Deutsche Spiegelfechterei um türkisches Wahlverhalten

Die Krise des deutschen Bildungssystems ist gravierend. Sie wirkt sich längst bis hinauf in gesellschaftliche Eliten aus. Grundrechenarten? Fehlanzeige. Nehmen wir die bedauerliche Wiederwahl des Despoten Erdogan. Das deutsche Leitmedium “Tagesschau” meldet dazu u.a. Folgendes:

“An der Stichwahl beteiligte sich rund die Hälfte der rund 1,5 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland. Beim Stand von rund 95 Prozent der ausgezählten Wahlurnen aus Deutschland kam Erdogan bei ihnen laut staatlicher Nachrichtenagentur Anadolu auf 67,4 Prozent der Stimmen. Erdogan schnitt bei den Wählerinnen und Wählern in Deutschland somit erneut deutlich besser ab als insgesamt.” Zum Vergleich: die Wahlbeteiligung in der Türkei selbst lag bei 80-90%, also fast doppelt so hoch, wie bei den wahlberechtigten Türk*inn*en in Deutschland. Die TV-Ausgabe der Tagesschau illustrierte den zitierten Text ausgiebig mit Bildern von Autokorsos der Erdogan-Anhänger*innen in Deutschland, befolgte also brav deren Agendasetting: den Gegensatz zwischen “denen” und “uns”.

Die von der Tagesschau selbst gemeldeten Zahlen bedeuten, dass ein Drittel der in Deutschland wahlberechtigten Türk*inn*en Erdogan gewählt haben. Also ungefähr so viele, wie hierzulande noch CDU wählen. Zwei Drittel haben ihn nicht gewählt – leider fand die Mehrheit dieser zwei Drittel kein Motiv, an der Wahl teilzunehmen. Ist sie ihnen egal gewesen, weil ihr Lebensmittelpunkt hier ist? Wahrscheinlich. Aber niemand erforscht es. Weil es niemand beauftragt und bezahlt.

Von den Menschen mit türkischem Migrationshintergrund, wozu die in der Türkei nicht wahlberechtigten eingebürgerten Deutsch-Türk*inn*en dazuzählen, haben also weniger als 20% Erdogan gewählt, ähnlich viele, wie heute AfD in Deutschland wählen. “Sie” sind also wie “wir”. Aber für deutsches Fernsehen ist das zu kompliziert. Und niemand von dieser Mehrheit macht Lärm, randaliert oder produziert spektakuläre Bilder fürs TV.

Ja, wir haben ein grosses Bildungsproblem.

PS: wer meiner Gedankenführung (und Kopfrechnen) nicht folgen will, kann einwenden, dass hiesige Wahlbeteiligungen ähnlich niedrig sind, wie die der wahlberechtigten Türk*inn*en in Deutschland. Jou, dann wären auch die genannten Werte für CDU und AfD im Kopf zu halbieren. Macht aber auch niemand. Ebenso erforscht niemand die Motive deutscher Nichtwähler*innen. Oder wissen Sie welche? Ist es ein Abgrund, in den mann*frau da blickt? Bitte keine Spekulationen – die gibts reichlich und interessengeleitet.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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