Auf den ersten Blick ist verwirrend, was im Thüringer Landtag geschehen ist. Gegen die amtierende Regierung und die sie tragende Koalition hat die Opposition einen Beschluss durchgesetzt, der die Grunderwerbssteuer im Land deutlich senkt. Damit bricht die CDU unter Leitung ihres Vorsitzenden Dr. Mario Voigt den Stillhalte-“Pakt“, den sie nach dem Ministerpräsidenten-Intermezzo des FDP-Politikers Thomas Kemmerich mit der amtierenden Linkskoalition geschlossen hatte. Dieser Pakt bedeutete: Keine Stimme für euch, aber Stimmenthaltung in den für das Land wichtigen Fragen.

Zur Erinnerung: Der Linken-Politiker Bodo Ramelow ist seit 2014 im Amt. Seine Amtszeit wurde durch ein Intermezzo vom 5. Februar 2020 bis 4. März 2020 unterbrochen, als der FDP-Ladtagsabgeordnete Thomas Kemmerich überraschend von FDP, AfD und CDU zum Ministerpräsidenten gewählt worden war. Um danach halbwegs Klarheit zu schaffen, wurde der erwähnte Pakt geschlossen.

Die politischen Verhältnisse: Der Landtag hat 90 Mitglieder. Wer etwas durchsetzen will, muss bei voller Präsenz des Landtages 46 Abgeordnete zusammenbringen. Herrn Ministerpräsident Ramelows Regierung ist so gesehen ein seltenes Exemplar in der deutschen Demokratiegeschichte. Sie hat mit den 29 Abgeordneten der Partei die Linke, fünf der Grünen und acht der SPD (42 Stimmen) dauerhaft bis zur nächsten Landtagswahl keine Mehrheit. Sie muss sich ihre Mehrheit suchen, sie wurde bisher von der CDU – wenn auch widerwillig geduldet. Neben der Regierungskoalition ist die CDU mit 21 Stimmen im Landtag vertreten, die AfD mit 19 und die FDP mit vier. Es gibt außerdem vier lose mit miteinander verbundene Abgeordnete – drei haben nach der letzten Wahl die AfD-Fraktion verlassen, eine die FDP. Aus welchen Gründen etwa der Bundespolizist Lars Schütze die AfD-Fraktion verlassen musste (Ausschluss aus der AfD-Fraktion) ist bis heute nicht klar. Ohne die AfD kommt die CDU auf 29 Stimmen im Landtag. Bis zur Mehrheit von 46 Stimmen fehlen 17 Stimmen.

Der Anlass: Die Grunderwerbssteuer ist hoch im Land, die Bevölkerungsentwicklung rückläufig. Das Bruttoeinkommen ohne Weihnachts- oder Urlaubsgeld lag 2022 knapp über 3000 Euro. Im Vergleich dazu: Durchschnittsbrutto Bundesrepublik 2022 etwa 4100 Euro. Bereits 2006 war im Thüringen Monitor über die politische Kultur zu lesen: „…kontinuierliche Schrumpfung und Alterung der Thüringer Bevölkerung vor allem als Konsequenz einer historisch niedrigen Geburtenrate, die Entleerung und Marginalisierung des ländlichen Raums, zudem eine kontinuierliche Abwanderung vorwiegend junger, besser qualifizierter Menschen in die Ballungszentren Westdeutschlands – und damit dorthin, wo bessere Arbeitsplätze und ein höherer Lebensstandard locken. Hinzu treten die weithin bekannten Finanzierungsprobleme in nahezu allen Säulen der sozialen Sicherungssysteme…. Dass darüber hinaus gesellschaftliche Beziehungen ganz neu strukturiert werden müssen (mit weitreichenden Implikationen für die Beziehungen zwischen den Generationen, für das Rentenalter, die Entstehung neuer Dienstleistungszweige usw.), sei hier nur erwähnt. Die Konsequenzen der hier nur knapp umrissenen Entwicklungen sind einschneidend und zwingen, gerade weil die Reproduktionsrate kurzfristig kaum zu beeinflussen ist, Politik und Gesellschaft zu grundsätzlichen Veränderungen – eben zu Reformen.“
Ramelow regiert also ein schwieriges Land. Die Koalition, die er führt, kann keine großen Sprünge machen. Die 50 Millionen €, die eine Senkung der Grunderwerbssteuer an Steuerausfällen bedeutet, müssen an anderer Stelle eingespart werden: Bei Investitionen, sozialen Hilfen, Personal.

Auf einen zweiten Blick ist das Geschehen in Thüringen nicht mehr so verwirrend. Was geschehen ist, lässt sich auf eine einzige Fragen bringen: Sind wir Christdemokratinnen und Christdemokraten bereit und auch gewillt, uns der von Björn Höcke dominierten völkisch-rechtsradikalen AfD-Fraktion zu bedienen, um eine Mehrheit im Thüringer Landesparlament zu bekommen. Das ist der simple Kern des mit vielen Wolken überzogenen und von Nebelwänden umgebenen Geschehens.

Es geht also nicht darum, ob sich die AfD an einen Beschlussvorschlag der politischen Konkurrenz dranhängt, den Trittbrettfahrer spielt; sondern es geht darum, gemeinsam mit Rechtsradikalen und Nazis der Landesregierung und den diese tragenden Fraktionen eine koste-es-was-es-wolle Niederlage zuzufügen.

Diese Geschichte ein wenig kleinteiliger aufgezogen sieht dann so aus: Die CDU-Fraktion im thüringischen Landtag hat die Behandlung ihres haushaltswirksamen Antrags mit System vorbereitet. Andere Tagesordnungspunkte wurden, wie zu erfahren ist, in einer gemeinsamen Aktion mit der AfD zurückgezogen, um die Senkung der Grunderwerbssteuer aufzusetzen. Wer die AfD so einbezieht und sich ihrer bedient, wie Voigt, gerät in Gegensatz zu dem, was der CDU-Vorsitzende Merz angeordnet hatte: “Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben…..Die Landesverbände, vor allem im Osten, bekommen von uns eine glasklare Ansage: Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an.”

Das Aufsetzen des CDU- Antrags auf die Tagesordnung des Landtages war letztlich Ergebnis eines klandestinen Zusammenspielens von CDU und AfD-Fraktionsleitung. Da wurde die Sache „verschraubt“.

Die AfD ist in einer für sie komfortablen Situation. Sie ist zu nichts gezwungen. Sie kann warten und zusehen, wie die politischen Verhältnisse auf sie zugespielt werden. Die CDU steht in einer ständigen Zerreißprobe. Hier die Aussage des Parteivorsitzenden Friedrich Merz, dort einzelne Repräsentanten und Gliederungen der CDU, die anlassbezogen, punktuell, von Fall zu Fall oder öfter, vom selbstausgelösten, sogenannten Sachzwang veranlasst mit der AfD kooperieren möchten. Man kommt jetzt damit „aus der Deckung“,

Der Zeitpunkt ist clever und wohlkalkuliert gewählt: Im September 2024 wird in Thüringen wieder gewählt, Insa hat zuletzt im Juli die Parteiaussichten abgefragt: 20 v.H. für die CDU, zehn für die SPD, fünf für die Grünen, vier für die FDP, 22 v.H. für die Linke und 32 für die AfD. Die Grünen haben in Thüringen bislang keine große Rolle gespielt. Die SPD hatte mal Chancen auf 17 oder 18 Prozent. Das ist Jahre her. Die CDU ist bei 20 oder etwas über 20 v.H. „eingemauert“. Die Linke hat in Thüringen die AfD über Jahre gesehen „in Schach gehalten“. Diese Fähigkeit ist verschwunden.

Was bedeutet das „jetzt aus der Deckung kommen“: Nicht zu spät, damit eine entsprechende Gewöhnung an solche „Schraubereien“ noch vor der Landtagswahl stattfinden kann und Kritik daran verschlissen ist. Voigt und andere glauben, sie seien durch „Sacharbeit“ in der Lage, die AfD einzugrenzen und zu schwächen. Das ist eine Illusion.

Brandmauern oder Brandwände müssen nach den Vorschriften des Brandschutzes dick genug, hitzefest und sozusagen aus einem Guss sein. Davon kann im politischen Geschäft der Thüringer CDU keine Rede sein. Manche wollen die Zusammenarbeit mit der AfD, andere lehnen sie ab. Vorsitzender Voigt will „pragmatisch“ gegenüber der AfD sein.

Auf eine solche Einstellung haben die Höcke und Co. ja nur gewartet. In den führenden Teilen der AfD werden Staat und Institutionen der Bundesrepublik verabscheut, ja verachtet. Dementsprechend auch deren Repräsentantinnen und Repräsentanten. Für diese Leute sind Kompromisse mit bürgerlichen Parteien und mit den Voigts die ersehnten „Einstiegslucken“. Mehr nicht. Voigt und Co sind denen schlicht und einfach nicht gewachsen.

Über Klaus Vater / Gastautor:

Klaus Vater, geboren 1946 in Mechernich, Abitur in Euskirchen, Studium der Politikwissenschaft, arbeitete zunächst als Nachrichtenredakteur und war von 1990 bis 1999 Referent der SPD-Bundestagsfraktion. Später wurde er stellvertretender Sprecher der deutschen Bundesregierung. Vater war zuvor Pressesprecher des Bundesministeriums für Gesundheit unter Ulla Schmidt, Sprecher von Arbeitsminister Walter Riester, Agentur-, Tageszeitungs- und Vorwärts-Redakteur. Mehr über den Autor auf seiner Webseite.