millionen Brasilianer*innen sind in irgendeiner Form von Ernährungsunsicherheit betroffen. Für viele brasilianische Kinder ist das Essen in der Schule das einzige Essen am Tag. Weil es in der Schule etwas zu essen gibt, haben wir es geschafft, das Alphabetisierungsniveau und den Schulbesuch hoch zu halten. Es ist natürlich ein ernstes Problem, wenn ein Kind zur Schule geht, nur weil es Hunger hat. Agro ist nicht Pop. Es ernährt die brasilianische Bevölkerung nicht. Das Agrobusiness macht auf dem Rücken der Bevölkerung Geld.

Die brasilianische Zivilgesellschaft pocht daher auf ein anderes landwirtschaftliches Modell: Agrarökologie. Agrarökologie geht gut mit der Landwirtschaft und dem Boden um und handelt ökologisch verantwortlich. In den verschiedensten Regionen des Landes befassen sich die Menschen mit neuen landwirtschaftlichen Modellen und gründen Netzwerke. Indigene Völker setzen sich mit Agroforstwirtschaft auseinander. Die Bewegung „Movimento dos Trabalhadores Rurais sem Terra“ (MST), die Bewegung der Landlosen, ist erwähnenswert. Sie ist der größte Produzent von Bioreis in Lateinamerika. Mehr nationale und internationale Unterstützung für dieses Vorhaben wäre toll. Schließlich gibt es in Brasilien seit Langem keine starke agrarökologische Politik mehr. Während der PT-Regierungen gab es Initiativen für nationale Pläne, doch sie sind an der Umsetzung gescheitert. Grundsätzlich wurde einem anderen landwirtschaftlichen Modell der Vorzug gegeben, doch einige Maßnahmen zugunsten von kleinbäuerlichen Betrieben konnten umgesetzt werden. Die Umwelt sowie die Beteiligung derer, die sich für sie einsetzen, sollten stärker in den Mittelpunkt rücken.

Erzähl uns bitte mehr über das brasilianische Schulspeiseprogramm.

Wir haben im brasilianischen Kongress viel Lobbyarbeit für das staatliche Schulspeiseprogramm, PNAE, gemacht. Das Programm gibt es bereits seit den 1960er-Jahren und ist für viele andere Länder ein Vorbild. So werden 40 Millionen Kinder und Jugendliche in staatlichen Bildungseinrichtungen mit kostenlosen Mahlzeiten verpflegt, die die biopsychosoziale Entwicklung stärken. Das Programm wurde in der Vergangenheit von der Zivilgesellschaft reguliert und wir hatten Zugänge zum Nationalen Rat für Lebensmittelsicherheit und Ernährung (CONSEA).

Unter anderem erreichten wir, dass der Staat sich seit 2009 dazu verpflichtete, mindestens 30 Prozent der Lebensmittel für die Schulspeisen aus kleinbäuerlichen Betrieben zu kaufen. Die Lebensmittel, die an die Schulen geliefert werden, sollen auch einen kulturellen Bezug zur Region haben. Was die Kinder und Jugendlichen zu essen bekommen, entscheiden Fachkräfte. Die Milchlobby möchte beispielsweise mitmischen, das ist für die Regionen mit vielen Milchkühen sinnvoll, nicht aber für die Amazonasregion. Wie soll hier in großen Mengen Milch geliefert werden? Man kann doch nicht einfach Lebensmittel aus dem Süden Brasiliens nehmen, die keinerlei Verbindung zu einer indigenen Gemeinde im Amazonasgebiet haben!

Die Zeiten haben sich in den letzten Jahren, besonders unter der Regierung Bolsonaro, geändert. Brasilien leidet derzeit unter einer hohen Inflation. Ernährungsunsicherheit ist ein großes Problem. Schon vor dem Krieg in der Ukraine und vor der Pandemie waren gute, biologische und qualitativ hochwertige Lebensmittel aus dem agrarökologischen Familienanbau teuer. Es fehlte zuletzt an Geld und politischem Willen für die Umsetzung dieses gigantischen Schulspeiseprogramms. Die regionalen, gesunden Lebensmittel wurden ausgetauscht, sodass unsere Kinder und Jugendlichen heute teils hoch verarbeitete Lebensmittel oder lediglich Kekse essen.

Wie siehst du das EU-Mercosur-Handelsabkommen?

Für uns ist es Priorität, das EU-Mercosur-Handelsabkommen von einer Menschenrechtsperspektive aus anzugehen. Soweit wir wissen, gibt es im internationalen Recht einen Grundsatz, der besagt, dass die Menschenrechte Vorrang vor anderen arten von Verträgen haben. Wenn diese Art von bilateralen und multilateralen Verträgen vorgeschlagen werden, besteht die Gefahr, dass der damit verbundene Ehrgeiz dazu führt, dass dieser Grundsatz in Vergessenheit gerät. Wir haben es also im EU-Mercosur-Abkommen mit sehr niedrigen Menschenrechts- und Umweltstandards zu tun. So haben wir beispielsweise das Verbot der Ausfuhr von in der EU verbotenen Pestiziden als wichtige Bedingung für den Fortgang dieses Vertrages genannt. Die Tendenz des Abkommens bisher geht dahin, den Export von Pestiziden von Europa nach Lateinamerika weiter zu steigern, einschließlich derer, die in Europa verboten sind. Dieser Vertrag wurde im Rahmen des derzeitig dominanten Modells der industriellen Landwirtschaft und der Rohstoffproduktion geschlossen. Der Vertrag senkt die Anforderungen auf ein Minimum. Es ist sehr gut möglich, dass dieser Vertrag durch Brasiliens neue Regierung ratifiziert wird, einer Regierung, die ein größeres Interesse an einer privilegierten internationalen Position hat. In den vorherigen Regierungen Lula da Silvas (2003-2011) gab es ein Maßnahmenpaket mit ökonomischen und steuerrechtlichen Vorschlägen, die auch die Ernährungssicherheit sowie den Mindestlohn enthielten. Unter Bolsonaro war das einzige Paket eine Gassubvention, diese läuft Ende des Jahres aus.

Unter Lula da Silva gab es ein Ministerium für Exportlandwirtschaft und ein Ministerium für landwirtschaftliche Entwicklung, in dem auch die Agrarökologie gefördert wurde. Dieses Ministerium wurde bereits unter Michel Temer aufgelöst. Im aktuellen Transitionsprozess hat Lula drei Arbeitsgruppen eingerichtet, eine zu indigenen und traditionellen Völkern, eine zu Landwirtschaft (Teilnehmende: Vertreter*innen des Agrobusiness) und die dritte zu landwirtschaftlicher Entwicklung (Teilnehmende: Gewerkschafter*innen, Landlosenbewegungen).

(1) Nach dem Dammbruch in einer Eisenerzmine in Minas Gerais am 5. November 2015 flossen rund 60 Millionen Kubikmeter hochgiftigen Klärschlamms in den Rio Doce. Das Wasser war danach unter anderem mit Arsen, Blei und Quecksilber belastet.

Pedro Vasconcelos Rocha ist seit Februar 2022 Advocacy Advisor bei FIAN Brasilien. Er ist Politikwissenschaftler und hat einen Master in ländlicher Entwicklung. FIAN beteiligt sich in Brasilien an zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen wie dem Bündnis für angemessene und gesunde Ernährung, der Kampagne gegen Pestizide und für das Leben sowie der Beobachtungsstelle für Schulspeisen. FIAN Brasil setzt sich für das Menschenrecht auf angemessene Nahrung und Ernährung ein, mit Lobbyarbeit zusammen mit anderen Organisationen.

Das Interview führten Mareike Bödefeld und Almudena Abascal am 20. Oktober 2022 in Berlin. Zuerst veröffentlicht auf boell.de. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 462 Feb. 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.

Über Mareike Bödefeld, Almudena Abascal / ILA:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.