DDR-Moskau-Korrespondent: Putins Russland habe ich schon vor der Wende zu spüren bekommen – Viele DDR-Bürger kannten sich in der UdSSR, beim „großen Bruder“, gut aus. Unser Autor war dort beruflich unterwegs. Hier erzählt er von seinen Reisen und Begegnungen.
An einem Sonntag im Juli 1965 begann am Berliner Ostbahnhof meine erste Reise in die Sowjetunion. Ich war 14, „Trommelreporter“ und sollte für die Zeitung der DDR-Pionierorganisation berichten, wie die sowjetischen Kinder ihre Sommerferien verbringen. Die Gastgeber von der Partnerzeitung „Pionerskaja Prawda“ fuhren mit mir in einige Ferienlager rund um Moskau. Ich sah „Schwanensee“ im Bolschoi Theater, den Clown Oleg Popow im Moskauer Zirkus, natürlich auch Lenins aufgebahrten Leichnam an der Kremlmauer. Ich verbrachte wunderbare Badetage im Pionierlager ARTEk auf der Krim.
Nur einmal gab es Ärger, nach einem Besuch des Moskauer Kaufhauses GUM. Neben dem Ausgang sah ich bettelnde Zigeuner, Frauen und Kinder, und wollte sie fotografieren (ich benutze das Wort „Zigeuner“, weil die Angehörigen des Roma-Volkes sich in Russland selbst so nennen, „Zigany“, d.V.). Dazu kam ich aber nicht. Denn ein Begleiter sprang schreiend dazwischen: „Das ist verboten! Kamera weg!“.
Das war meine erste Bekanntschaft mit den vielen Tabus, die in der Sowjetunion galten. Für Besucher aus den sozialistischen „Bruderstaaten“, besonders für Journalisten. Nur Erfolgsmeldungen waren erlaubt. Nichts über Zigeuner, nichts über Betrunkene auf den Straßen, nichts über das niedrige Lebensniveau der Menschen, nichts über Qualitätsmängel in der Industrie, schon gar nichts über Regimekritiker oder die Verbrechen der Stalinzeit.
Hinzu kam: Vier Fünftel des Territoriums der UdSSR waren „gesperrte Gebiete“, durften von Ausländern nicht betreten werden. Auch nicht von den „kleinen Brüdern“. Militärbasen, Raketen-Standorte, Städte mit Rüstungsbetrieben oder auch Gegenden, in denen die Sowjetbürger besonders miserabel lebten, waren Tabuzonen. Ein Heer von Aufsehern, Mitarbeiter des KGB, Funktionäre von KPdSU und Komsomol, hatten dafür zu sorgen, dass nicht gerüttelt wurde an diesen Verboten. Wer es dennoch wagte, musste mit harten Strafen rechnen.
Der Reservistenkrug aus Perleberg
Auch Stalins Straflager, in denen Millionen Sowjetbürger den Tod fanden, und die Verbannung von Regimekritikern nach Sibirien, blieben mir nicht verborgen. Im März 1978, als Jakutien unter Eis und Schnee lag, bereiste ich die ostsibirische Region mit Gerhard Gläser, einem der besten Kameramänner des DDR-Fernsehens.
In unserem Hotel in der Stadt Jakutsk gab es im Keller eine kleine Bar, in der wir eines Abends beim Bier saßen und auf dem Tresen etwas entdeckten, was uns staunen ließ. Ein riesiger Bierkrug, bunt bemalt und mit deutscher Schrift versehen. Ein Reservistenkrug aus dem Jahr 1909 vom Feldartillerieregiment Nr.38 aus Perleberg. Wie kommt der nach Jakutsk?
Jana, die Frau hinter der Bar, klärte uns auf. Ihre Familie stammte aus Estland und war im Sommer 1940, kurz nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in die Baltenrepublik, nach Sibirien verbannt worden. Ihr Großvater hatte als junger Mann in Perleberg bei der kaiserlichen deutschen Armee gedient. Zurück in Tallinn wurde er Polizist. Er stand auf der Verhaftungsliste der Sowjets ganz oben. Seinen deutschen Reservistenkrug nahm er mit in die Verbannung, wo er in einem Arbeitslager an der Lena 1944 verhungerte.
Seine Enkeltochter Jana, die 1942 im Gulag geboren wurde, blieb in Jakutien, wo sie einen Russen heiratete. Auf den zugefrorenen Flüssen im jakutischen Norden, wo Stalins Straflager waren, begleiteten Gläser und ich russische Lastwagenfahrer. Auf der zugefrorenen Indigirka transportierten sie Ausrüstungen zu entlegenen Silberminen.
Nach einigen Tagen überholten wir einen Raupenschlepper, der zwei große Schlitten zog, auf denen Holzhütten montiert waren. Wir trafen auf zwei Männer mittleren Alters mit langen Bärten. Ingenieure aus Leningrad, für 20 Jahre von der Sowjetmacht verbannt nach Jakutien. Sie durften sich frei bewegen, aber Jakutien nicht verlassen. Warum? Auf einer Versammlung in ihrem Institut hatten sie 1975 Kritik an der Wirtschafts- und Sozialpolitik der KPdSU geübt und die Ablösung der Parteiführung verlangt. Wegen „antisowjetischer Propaganda“ wurden beide nach Sibirien deportiert. Zur Zeit des Generalsekretärs Leonid Breschnew, den Willy Brandt hofierte und der dem „kleinen Bruder“ Erich Honecker seine Küsse verabreichte.
Je weiter wir nach Osten fuhren, umso herzlicher wurden die Menschen und umso schlimmer ihre Geschichten. Ich erlebte viele kluge, gastfreundliche und hilfsbereite Russen, habe viele Freundschaften damals geschlossen. Doch ich lernte auch ihre andere Seite kennen, die „schwarze Seite ihrer Seele“, wie sie das nennen. Ihre Obrigkeitshörigkeit zum Beispiel.
Die Russen hatten immer zu gehorchen, wenn sie einigermaßen leben, zumindest überleben wollten. Zu Zeiten der Zaren und ihrer Geheimpolizei Ochrana und zu Zeiten der Sowjets und ihrer Geheimpolizei KGB. Sie waren es über viele Jahrzehnte gewohnt, den Befehlen der Obrigkeit zu gehorchen. Eigenes Denken und Handeln standen immer unter Strafe. Wenn wir abends mit Russen zusammen saßen, am Lagerfeuer in der Taiga, in den Wohnzimmern von Nowosibirsk, Tula oder Sagorsk: immer große Wehleidigkeit und Klagen über die schlimmen Zustände im Land. Und immer das warten auf einen Erlöser. Die Russen warten immer auf einen „guten Zaren“, einen „guten Parteisekretär“ oder „guten Chef“, der sie von ihrem bitteren Schicksal erlöst.
Es gilt das Recht des Stärkeren: „Führen Sie sich nicht auf wie deutsche Faschisten!“
Auf jeder Drehreise durch die UdSSR wurden wir begleitet von einem Mitarbeiter des sowjetischen Fernsehens oder des Außenministeriums. Der sollte das Programm organisieren und auf uns aufpassen. Diese „Aufpasser“ waren meist freundliche, hilfsbereite Menschen. Einige aber auch schlimme Denunzianten. Einmal drehte ich mit Kameramann Gläser im Baggerwerk von Kostroma. Gegen 20 Uhr kamen wir ins Hotel zurück und wollten zu Abend essen.
Das Restaurant sollte bis 22 Uhr geöffnet haben. Kaum hatten wir Platz genommen, begann eine Putzfrau zwischen unseren Füßen zu wischen. „Aufstehen! Raus hier! Wir haben geschlossen!“. Wir begehrten, den Leiter des Restaurants zu sprechen. Noch bevor der kam, mussten wir eine Schimpfkanonade unserer Begleiterin Lena F. vom sowjetischen TV über uns ergehen lassen. „Verlassen Sie sofort das Restaurant und halten Sie den Mund! Sie befinden sich hier in der Sowjetunion. Hier bestimmen wir, nicht Sie. Führen Sie sich nicht auf wie deutsche Faschisten!“.
Wie bitte? Wir möchten doch nur zu Abend essen nach einem langen Arbeitstag. „Wenn Sie nicht sofort das Restaurant verlassen, hole ich die Miliz!“, schrie die Dame an uns. Mein Kameramann meinte nur, sie solle sich nicht aufführen wie eine „Babajaga“ (deutsch: Hexe). Wir gingen hungrig zu Bett, fuhren am nächsten Tag nach Moskau zurück, wo uns der Studioleiter schon mit galliger Miene erwartete. Unsere russische Begleiterin, verheiratet mit einem KGB-Offizier, hatte noch in der Nacht telefonisch Meldung beim sowjetischen Geheimdienst gemacht.
Der hatte das ZK der KPdSU informiert. Am Morgen wurde die Meldung per Telex nach Berlin übermittelt, an die Abteilung Agitation und Propaganda beim ZK der SED. Gegen Mittag wusste die Leitung des DDR-Fernsehens Bescheid und die rief im Moskauer Studio an. Wir sollten uns umgehend erklären. Was habt ihr angestellt? Wir hätten „den Anordnungen sowjetischer Genossen nicht Folge geleistet, uns antisowjetisch aufgeführt und sowjetische Genossen beleidigt“.
Mit diesen Worten hatte uns die russische Begleiterin denunziert. Wir kamen mit einem blauen Auge davon. Aber wir nahmen uns in Zukunft in Acht. Andere Menschen zu verleumden, anschwärzen bei der Obrigkeit, das ist Alltag in Russland. Die Russen leben mit der täglichen Angst, von ihren Nachbarn oder Kollegen bei den Behörden denunziert zu werden. Das mussten auch wir, nicht nur einmal, bitter erfahren.
An jedem Drehort führte der erste Weg zum örtlichen Parteichef, der das Programm absegnen musste. Dabei wurden wir meist zum Essen eingeladen. Köstliche russische Spezialitäten gab es da, Sekt und Wodka sowie jede Menge Trinksprüche. Die Parteisekretäre priesen die Stärke der Sowjetunion. Wir könnten alle viel von ihnen lernen. Auf die Freundschaft! Auf den Sieg des Kommunismus!
Nach dem dritten Wodka wurden sie meist kleinlaut: „Ja, da hat die Sowjetunion nun euch Deutsche im Großen Vaterländischen Krieg besiegt und was ist das Ergebnis? Ihr in der DDR lebt besser als wir Russen.“ Das habe ich immer wieder gehört, auch von Freunden. Diese Mischung aus großspuriger nationaler Überheblichkeit (Wir sind die Größten und die Besten! Wir sind die Sieger und haben immer recht! Ihr müsst alle von uns lernen!) und einem tiefen Gefühl von Minderwertigkeit.
In Russland gilt das Recht des Stärkeren. Kompromissbereitschaft oder gar Nachgiebigkeit werden als Schwäche bewertet und gnadenlos ausgenutzt. Dies hatten wir „kleinen Brüder“ schnell begriffen, im Reich des „großen Bruders“. Möglichkeiten, Stärke zu zeigen, gab es durchaus.
Anfang der 1980er Jahre flogen wir nach Kasachstan, in die Wüste Moin-Kum. Dort war durch ein Kanalsystem ein Stück Wüste für die Landwirtschaft urbar gemacht worden. Das wollten wir drehen, umzingelt von 35 Begleitpersonen. Partei, Komsomol, Gewerkschaft, KGB, alle waren vertreten und wollten die richtigen Bilder für uns inszenieren. Sie gaben lautstark Anweisungen, trieben Tiere vor die Kamera, sprangen selbst ins Bild. Als es dem Kameramann Gerhard Gläser zu viel wurde, legte er seine Kamera zur Seite.
Wir erklärten den verdutzten Genossen, dass wir unsere Dreharbeiten beenden und abreisen werden. Die sowjetischen Freunde würden die Dreharbeiten für das DDR-Fernsehen stören. Wir seien für unseren Job ausreichend qualifiziert und benötigen keine Anweisungen, weder vom Parteisekretär der Sowchose noch vom KGB. Der deutsch-sowjetischen Freundschaft würde auf diese Weise schwerer Schaden zugefügt. Das hatte gesessen. Wir hatten Stärke gezeigt. Schlagartig zogen sich unsere 35 Aufseher zurück und wir konnten unsere Reportage unbehelligt drehen.
Zweimal im Jahr bekamen wir im Moskauer Studio des DDR-Fernsehens Besuch hochrangiger sowjetischer Genossen. Es beehrte uns der Leiter der Presseabteilung des Außenministeriums der UdSSR Kim Konzajewitsch Sofinski mit seinen für die DDR zuständigen Mitarbeitern Wassiljew und Burdakin. Es wurde getafelt und getrunken. Sofinski erläuterte, wie die Sowjetunion immer stärker werde, die USA dafür immer schwächer.
Zu vorgerückter Stunde genoss Sofinski Videos des freizügigen DDR-Fernsehballettes. Danach wollte der Hüne selbst seine Stärke demonstrieren, seine Muskelkraft unter Beweis stellen und forderte zum Bankdrücken auf. Für das Team des DDR-Fernsehens trat Kameramann Gerhard Gläser an. Gläser, früherer Leistungssportler, Turner beim ASK Potsdam, brauchte nicht lange, um den sowjetischen Funktionär zu bezwingen. Der schwor Revanche und verlor die nächste Runde noch schneller. Was eigentlich ein Spaß sein sollte, wurde für die Russen an diesem Abend bitterer Ernst. Es war nur ein Spiel, in dem sie der Stärkere sein wollten. Verlieren, das waren sie nicht gewohnt. Schwer beleidigt fuhren unsere Gäste nach Hause.
„Wir werden verlieren!“
Vom 23. Februar bis zum 3. März 1981 tagte in Moskau der 26. Parteitag der KPdSU. Erich Honecker wollte die Gelegenheit nutzen, um von Generalsekretär Breschnew grünes Licht für einen Besuch in der BRD zu erhalten. Was er bekam, war eine Abfuhr. Entsprechend seiner Laune: mies. Für das DDR-Fernsehen war aus Berlin der Journalist Ulrich Makosch nach Moskau gekommen. Ein weitgereister Mann.
Er war lange Jahre in Indonesien, Singapur und Indien als Korrespondent stationiert. Er hatte bewegende Dokumentationen produziert und Bücher geschrieben. Makosch kannte sich aus im Westen und in der Dritten Welt und kam nun zum ersten Mal in die Sowjetunion. Am Ende des Parteitages fuhr der schlechtgelaunte Honecker nach Leningrad. Makosch und ich begleiteten ihn mit unseren Kameraleuten und Technikern in die Stadt an der Newa. Man empfing Honecker im Smolny. Man zeigte ihm ein Neubaugebiet und das Kernkraftwerk am finnischen Meerbusen.
Ein Besuch ohne Höhepunkte. Unser Bericht war schnell fertiggestellt und nach Adlershof überspielt. Am späten Abend flogen wir mit der Aeroflot nach Berlin. Es war spät, ich war müde, wurde aber hellwach, als mir Ulrich Makosch, der neben mir im Flieger saß, offenbARTE: „Ich war jetzt eine Woche lang in der Sowjetunion und ich weiß jetzt, dass die DDR in absehbarer Zeit den ökonomischen Wettbewerb mit der BRD verlieren wird. Der wichtigste Grund dafür: Wir haben die ökonomisch schwächeren Verbündeten. Die UdSSR und die anderen RGW-Staaten sind ökonomisch viel schwächer als die Verbündeten der BRD. Nimm nur die USA, England, Frankreich, Spanien und Italien. Das wird den Ausschlag geben.“
Dem Kommunisten Ulrich Makosch, Mitglied der SED-Bezirksleitung Berlin, hatte im März 1981 eine Woche in der Sowjetunion gereicht, um das Ende der DDR vorauszusagen. Er sollte Recht behalten. Die DDR verschwand von der Bildfläche. Die Sowjetunion auch. Die Erfahrungen, die der „kleine Bruder“ zehntausendfach mit dem „großen Bruder“ gemacht hatte, wurden nun nicht mehr gebraucht. Das Wissen der Ostdeutschen über Russland und den Charakter der Russen wurde weitgehend ignoriert. In den deutsch-russischen Beziehungen der Jelzin- und Putin-Jahre dominierten Westdeutsche, in der Politik, in der Wirtschaft und in den Medien. Von Ausnahmen, wie Angela Merkel, abgesehen. Mit welchem Ergebnis, ist bekannt.
Dietmar Schumann ist Jahrgang 1951, verheiratet, Journalist von Beruf. Er hat in Leipzig und Moskau studiert, ist seit 2016 im Ruhestand. Er war von 1974 bis 1990 beim DDR-Fernsehen beschäftigt, u. a. als Auslandskorrespondent in Moskau und Budapest. Seine Stationen beim ZDF: Reporter beim Magazin „Kennzeichen D“, Auslandskorrespondent in Moskau und Tel Aviv. Von 2005 bis 2016 hat er längere Auslandsreportagen und Dokumentationen für das ZDF und ARTE produziert, u. a. in Russland, der Ukraine, im Kaukasus und in der Karibik. Zahlreiche Einsätze für das ZDF als Reporter in Kriegs- und Krisengebieten, u. a. im zweiten Tschetschenienkrieg, in Berg-Karabach, in Afghanistan, im russisch-georgischen Krieg 2008 und in Libyen. Als Rentner schreibt er gelegentlich für „Karenina“, die Internet-Plattform des Petersburger Dialoges.
Letzte Kommentare