Propaganda-Forscher: „Jeder steht im Visier der modernsten Manipulation der Geschichte“ – Im Jahr 2020 begann die Nato mit der Entwicklung der „fortschrittlichsten Form der Manipulation“. Propaganda-Forscher Dr. Jonas Tögel hat darüber ein Buch geschrieben.

Herr Tögel, der Schriftsteller Aldous Huxley sagte 1959 in einer Rede vor Studenten in Kalifornien, dass er glaube, dass künftige Diktaturen Menschen dazu bringen würden, ihre Beherrschung nicht als solche zu empfinden, weil sie durch Propaganda und Gehirnwäsche sowie „pharmazeutische Methoden“ manipuliert würden. Halten Sie diese Aussage für zeitgemäß?

Ich halte vor allem den ersten Teil dieser Aussage für wichtig, daher zitiere ich Huxley in meinem Buch ausführlich: „Die Diktaturen der Zukunft werden ganz anders sein als die Diktaturen, die wir in der Vergangenheit gesehen haben. […] Sie werden dadurch herrschen, dass sie die Zustimmung der Menschen bekommen, welche sie regieren, indem sie die rationale Seite der Menschen umgehen und ihr Unterbewusstsein, ihre tieferen Emotionen ansprechen, sodass die Menschen ihre Versklavung sogar lieben werden.“

Für Huxley bestand die Gefahr zukünftiger Herrschaft darin, dass sie nicht als solche erkannt wird und Machtausübung somit unbemerkt stattfinden kann. Dieser Einfluss wird heute als „Soft Power“ bezeichnet: psychologische Steuerungstechniken, wie sie beispielsweise von der PR-Industrie, bei der Propaganda oder auch bei der Kognitiven Kriegsführung der Nato angewandt werden. Wenn man heute die Dokumente der Nato zu ihrem Cognitive-Warfare-Programm betrachtet, dann fällt auf, wie ähnlich sie zu Huxleys düsterer Zukunftsvision sind.

So heißt es in einem Dokument: „Die Kognitive Kriegsführung könnte das fehlende Element sein, das den Übergang vom militärischen Sieg auf dem Schlachtfeld zum dauerhaften politischen Erfolg ermöglicht. […] [Nur] die Menschliche Sphäre (Humain Domain) kann den endgültigen und vollständigen Sieg erringen.“

Das heißt also, jeder Mensch steht heute somit im Visier einer hochmodernen, psychologischen Kriegsführung?

Richtig, und zwar mit dem erklärten Ziel, seine Gedanken, Gefühle und sein Verhalten so steuern zu können, dass ein „endgültiger“ und „vollständiger“ Sieg möglich ist. Hier zeigt sich also in einer sehr deutlichen und radikalen Weise die Umsetzung eben jener Steuerungstechniken, vor denen Huxley vor mehr als 60 Jahren warnte.

Um noch einmal bei Huxley zu bleiben. Im Schlusswort seines Buches „Wir amüsieren uns zu Tode“ warf Neil Postman die Frage auf, ob wir die Schreckensvisionen, die George Orwell in „1984“ darstellte, schon eingeholt haben, oder ob wir eher in der Brave New World leben, die Aldous Huxley vorherzusehen glaubte. Wie würden Sie diese Frage beantworten?

Was wir derzeit feststellen, ist eine zunehmende Bedeutung von Soft Power sowie ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Krieg und Frieden. In der Kognitiven Kriegsführung gilt die Devise, dass der Kampf um die Köpfe und Herzen der Menschen auch in Friedenszeiten fortdauert, es gibt also eine Art fortwährenden Krieg, der niemals endet. Das macht den Cognitive Warfare zu „einem der heißesten Themen für die Nato“ heute, wie Experten betonen. Auf die beiden Dystopien bezogen, die Sie angesprochen haben, könnte man sagen, dass es heute sowohl Elemente aus Orwells „1984“ gibt – welche man eher der Hard Power zuordnen könnte – als auch Elemente, die in Huxleys „Schöner Neuer Welt“ vorkommen, welche überwiegend in den Bereich der Soft Power fallen. Die Übergänge werden jedoch fließend und ein echter Frieden wird durch die psychologische oder kognitive Kriegsführung immer schwerer zu erreichen. Umso wichtiger ist der entschlossene Einsatz für den Frieden und die Aufklärung über militärische und psychologische Gewaltausübung.

In Ihrem Buch „Kognitive Kriegsführung-Neuste Manipulationstechniken als Waffengattung der Nato“ analysieren Sie die neueste Strategie der Nato bei der propagandistischen Manipulation der Massen. Was unterscheidet diese Propaganda-Strategie von Kampagnen in der Vergangenheit?

Die Kognitive Kriegsführung ist ein Programm der Nato, welches seit 2020/21 verstärkt vorangetrieben wird und eine sehr radikale Zielsetzung hat: Der Mensch selbst soll als neuer, sechster Kriegsschauplatz festgelegt werden. Neben den bisherigen fünf Kriegsschauplätzen zu Wasser, zu Lande und in der Luft, sowie im Weltraum und Internet wird sich mit der „Human Domain“ oder „Cognitive Domain“ (Menschliche Sphäre oder Kognitive Sphäre) bald jeder Mensch als erklärtes Zentrum einer neuartigen Form psychologischer Kriegsführung wiederfinden. Bis jetzt war Propaganda zwar in jedem Krieg ein bedeutender Teil der Kriegsführung, diese Zuspitzung des gezielten Einsatzes von Soft Power ist jedoch neu und besorgniserregend. Darüber hinaus haben die Digitalisierung und das Voranschreiten der Wissenschaft zu ganz neuen Formen von Manipulation geführt: Zum einen geben wir alle durch die Nutzung des Internets sehr viel über uns selbst preis – die Nato spricht in diesem Zusammenhang von einem Spiegel, um in die eigene Seele zu blicken– und dieses Wissen lässt sich wiederum für individuell zugeschnittene Propaganda, sogenanntes „Mikro-Targeting“, nutzen. Zum anderen verspricht man sich durch die Einbeziehung des NBIC-Komplexes (das heißt: Nanotechnologie, Biotechnologie, Informations- sowie Kognitionswissenschaften) und durch eine „Militarisierung der Neurowissenschaften“ ganz neue, technisch gestützte Einflussmöglichkeiten, um den Menschen wie einen Computer „hacken“ zu können.

Kishore Mahbubani sprach von einem einzigartigen Ökosystem in den USA, das die besten Geheimdienste und besten Tageszeitungen der Welt umfasse. Der Politologe und Diplomat meinte damit Medien wie die New York Times und die Washington Post, von denen überall in der Welt viel abgeschrieben werde, so Mahbubani. Kommt diese „Kognitive Kriegsführung“ im Krieg in der Ukraine schon zur Wirkung?

Im Ukraine-Krieg erleben wir einen Kampf der Narrative: Die russische Seite vertritt das Narrativ eines großen, vaterländischen Krieges gegen die USA bzw. Nato, welcher durch die Ausdehnung der Nato erzwungen wurde. Von ukrainischer bzw. westlicher Seite wird das Narrativ vertreten, dass die Ukraine einen Verteidigungskrieg gegen einen unprovozierten und illegalen Angriff führt und man Russland stoppen muss, weil sonst ganz Europa den imperialen Ambitionen Putins zum Opfer fallen könnte.

Und was tragen die Geheimdienste dazu bei?

Inwieweit Geheimdienste in die Verbreitung dieser Narrative involviert sind, lässt sich aktuell schwer feststellen. Sicher ist, dass es in der Vergangenheit Netzwerke gab aus Geheimdiensten, Journalisten und Experten. Ein Beispiel dafür ist die „Integrity Initiative“, deren Aktivitäten 2018 durch geleakte Dokumente bekannt wurden. Dieses u. a. von der Nato sowie dem amerikanischen Außenministerium finanzierte Netzwerk führte damals eine ausgeklügelte Propagandaschlacht gegen Russland und versuchte dabei, das Land so negativ wie nur möglich darzustellen.

Der US-Enthüllungsjournalist Glenn Greenwald entwickelte den Begriff der „CIA-Stenografie“. „Die Geheimdienste haben die Wege der Kommunikation infiltriert“ so Greenwald. Schon viel früher haben die ehemaligen CIA-Mitarbeiter John R. Stockwell oder Frank Snepp in ihren Büchern enthüllt, wie sie Journalisten in führenden US-Medien anwarben oder systematisch desinformierten. Handelt es sich bei der „Kognitiven Kriegsführung“ denn um eine Fortsetzung dieser Machenschaften, nur auf einem höheren technologischen Niveau, oder um etwas gänzlich Neues?

In den Dokumenten zur Kognitiven Kriegsführung lässt sich eine solche „Infiltration“ nicht herauslesen. Wir wissen jedoch, dass es Enthüllungen über sogenannte Cyber-Armeen oder Propagandaabteilungen von Militärs gab. So berichtete das Wired-Magazin im Jahr 2009 von 27.000 PR-Mitarbeitern des Pentagon, die durch gezielte Propaganda die öffentliche Meinung im Sinne der US-Armee beeinflussten und dafür mit 4,7 Milliarden Dollar pro Jahr finanziert wurden. Auch die britische Armee unterhält eine solche Cyber-Armee, wie Darren Orf im Jahr 2015 in dem Magazin Gizmodo berichtete. Diese digitale Truppe bestünde aus circa 1500 „Facebook-Kriegern“, welche gemäß der Financial Times „komplexe und verdeckte Informations- und Subversionskampagnen“ durchführten.

Was bedeutet die Anwendung dieser „Kognitiven Kriegsführung“ für uns, für die Menschen, für die Öffentlichkeit in den Nato-Staaten?

Die wichtigste Erkenntnis in Bezug auf den Cognitive Warfare wird von den Experten der Nato selbst formuliert: „Die Kognitive Kriegsführung ist schon bei uns. Die größte Herausforderung ist, dass sie praktisch unsichtbar ist. Alles, was man bemerkt, ist ihr Einfluss, und dann … ist es oft schon zu spät.“ Ich setze mich daher sehr dafür ein, dass in dem Maße, wie der Einfluss der Kognitiven Kriegsführung zunimmt, auch die Aufklärung darüber voranschreitet. Es bedarf dringend eines Bewusstseins darüber, dass jeder Mensch tagtäglich im Visier der modernsten Manipulation der Geschichte steht und eines Wissens darüber, wie man diesen Einfluss erkennen und neutralisieren kann.

Was kann die Öffentlichkeit im Westen tun, um die „kognitive Kriegsführung“ leichter zu erkennen, zu durchschauen und damit außer Kraft zu setzen?

Dafür braucht es, wie schon angesprochen, das Bewusstsein darüber, dass dieser Kampf überhaupt stattfindet. Im nächsten Schritt versuche ich eine Art „Brille“ zu entwickeln, mit der man Propaganda leichter erkennen und damit neutralisieren kann. Dabei ist es sehr hilfreich, wenn man die Schwachstellen der einzelnen Techniken kennt. Beispielsweise versucht Kriegspropaganda oft, den Gegner zu entmenschlichen und tiefe Gefühle wie Mitleid, Hass oder Angst anzusprechen. Es ist daher möglich, auch in Zeiten modernster psychologischer Kriegsführung diese Techniken zu erkennen und sich entschlossen immer wieder gemeinsam für den Frieden und einen respektvollen Umgang miteinander einzusetzen. Wenn uns das gelingt, dann haben wir den Cognitive Warfare schon ein Stück weit überwunden.

Vielen Dank, Jonas Tögel.

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Über Ramon Schack (Interview) / Berliner Zeitung:

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