Gegen Landraub und Lithiumabbau in Jujuy – Aufstand in der Provinz und indigene Proteste in Buenos Aires
Im Juni peitschte Gerardo Morales, Gouverneur der Provinz Jujuy im Norden Argentiniens, eine Reform der Provinzverfassung durch, mit der soziale Proteste kriminalisiert, der Landraub indigener Territorien forciert und damit der Zugang internationaler Konzerne zu den Lithiumvorkommen erleichtert werden soll. Dagegen erhob sich ein breiter Widerstand. In der Provinz herrscht weiterhin Unruhe, und indigene Gemeinschaften trugen den Protest mit dem „Malón de la Paz“, der „Friedensinvasion“, bis nach Buenos Aires.
Die indigenen Gemeinschaften, die dort leben, wo das begehrte Lithium vorkommt, haben für ihr Land in der Regel keine privaten Besitztitel. Der Verfassungsreform zufolge können diese Territorien nun in Privatbesitz überführt und die Indigenen von ihrem gemeinschaftlich genutzten Land geräumt werden. Ein weiterer Schritt, Indigene zu vertreiben, um den Extraktivismus voranzutreiben. Diese Drohung und das undemokratische Vorgehen des Gouverneurs, der seine Reform unter Missachtung von Mitbestimmungsrechten und Fristen im Rekordtempo durchsetzte, führten in Jujuy zu einem Aufstand. Dessen Rückgrat waren zum einen die Lehrer*innen, die wegen der krassen Inflation und Verarmung in Argentinien einen Monat lang für höhere Löhne streikten und sich die Forderung nach Rücknahme der Verfassungsreform gleich mit auf die Fahnen schrieben, und zum anderen die Indigenen. Aber auch im öffentlichen Dienst wurde gestreikt, es gab breite Unterstützung aus der Bevölkerung und große Demonstrationen.
Das mit der Reform in der Verfassung festgeschriebene Verbot von Straßenblockaden führte zum Gegenteil. Jujuy wurde zum Hotspot der Blockaden. Besonders umkämpft war das Dorf Purmamarca, wo sich die Landstraßen nach Chile und Bolivien kreuzen. Hier kam es am 17. Juni zu einer heftigen Straßenschlacht mit vielen Festnahmen und Verletzungen, wovon auch Journalist*innen betroffen waren. Die argentinische Polizei übernahm die Praxis der Carabineros in Chile, mit Gummigeschossen und Gasgranaten auf Köpfe zu zielen. Ein 17-Jähriger und drei weitere Personen verloren ein Auge. Die Polizei nutzte Fahrzeuge ohne Nummernschilder und steckte festgenommene Menschen in Privatautos – eine Erinnerung an die Zeit der Diktatur und die gezielte Einschüchterung damals. Wohnungen wurden ohne gerichtlichen Beschluss durchsucht. Aber trotz der heftigen Repression weiteten sich die Blockaden aus. Auf 26 Landstraßen in der Provinz gab es Straßensperren.
Gegen die verfassungswidrige Reform organisierten Indigene aus mehr als 400 Gemeinden in Jujuy den dritten „Malón por la Paz“. Der Begriff war ursprünglich bei einem Marsch aus dem Norden Argentiniens nach Buenos Aires im Jahr 1946 entstanden, mit dem Indigene die Rückgabe ihrer von Europäer*innen und deren Nachkommen geraubten Territorien einforderten. Er leitet sich von „malok“ ab, was auf Mapudungun, der Sprache der Mapuche, Invasion bedeutet. 60 Jahre später gab es in Jujuy im Jahr 2006 den zweiten Malón mit ähnlichen Forderungen. Die Teilnehmer*innen des aktuellen, dritten Malón sammelten sich zunächst in der Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy und machten sich dann zu Fuß und mit Bussen nach Buenos Aires auf, wo die „Maloneres“ (geschlechtsneutraler Plural, im argentinischen Spanisch stark durchgesetzt, d. Red.) am 1. August ankamen. Auf dem 1800 Kilometer langen Weg durchquerten sie sechs Provinzen und nutzten dies für plurinationale Versammlungen.
Drei Forderungen
Gestartet war der Malón mit drei Forderungen: Der Oberste Gerichtshof soll über die Verfassungswidrigkeit der Provinzverfassungsreform befinden; das Nationalparlament soll in der Provinz Jujuy intervenieren und außerdem ein Gesetz über indigenes Gemeinschaftseigentum ausarbeiten und verabschieden. Angesichts der Repression sowie zahlreicher Bußgelder und Geldstrafen kam noch die Forderung dazu, die Verhaftungen und Verfolgung von indigenen Führungspersonen einzustellen.
Die Maloneres wurden in Buenos Aires denkbar schlecht behandelt. Auf ihre Forderung, mit Politiker*innen zu sprechen, gingen nur Parlamentsabgeordnete der peronistischen Unión por la Patria (von Cristina Kirchner) und der linken Frente de Izquierda ein. Andere Parteien und der Senat waren nicht zu sprechen. Die Stadtregierung verbot, Zelte aufzustellen, was die Polizei mit Gewalt durchsetzte. Sie ließ noch nicht einmal zu, dass sich Leute mit Plastikplanen vor dem Regen schützten. Auch Chemietoiletten wurden erst nach Tagen erlaubt. Ein Richter des Gerichtshofes hatte zunächst eine Audienz für zehn Personen zugesagt. Letzten Endes durfte nur noch eine Person eintreten, die aber nur bis zur Rezeption vorgelassen wurde, um dort eine Telefonnummer abzugeben. Vier Maloneros traten daraufhin für 50 Stunden in einen Hunger- und Durststreik und ketteten sich vor dem Gericht an. Auch dies brachte keine Wendung.
Erst am 18. August gab es ein Treffen mit Präsident Alberto Fernández. Er sagte eine Kommission zu, die die institutionelle Gewalt in der Provinz Jujuy untersuchen soll. Sie soll Anzeigen wegen Machtmissbrauch der Polizeikräfte in der Provinz gegenüber Demonstrierenden und Berichte internationaler Menschenrechtsorganisationen sammeln. Darüber muss sie dem Parlament und dem Obersten Gerichtshof nach spätestens 60 Tagen einen Bericht vorlegen. Die Maloneres bewerten dieses Dekret des Präsidenten zwar als Fortschritt, aber als völlig unzureichend, da damit nichts zu den drei Forderungen im Hinblick auf die Reform gesagt ist.
“Wir verändern die Realität”
Das Medienkollektiv „LaVaca“ hat die Maloneres in Buenos Aires begleitet und nach ihren Einschätzungen gefragt. Jorge Angulo, Koordinator des Rates der indigenen Völker Llankay Maki in Jujuy, sieht die Aktion auch ohne konkrete Zugeständnisse als Erfolg: „Das eigentliche Ziel, die Reform zu Fall zu bringen, ist die eine Sache. Dafür müssen wir weiter nach Strategien suchen. Aber das Wichtigste ist, dass die indigene Bevölkerung durch den Malón wieder zum politischen Akteur wird. Unsere geschulten Brüder und Schwestern können es mit jedem Beamten aufnehmen. Wir leisten nicht nur aus unseren Gemeinschaften heraus Widerstand, sondern verändern die Realität, in der wir leben müssen. Gegen die Entwurzelung setzen wir eine Politik der Verwurzelung. Wir bremsen nicht nur die Bergbauprojekte aus, sondern überlegen auch, wie wir uns entwickeln wollen. Wir haben das Ziel erreicht, Teil der Agenda zu sein – aber nicht als arme Indios, sondern als Akteure, die mitreden wollen, wie wir die Situation verändern können.“
Die Malonera Eloy verweist auf die Vernetzung, die sie bewirkt haben: „In allen Provinzen des Landes gibt es indigene Bevölkerungsgruppen, die schon vor der argentinischen Nation existierten. Durch den Malón konnten wir uns mit vielen von ihnen verbünden. An verschiedenen Orten finden plurinationale Versammlungen statt, um eine Konföderation der indigenen Völker aufzubauen.“ Geplant sind Besuche der übrigen Provinzen, zu denen es bereits einige Einladungen gibt. Jorge Angulo verweist auf Parallelen zu dem Prozess in Bolivien: „Durch den Malón weht in verschiedenen Provinzen und Dörfern ein frischer Wind. Auch wenn das Ausmaß ein anderes ist, findet meiner Meinung nach ein ähnlicher Prozess statt wie bei der Umwandlung des bolivianischen Staates in einen plurinationalen Staat. Auch da gab es nicht nur einen Regierungswechsel, sondern es entstand auch eine neue Form, wie die indigene Bevölkerung zu einem politischen Faktor wurde. Wir befinden uns auf diesem Weg. Dieser Prozess vertieft sich mit dem Malón, aber er hat schon vor vielen Jahren angefangen.“
“Wir werden es weiter versuchen”
Dulce, eine weitere Teilnehmerin des Malón, ist weniger optimistisch. Sie setzt auf einen weiteren „Jujeñazo“, einen erneuten Aufstand in Jujuy. Sie hofft, dass die Veröffentlichung der Kommission die Leute aufrüttelt: „Wenn die Untersuchung dieser Kommission ans Licht kommt, findet hoffentlich ein neuer Jujeñazo statt und bringt die Reform zu Fall. Die derzeitigen politischen Machthaber treffen immer irgendwelche Absprachen, es gibt immer irgendwelche Geschäfte, jemand schuldet jemandem einen Gefallen, also wird die Reform vorerst leider nicht kippen. Ich glaube aber, wenn alles, was in Jujuy passiert ist, aufgedeckt wird, die Misshandlungen, die Schläge, die Verletzungen, die Verfolgungen, und die breite Bevölkerung erfährt, was alles passiert ist, dann wird sie sich wieder erheben. Dekrete und Gesetze haben wir haufenweise, aber nur das Volk wird die Reform zu Fall bringen. Und zwar indem es sich wieder erhebt. Wir haben so viele Generationen lang versucht, uns von den neuen Staaten zu befreien, die sich auf unserem Territorium befinden, dass eine weitere kämpfende Generation das nicht ändern wird. Aber was auch immer geschieht, wir werden es weiter versuchen.“
Alle Zitate aus LaVaca. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 469 Okt. 2023, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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