Über Populisten, Verschwörungs”theoretiker” und das “Ossi” – in Anlehnung an Hamlet (Es ist etwas faul im Staate Dänemark)

Unter uns sollen sich jede Menge Populisten befinden, die gleichzeitig auch sehr gerne Verschwörungsgläubige sind. Etwa 20 Prozent seien es, will eine Studie der Uni Hohenheim ermittelt haben. Der Deutschlandfunk präsentierte das Studienergebnis. Er klärte ebenfalls darüber auf, was Verschwörungs“theorien“ sind: Das Gegenteil von wissenschaftlich fundierten, mit Fakten belegbaren Tatsachen, also de facto irrationale Annahmen. Wie immer man es auch nennen mag, Verschwörungsglauben, der Glaube an Kabale und Intrige ist die moderne Form der uralten menschlichen Vermutung, dass höhere Mächte (Götter) ihr Schicksal lenken und alle möglichen finsteren Gestalten hinter allen möglichen Ereignissen stehen. Der Deutschlandfunk sendete aber auch die Gegenrede eines Journalisten der “Welt“. Dem war nicht wohl bei der Unternehmung dieser Studie und prompt hörte er, aber das sei doch „Wissenschaft”.

Neugierig geworden, sah ich mir besagtes Studienwerk näher an. Es ist das dritte in Folge. Die gewählte Methodik: es wurden Aussagen formuliert, und eine zunehmende Anzahl von Zustimmung galt als zunehmend populistisch und einem Verschwörungsglauben anhängig. Das war sozusagen die „Versuchsanordnung“. Und siehe da, simsalabim, schon hatte man den Salat: #ltere Männer, AfD-Wähler, wenig Gebildete und „Ossis“ haben den Populismus und Verschwörungs“theorien“ mit Löffeln gefressen. Unter der Wählerschaft von Grünen und SPD gibt es nach dieser Methodik die wenigsten Populisten. Gemäß Studienergebnis ist die Mehrheit der Deutschen „schwach populistisch“ (Zustimmung einer Mehrheit zu 5 Aussagen).

Die folgenden Aussagen wurden von einer klaren Mehrheit, d.h. mit über 50 Prozent eindeutig zustimmend beantwortet:

  1. In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist zu gelten.
  2. Politiker nehmen sich mehr Rechte heraus als normale Bürger.
  3. Die Politiker kümmern sich nicht viel darum, was Leute wie ich denken.
  4. Verbrechen sollten härter bestraft werden.

Einer klaren Mehrheit lugt demnach ein „schwacher“ Populismus schon beinah aus dem Knopfloch.

Nun enthielt diese Studie aber auch die Antwortoption: „teils-teils“. Sie lässt Raum für eine differenzierte Sicht und Abwägung: manchmal ja, manchmal nein. Sechs weitere Aussagen stießen (theoretisch) auf mehrheitliche Zustimmung, wenn man teils-teils-Antworten einbezieht. Nach der gewählten Methode wäre dann schon ein „mittlerer Grad“ von Populismus-Potential vorhanden. Fügt man noch die Aussagen hinzu, bei denen zustimmende und „teils -teils“– Antworten mindestens 40 Prozent ausmachten (weitere zehn), dann lauert das Potential zu einem „sehr starken Grad des Populismus“ in mindestens 40 Prozent der Bevölkerung.

Hinzu kommt, dass Menschen bei Umfragen nicht notwendigerweise sagen, was sie wirklich denken. Diejenigen, die die Aussagen entwarfen (unterteilt in vier Kategorien), behandelten sie anscheinend als gleichgewichtig, so als hätten sie alle denselben Aussagewert. Was nicht der Fall ist. Die Annahme, unser Land würde eher einer Diktatur (16 bis 28%) als einer Demokratie (72-86%) gleichen (die Margen ergeben sich unter Einbeziehung von teils-teils) ist von ganz anderer Natur als etwa die Reaktion auf die Aussage, es würde zu viel Rücksicht auf Minderheiten genommen (Ablehnung 40-64%; Zustimmung 36-60%).

Darüber könnte man nachdenken

Hochinteressant war das Stimmungsbild zur Aussage, dass Meinungen, die in Medien vertreten werden, ganz anders sind als meine eigenen. Eine Mehrheit (43%) entschied sich hier deutlich für teils-teils. Bei keiner anderen Frage war das so. in diesem Punkt gab es auch kein Ost-West-Gefälle. Darüber könnte man nachdenken. Man könnte generell fragen, warum bestimmte Studienaussagen eher zustimmend beantwortet wurden. Aber das macht erstens Mühe und führt zweitens direkt ins ideologische Fettnäpfchen. Denn wer voraussetzt, dass immer mehr zustimmende Antworten auf selbst entworfene Aussagen eine falsche Weltsicht dokumentieren, hat längst definiert, wie die richtige Antwort zu lauten hat. Die „fehlerhaften“ Antworten liegen also bei den anderen, die sich in unterschiedlich starken Strudeln des Populismus befinden. Wer weiß, ob eine Ursachenforschung dann nicht das eigene, „richtige“ Weltbild gefährden würde.

So konstatiert man lieber. Das ist ungemein praktisch und politisch auch sehr nützlich. Mittels „Wissenschaft“, sprich „Studiengrundlage“ kann man sich nunmehr bestens darüber echauffieren, wer so hochgradig populistisch und mit einem Hang zu Verschwörungs“theorien“ behaftet ist. Es regiert sich schlicht leichter, wenn der Staat und die ihn tragenden Parteien Vertrauen reklamieren, ohne es verdienen zu müssen, wenn Eliten für sich beanspruchen, „die Fakten“, „die Wissenschaft“ und das Interesse der Mehrheit sozusagen naturgesetzlich zu repräsentieren. Habt Vertrauen, liebe Leute! Wir schützen Euch, auch vor Euch selbst und Euren Fehlern.

Das erinnert an das absolutistische „l`Etat c`est moi“. Es ist der Blick der Macht, von oben nach unten, der missbilligend auf dumme bzw. störrische Untertanen fällt, die – so der Vorwurf- völlig verantwortungslos und seit Jahren in sozialen Medien nach Informationen schnüffeln bzw. mit nicht durch Fakten erhärtete, beweislosen Vermutungen, unbelegten Erzählungen (Legenden), kruden, unwissenschaftlichen Ideologien oder Mythen von der Zusammenrottung bestimmte Personen oder Gruppen (Definition von Verschwörungs“theorien“) nur so um sich werfen. Zudem ist der Begriff eines Verschwörungs“theoretikers“ längst zu einem politischen Kampfbegriff geworden. Der, der den Vorwurf erhebt, kann kein Verschwörungs“theoretiker“ sein, nur die so Beschuldigten. Schon ist die Welt in bester Ordnung.

Sprudelnde Quelle von Verschwörungs“theorien“

Tatsächlich sind westliche Eliten selbst eine sprudelnde Quelle von Verschwörungs“theorien“, die im Brustton der Wahrheit verkündet werden, durch den Mainstream wabern und ins Bewusstsein der Öffentlichkeit eindringen, die selbstverständlich zunächst annimmt, es wäre die Wahrheit. Bis dann das böse Erwachen kommt.

Man erinnere sich an Erzählungen wie: Saddam Hussein paktiert mit Al Quaida (eine der Legitimationsgrundlagen für den Irak-Krieg); der Iran plant Raketenangriffe auf Europa (Mit diesem Argument etablierte die NATO Raketenabwehrschilder in Polen und Rumänien); Russland konspiriert mit Wikileaks zu Lasten von Hillary Clinton; Russland und Trump stecken konspirativ zu Lasten der US-Demokratie unter einer Decke, wahlweise, weil Trump erpressbar ist durch Moskau, wahlweise, weil Moskau ihn seit 1987 „führt“; Die Russen bezahlen den Taliban Kopfgeld, damit diese Amerikaner töten. Die Liste ist sehr viel länger, und auch die deutsche Politik und viele deutschen Medien waren nicht nur einmal munter erzählend dabei.

Man kann den Blickwinkel auch umdrehen

Für politische Ziele wie Kriegsführung, Anheizen von Konflikten, Schwächung des politischen Gegners oder Unterdrückung der Wahrheit verschwören sich mächtige Leute, lügen mehr oder weniger dreist und tun alles, um eine Aufklärung der jeweiligen Sachverhalte zu sabotieren. Wurde erst mal eine solche Erzählung etabliert, werden Abtrünnige/Andersdenkende vor allem beschimpft: Idiot ist in dem Fall die mildeste Form. Inhaltliche Auseinandersetzungen werden eher vermieden.

Ende vergangene Woche hat ein US-Gericht im Berufungsverfahren geurteilt, dass der US-Staat sich verfassungswidrig verhielt, weil er die freie Rede in sozialen Plattformen zu unterdrücken suchte und soziale Plattformen aktiv „ermutigte“ zu zensieren, wenn es um von der „offiziellen Linie“ abweichende Auffassungen ging, selbst wenn es sich um Fakten oder wissenschaftliche Theorien handelte. So verfuhren das Weiße Haus und die CDC beispielsweise, um gegen einzelne Wissenschaftler vorzugehen, weil diese sich nicht der „verordneten“ Wissenschaft fügten. Allerdings ist diese rechtliche Saga sehr wahrscheinlich noch nicht beendet. Hier stehen dokumentiertes staatliches Verlangen nach Zensur und das Verlangen nach freier Rede so konträr gegenüber, dass die Biden-Administration sich nicht geschlagen geben wird. In der ersten Gerichtsinstanz verglich der Richter die „Zensurinfrastruktur“ in den USA mit einem „Ministerium für Wahrheit“ im Orwellschen Sinn. Die ganze Sache ist leider kein Einzelfall, wie die sogenannten Twitter-Akten zeigten.

Geschichte der Pharma-Familie Sackler

Auch für wirtschaftliche Ziele wird sich verschworen und gelogen, was das Zeug hält. Eine Netflix-Serie erzählt beispielsweise die Geschichte der Pharma-Familie Sackler und ihres Schmerzmittels Oxycontin. Was die (laut filmischer Darstellung) mit krimineller Energie anstellten, um reich zu werden und mit wem sie heimlich paktierten, trägt alle klassischen Züge einer Verschwörung. Rund eine halbe Million Amerikaner fielen ihr zum Opfer. Sind die Sacklers ein Einzelfall?

Ein US-Präsident hielt es für wichtig, in seiner Abschiedsrede 1961 vor zu viel Einfluss des militärisch-industriellen Komplexes zu warnen. War der schon Verschwörungs“theorien“ erlegen oder wusste er, wovon er sprach: von den Hauptprofiteuren einer Politik der Konfliktanheizung und endloser Kriege?

Nun ist es die vorrangige Aufgabe der Medien und die des demokratischen Diskurses, Entartungen in einer Demokratie ans Licht zu zerren, zu „sagen, was ist“. Wenn das auch längst schwächelt, dann führt das Erleben realer Verschwörungen der Mächtigen, die Wahrnehmung von Massenmedien als de facto deren Pressesprecher notwendigerweise zu Enttäuschung, Ablehnung und zu Vertrauensverlusten, die sich seit Jahren in Umfragen spiegeln. So etwas resultiert zwingend in einer höheren Bereitschaft in Teilen der Öffentlichkeit, nunmehr immer das Schlimmste anzunehmen: alles nur Intrigen, alles nur Verschwörungen, alles nur Lügen.

Statt sich dem im sachlichen Meinungsstreit zu stellen, sind es (fast) immer die anderen, die falsch denken, einfach ausplappern, was ihnen in den Sinn kommt oder die zu dumm sind, die Wahrheiten erkennen zu können, die die Gralshüter der Macht verwalten. Was kann da schon schiefgehen? Jeder möge sich die beeindruckende Rede, die Präsident Obama 2009 in Kairo hielt, nochmals zu Gemüte führen. „Ein neuer Anfang“ sollte es werden. Er bekam den Friedensnobelpreis dafür. Was hatte er dort nicht alles versprochen! Wieviel davon hat er gehalten? Wer hat ihn abgehalten, das Versprochene zu liefern? Zunächst regierte er mit Mehrheit. Er sprach auch von der Anstrengung um Frieden, vom Respekt vor anderen Völkern und Religionen. Er machte das Gegenteil des Gepredigten.

Real haben sich über Jahrzehnte die sozialen Unterschiede verschärft, allen voran in den USA, aber nicht nur dort. Die klassischen politischen Parteien finden darauf nicht nur keine überzeugende Antwort, sie leisten keinerlei Gegenwehr. Wenn Opposition der sogenannten „kleinen Leute“ aufbricht, weil die sich verraten, alleingelassen fühlen und nun die Nase voll davon haben, nur am Katzentisch der Gesellschaft zu sitzen, ist man verstört, so wie beim Brexit, der Wahl von Corbyn zum Anführer von Labour oder der US-Wahl 2016.

Was folgte, waren Verhöhnungen, die Vermutung, fremde Mächte hätten eingegriffen und mit Desinformation den Leuten die Hirne gewaschen. Michael Moore hat einen ganzen Film gedreht, mit dem er die Wahl von Trump erklärte. Die ca. fünf Film-Minuten zum Besuch von Obama in Flint reichen aus (Anm.: arme, überwiegend farbig bevölkerte US- Stadt mit jahrelang vergiftetem Trinkwasser), um fast alles zu erklären.

„For the many, not the few”

Aber nein, lieber wird Populismus unterstellt, Desinformation gebrüllt und zur Zensur gegriffen, um dem „Wildwuchs“ in sozialen Medien, den man nicht im Griff hat, zu beschneiden. Damit die „kleinen Leute“ möglichst nicht merken, wenn sie belogen werden, oder dass sie nicht allein sind mit ihren Fragen, im Kummer, in der Wut, im Erleben oder im Wunsch nach Veränderungen. Sie könnten ja am Ende auf die Idee kommen, wie in der französischen Revolution zu Mistgabeln zu greifen.

„For the many, not the few” – Damit traf Corbyn den Nerv der Mehrheit in der Labourpartei. Ein Zirkel innerhalb von Labour machte dann allerlei Klimmzüge (Kabale), um Corbyn wieder auszuspucken.

Es finden sich immer Themen, die sich anbieten, oder gesellschaftliche Gruppierungen, deren Anliegen missbraucht werden kann, um Menschen auseinanderzudividieren, zu verunsichern oder klein zu machen. Das ist sehr viel einfacher, als soziale Unterschiede und Ungerechtigkeiten abzubauen, Armut zu bekämpfen oder für eine friedliche Welt einzustehen. Die Zeit der Pandemie förderte erschütternde Einsichten zutage, wozu eine (mehrheitliche) Allianz von Politik, Experten, Pharmaunternehmen und Medien willens und fähig ist. Nicht auf der Basis solider wissenschaftlicher Erkenntnisse, sondern auf der Basis von Postulaten, Unwahrheiten, Halbwahrheiten und Vertuschungen, getrieben von Glauben, Angst und Heilsbringerphantasien und einer erschreckend großen Bereitschaft zu Unethischem. Zu erwähnen wäre noch das Profitmotiv. Von diesem Schock hat sich unsere Gesellschaft nicht erholt, und sie kann sich auch davon nicht erholen, solange das nicht aufgearbeitet ist. Aber wo ist sie denn, diese Aufarbeitung?

Im „Galileo“ (Brecht) stieß ich auf dessen Warnung vor korrumpierter Wissenschaft: „…euer Fortschritt wird doch nur ein Fortschreiten von der Menschheit weg sein. Die Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages so groß werden, dass euer Jubelschrei über irgendeine neue Errungenschaft von einem universellen Entsetzenschrei beantwortet werden könnte…“ In welche Risiken manövrieren wir uns, ohne Transparenz und öffentliche Debatte zu gain-of-function-Forschungen, biologischen Waffenforschungen, zur Entwicklung künstlicher Intelligenz und posthumaner Visionen?

Was soll man denken, wenn westliche Staaten den Verfechter radikaler Transparenz, den Journalisten und Verleger Julian Assange, der immer nur die Wahrheit sagte/veröffentlichte, politisch verfolgen, Geheimdienste über seine Ermordung sinnierten, und er nun schon seit Jahren im Hochsicherheitstrakt festgehalten wird? Dass ihm Recht geschieht?

Woran erinnert es, wenn ein einflussreicher US-Demokrat Anfang 2017 erklärte, der damals designierte US-Präsident sei „dumm“, sich mit Geheimdiensten anzulegen, denn die könnten ihn mit jedem vorstellbaren Mittel fertigmachen? Was ist die Folge, wenn aufklärerische Güter wie Wahrheit, Wissenschaft und Fakten politisch instrumentalisiert und nach Belieben entstellt und verfremdet werden? Was geschieht in Demokratien, wenn elitäre Einzelpersonen mit viel Geld, hohem Prestige und fast unbeschränkten Zugang zu politischen Führungsspitzen öffentlich erklären, sie seien am besten ausgestattet, die Führung zu übernehmen, zum Weltenwohl, oder wenn ein Club der Reichen und Einflussreichen unmissverständlich verkünden lässt, nichts zu besitzen mache glücklich? Was passiert, wenn im Deutschen Bundestag schon fast die Regel zu gelten scheint, dass gar nichts, was aus AFD-Mündern entfleucht, richtig sein KANN?

Mit Lügnern ist jede Debatte zwecklos

In ganz extremer Form gilt das auch für die aktuellen Auseinandersetzungen mit Russland: Nichts, was aus dem Kreml dringt, ist wahr. Putin lügt immer. Mit Lügnern ist jede Debatte zwecklos. Die Natur der Lüge ist immer Falschinformation. So kann man sich jeder Verpflichtung zum Nachdenken, jeder Verpflichtung zur Realitätskontrolle, jeder außenpolitischen Verpflichtung zu Verhandlungen oder Kompromisssuche bestens entziehen. Wohin führt es, wenn Bildung, Kultiviertheit und Manieren bei öffentlichen Personen auf dem Rückzug sind, obwohl genau das Gegenteil vorgegaukelt wird? Toleranz, Freundlichkeit, ein solider Grundstock an Kenntnissen oder gar Wissensdurst scheinen nicht mehr en vogue. Inzwischen gibt es sogenannte richtige und falsche Fragen. Wer sind diejenigen, die über solches nachdenken: Populisten, Verschwörungs“theoretiker“ oder Demokraten? Freund oder Feind?

So wie Trump ein USA-Produkt ist, ist die AfD ist ein Produkt der politischen Missstände in Deutschland (und in der westlichen Welt), einschließlich einer unzureichenden geschichtlichen „Aufarbeitung“ in unserem Land. Das gilt für Ost wie West. Ihre Attraktivität ist ein Gradmesser dafür, dass es ein gerütteltes Maß an öffentlichem Vertrauensverlust im Land gibt und gleichzeitig einen Werteverfall, der von rechts bis links reicht. Dafür sind nicht zuallererst die Bürgerinnen und Bürger verantwortlich, sondern die, die auf Vertrauen pochen und es verspielen, die den Streit nicht argumentativ austragen, sondern mit verbalen und moralischen Keulen um sich schlagen. „Brandmauern“ vertagen nur die Problemlösung.

Und was Ostdeutschland und dessen AfD-Affinität betrifft, so sei an dieser Stelle behauptet: Mit jedem westlichen Zeige- oder Mittelfinger, jedem Schmähartikel über Ostdeutsche, wie beispielsweise bei t-online „Den meisten Ostdeutschen ist die Freiheit einfach geschenkt worden“. oder jeder Studie, die „die Ossis“ erneut in die Ecke stellt, wird die AfD vor allem in Ostdeutschland stärker. Vielen Dank, lieber Ilko-Sascha Kowalczuk für die steilen Thesen! Glücklicherweise wollte Jakob Augstein darüber sprechen und Radio 1 Berlin übertrug die Debatte („Wie rechts ist der Osten“). Nach 17 Minuten habe ich das Handtuch geschmissen.

Fähigkeit zu Mitgefühl

Der Film “Good Bye Lenin“ (2003) stieß auf große Resonanz und zog viele Zuschauer in seinen Bann, egal, in welchem Teil des größer gewordenen Deutschlands sie ansässig waren. In seiner Essenz erzählte er mehr als nur eine Liebesgeschichte. Für die sterbende Mutter baute der Sohn ein Potemkinsches Dorf (DDR existiert fort), um sie nicht zu quälen. Mag die Frau in der filmischen Erzählung noch so fest an den „real-existierenden Sozialismus“ in der DDR geglaubt haben, im sogenannten „falschen Leben“ hatte sie ihrem Kind alles mitgegeben, was im Leben zählt: die Fähigkeit, sich Problemen zu stellen und (mit anderen gemeinsam) intelligente Lösungen zu finden, die Fähigkeit zu Mitgefühl, zu Liebe und zu Vergebung. Das hätte ein gesamtdeutsches Thema werden können.

Dafür auch noch zu blöd?

Deutschland verbindet mit anderen Ländern in der Mitte und im Osten des Kontinents die Erfahrung einer nicht abgeschlossenen Systemtransformation, auch wenn sie in Ostdeutschland, bedingt durch die deutsche Einheit, in einigen Zügen fundamental anders verläuft. Das Verbindende ist ein historisch einzigartiger Prozess, der sich jedem Lehrbuch entzieht. Aber das verstehen die selbsternannten Sieger der Geschichte, die angeblich „schon immer“ auf der „richtigen“ Seite waren, unglücklicherweise nicht. Sie reden wie Blinde von der Farbe, und das wirkt sich auf alles aus, auf die Sicht auf Ostdeutschland, auf die auf Polen oder Ungarn, oder auf die Ukraine oder Russland usw. Es bleibt eine Draufsicht, keine Einsicht. Wie bei Radio 1 zu hören war, gibt es die ernstliche Vermutung, ostdeutsche AfD-Wähler wollten die Westdeutschen ärgern (was ihnen so auch gelänge).

Den „Osten“ verstehen zu wollen, ist heutzutage auch ein zweischneidiges Schwert. Möglicherweise würde man so zum „Versteher“, und von da an ist es auch nur noch ein kleiner Schritt bis hin zum Russland –„Versteher“. Das wiederum „geht gar nicht“. Neuerdings sind die Ukrainer unsere „Brüder und Schwestern“ (O-Ton Olaf Scholz). Mit einer Vorstellung vom Osten Deutschlands als einem Kuddel-Muddel- und Schmuddelgebiet, eines mit zu vielen Ungeimpften (gegen Covid), hochgradigen Populisten (Studie), zu viel Autoritätsverlangen und Demokratiedefiziten ohne Ende (Kowalczuk), sentimental verklärt „pro-russisch“ (Mehrheit gegen Waffenexporte in die Ukraine) und dann auch noch zu vielen AfD-Wählern (leider durch Umfragen belegt), scheint die politische Handlungsanweisung ganz klar. Historiker Kowalczuk, der 1967 in der DDR geboren wurde, hat sie auf den Tisch gelegt: Bei den Alten ist Hopfen und Malz verloren (bleibt nur noch, sie „sozial satt“ zu machen). Nazi wählt Nazi. Die Jungen könnten/sollten (um)erzogen werden. Herr Kowalczuk muss selbstverständlich nicht (um)erzogen werden, denn er hat gewissermaßen wissenschaftlich herausgefunden, dass den Ostdeutschen mehrheitlich die Freiheit geschenkt wurde (seine Begründung: Eine Revolution ist IMMER die Angelegenheit weniger, also sozusagen auch ein Eliten-Ding).

Kurz und gut: Für dieses große Freiheitsgeschenk haben diese gottverdammten Ossis (zu allem Überfluss überwiegend atheistisch) endlich dankbar zu sein, wenigsten die Jungen, und wenn man die richtig erzieht, kriegen sie schon die richtige Weltsicht.

Na hoffentlich sind die dafür nicht auch noch zu blöd!

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.