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Deeskalation aktiv angehen

Ein Denkanstoß: Gründe für und Elemente eines Strategiewandels des Westens für den Krieg in der Ukraine

Seit gut 20 Jahren beobachten wir in der internationalen Politik eine Regression hin zu einer auf militärische und ökonomische Gewalt gestützte national-orientierte Machtpolitik. Sie geht mit der Bereitschaft einher, auch auf Krieg als Mittel der Entscheidungsfindung zurückzugreifen. Die Kriegsmittel wurden nach 1990 allen Behauptungen einer „Friedensdividende“ zum Trotz – weder in Europa noch in der Welt – wirklich abgebaut oder umfassend eingehegt. Vielmehr wurden die Chancen zum Aufbau einer europäischen Friedensordnung verpasst sowie die wenigen Begrenzungen der Kriegsmittel durch Rüstungskontrolle aufgekündigt. Damit einher ging, dass die Rivalität der Großmächte um Vorherrschaft zunahm. Diese überlagert heute wieder verstärkt lokale und regionale Konflikte und blockiert die unabdingbar notwendige Kooperation zur Bewältigung globaler Krisen und die Handlungsfähigkeit der dafür geschaffenen Institutionen und Foren.

Ein Ausdruck dieser regressiven Entwicklung in der internationalen Politik ist auch der – aufgrund der völkerrechtswidrigen Invasion der russischen Armee und der militärischen Gegenwehr der Ukraine – seit über eineinhalb Jahren tobende Krieg in diesem Land. Die Opferzahlen sind unbekannt, gehen aber wohl in die Hunderttausende; die Kriegsschäden sind immens, so dass schon jetzt von Wiederaufbaukosten in Höhe von 800 Mrd. Euro gesprochen wird; zur Flucht vor dem Krieg sind bisher rund 13 Millionen Menschen aus und in der Ukraine aufgebrochen; mehr als 18 Millionen Menschen in der Ukraine sind auf humanitäre Hilfe angewiesen; die seelischen Leiden und der Grad von Feindschaft, Hass und Verrohung sind nicht zu quantifizieren, aber tiefgreifend und nachhaltig und wirken deshalb heute schon und auch künftig verheerend auf das Zusammenleben der Menschen und Gesellschaften in den kriegsführenden und den mit ihnen verbündeten Ländern.

Es gibt nur wenige, die sich nicht ein Ende des Krieges in der Ukraine wünschen würden. Jedoch hat man den Eindruck, dass die politischen Entscheidungsträger so stark in einem „Weiter-so“ verfangen sind, dass ein aktives Bemühen nicht zu beobachten ist, diesen Krieg zu beenden. Es erscheint deshalb nochmals sinnvoll, die Annahmen einer Politik des „Weiter-so“ zum einen zu reflektieren und zum Zweiten im Hinblick auf deren Risiken zu bewerten. Zum Dritten wirft die Forderung nach einer diplomatischen Beendigung des Krieges die Frage auf, welche Möglichkeiten die eigene Regierung hätte, einen solchen Weg zu befördern, und welche Strategie und welche konkreten Schritte eine Chance für eine Kriegsbeendigung eröffnen könnten. Diesen drei Themen soll im Folgenden nachgegangen werden. Es soll ein erster analytischer und konzeptioneller Denkanstoß zur Diskussion sein. Die Bedingungen dafür, dass er politik-mächtig wird, können hier nicht diskutiert werden. Aber konzeptionelle Alternativen zur derzeitigen Politik sind gefragt, auch wenn deren Diskussion eher unerwünscht erscheint. Das Wesen der Demokratie besteht konstitutiv darin, sich gerade in verfahrenen Krisen mit anderen Wegen zu befassen und ggf. dafür zu werben.

Auch wenn viele ein Ende dieses Krieges herbeisehnen, so wird dieses Ziel dadurch erschwert, dass von den Vertretern der Kriegsparteien ganz unterschiedliche Bedingungen genannt werden, unter denen dieser Krieg zu einem Ende kommen dürfte. Die von der Ukraine und ihren westlichen Verbündeten vertretene Position, die sich fast durchgängig und kaum hinterfragt in den deutschen Leitmedien findet, geht davon aus, dass der Ukraine nur dann eine Zustimmung zu einem Kriegsende zugemutet werden könne, wenn ihre territoriale Integrität wiederhergestellt und diejenigen, die den Krieg begonnen haben und Kriegsverbrechen zu verantworten haben, zur Rechenschaft gezogen würden. Dabei gehe es neben der Wiederherstellung des legitimen Herrschaftsanspruchs der Ukraine über ihr Staatsgebiet auch um prinzipielle Fragen der Achtung von Völkerrecht und der Sanktionierung von dessen Missachtung sowie daraus folgend, dass Putins Aggression „nicht belohnt werden darf“. Zudem wird darauf verwiesen, dass Putin in seinen Veröffentlichungen in Anlehnung an großrussische Imperiums-Vorstellungen noch viel weiterreichende Pläne formuliert habe. Neben Moldawien werden deshalb die baltischen Staaten und Polen als nächste Opfer ausgemacht. Es gälte folglich, jetzt eine Brandmauer gegen weitere Invasionen zu errichten, was eine massive eigene Aufrüstung rechtfertigen soll und vereinzelt bereits zu der Forderung geführt hat, eine Demilitarisierung Russlands so weit vorzusehen, dass solche Invasionen nicht mehr möglich seien. Auch ein Regierungswechsel oder ein Regime-Wechsel werden dafür für wünschenswert und teilweise für notwendig gehalten. Ein de facto und späterer de jure NATO-Beitritt der Ukraine oder auch deren Re-Nuklearisierung werden ebenfalls als Strategien diskutiert. (Klein/Major, SWP-Aktuell Nr.44 Juni 2023)

Nicht tragfähige Annahmen

Dieser Position liegen als Annahmen zugrunde, dass

(1) Putin nicht zu Verhandlungen über einen Rückzug bereit ist und deshalb

(2) die territoriale Integrität der Ukraine in den Grenzen von Januar 2014 nur durch den Einsatz militärischer Gewalt zu erreichen sein wird – sei es entweder

(a) durch Rückeroberung oder sei es

(b) durch so hohe Kriegskosten für Russland, dass Putin

(b.1) doch noch zu Verhandlungen über einen Rückzug bereit ist oder

(b.2) von Gegnern aus dem Machtapparat oder durch eine Rebellion der russischen Bevölkerung gestürzt wird.

Als weitere Annahmen sind zu nennen, dass

(3) für die Ukraine mit Unterstützung der westlichen Alliierten ein militärischer Sieg für möglich gehalten wird und dass

(4) Russlands Führung dann einsichtig genug ist, eine militärische und politische Niederlage hinzunehmen, ohne noch mehr Waffen oder gar ihre Massenvernichtungswaffen als weitere Eskalationsmittel einzusetzen.

Alle vier Annahmen sind höchst fragwürdig.

Die erste Annahme widerspricht den Erfahrungen bisheriger Kriegsbeendigungen, die letztlich bis auf wenige Ausnahmen immer mittels Verhandlungen erfolgten. Dies macht deutlich, dass den meisten Kriegsparteien Kosten-Nutzen- und vielleicht auch moralische Abwägungen nicht fremd sind, die dann in eine Verhandlungsbereitschaft einmünden können. Die Festlegung, dass der Gegner nicht zu Verhandlungen bereit sei, verbaut zudem axiomatisch einen diplomatischen Weg. Dies erweist sich in der Folge als nicht friedensförderlich, sondern eher als Krieg verlängernd und Krieg rechtfertigend. Betrachtet man die Politik der westlichen Länder, dann muss der Eindruck entstehen, dass die westliche Seite derzeit gar nicht ernsthaft verhandeln will – sei es aus Solidarität mit der Ukraine und deren Kriegszielen, sei es wegen fehlender Strategien und Konzepte. Dann allerdings erweist sich die Aussage, dass Putin nicht verhandeln wolle, als leere Behauptung, da dessen Verhandlungswille noch gar nicht ausgetestet werden konnte. Die Behauptung der westlichen Staaten verweist vielmehr vor allem auf Versäumnisse der eigenen Politik und stellt als neue Anforderungen an diese, den politischen Willen zu Verhandlungen sowie geeignete Strategien und Konzepte zu entwickeln.

Die zweite Annahme, die von einer militärischen Rückeroberung aller von Russland besetzten Gebiete ausgeht übersieht, dass ein militärischer Sieg der Ukraine sich auch aus der Sicht von US-amerikanischen Geheimdiensten mehr und mehr als politisches Wunschdenken erweist. Selbst zu Beginn dieses Herbstes war die so genannte Frühjahrsoffensive der Ukraine noch nicht vorangekommen. Vielmehr beobachten wir seit fast einem Jahr einen höchst verlustreichen Stellungs- und Abnutzungskrieg, vor dem nun auch der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyi in einem Interview mit dem britischen Economist gewarnt hat. Der amerikanische Joint Chief of Staff, General Mark Milley, hatte schon im November 2022 festgestellt, dass die Kriegsziele nicht militärisch zu erreichen sein werden. Daran werden auch weitere und neue Waffenlieferungen an die Ukraine nichts ändern. Aber auch die Annahme mittels des Einsatzes militärischer Gewalt die Kriegskosten Russlands derart ansteigen zu lassen, dass Putin sich zu Verhandlungen gezwungen sähe oder er gar gestützt würde, verkennt den Unterschied an Ressourcen, über die Russland im Vergleich zur Ukraine verfügt, solange nicht der Westen selbst mit eigenen Truppen und Waffen in den Krieg eingreift. (1) Erst jüngst wurde bekannt, dass Russland seine Militärausgaben für 2024 auf 106 Mrd. Euro (von ca. 82 Mrd. Euro 20221) erhöhen will. Dagegen ist die westliche Unterstützung für die Ukraine sowohl durch die USA wegen der Blockade der Republikaner im Kongress als auch durch die Uneinigkeit in der EU mehr und mehr ungewiss. Zudem erscheint die Machtstellung Putins – auch angesichts der diktatorisch durchgesetzten Zerstörung des politischen Raums und der damit einhergehenden Entpolitisierung der russischen Bevölkerung – kaum gefährdet. Dem dient auch die propagandistische Überhöhung seiner Politik als anti-westlich sowie die von vielen Russland-Kenner*innen angeführte Leidensfähigkeit der russischen Bevölkerung, wenn es – angeblich – um die Existenz Russlands geht. Aber auch Hoffnungen auf eine Revision der Putin‘schen Politik durch Rebellion der russischen Machteliten haben sich bisher als nicht begründet erwiesen, wie exemplarisch das Scheitern des Aufstandes der Wagner-Gruppe und die Ausschaltung ihrer Führung zeigt. Gar ein Sturz Putins von außen, wie es z.B. den USA mit den Stürzen Mossadeghs im Iran vor 70 oder Allendes in Chile vor 50 Jahren gelang, ist einerseits praktisch kaum vorstellbar, andererseits völkerrechtlich nicht abgedeckt und schließlich mit einem nicht vertretbaren Eskalationsrisiko behaftet, so dass eine solche Option niemand ernsthaft in Erwägung ziehen darf.

Die dritte Annahme eines militärischen Sieges der Ukraine mit westlicher Unterstützung ist angesichts der oben bereits benannten Probleme bei der weiteren Bereitstellung finanzieller Ressourcen für die Ukraine, einer aufkommenden so genannten Kriegsmüdigkeit der westlichen Gesellschaften höchst fragwürdig. Anders sähe dies aus, wenn die NATO in den Krieg eingreifen würde, aber dem stehen die klaren Festlegungen der wichtigsten westlichen Alliierten entgegen, sich nicht selbst oder gar die NATO in diesen Krieg hineinziehen zu lassen. Zudem würde dies das Eskalationsrisiko dramatisch ansteigen lassen.

Die vierte Annahme geht schließlich davon aus, dass Putin im Falle einer militärischen oder politischen Niederlage auf eine weitere Eskalation verzichten wird. Diese Annahme missachtet die sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse über Eskalationsdynamiken: für den russischen Präsidenten kann niemand dessen Bereitschaft zum Einsatz von Atomwaffen – zunächst gegen die Ukraine – ausschließen, wenn eine Lage droht, die er als Niederlage begreift. Für ihn kann sein politisches und physisches Überleben von einem Sieg oder was er als solchen bezeichnen will abhängen. Dass er dann bereit sein könnte, irrational, d.h. selbstzerstörerisch im Sinne der Abschreckungslogik zu handeln, und die russischen Institutionen ihn nicht aufhalten können, hat er mit seiner Entscheidung zum Krieg im Februar 2022 bereits gezeigt.

Obwohl also alle vier Annahmen, auf denen die derzeitige Politik aufbaut, alles andere als tragfähig sind, halten die Kriegsparteien daran fest und ist deshalb ein Ende des Krieges nicht abzusehen. Noch ist nicht erkennbar, dass sie und ihre Verbündeten davon abgerückt sind, die Entscheidung mit militärischen Mitteln zu suchen. Noch halten beide Kriegsparteien an dem Ziel eines militärischen Sieges fest.

Nicht verantwortbare Folgen

Über die Fragwürdigkeit der Annahmen hinaus, die einer Strategie eines militärischen Siegfriedens zugrunde liegen, muss sich verantwortungsvolle Politik auch hinsichtlich der Folgen des eigenen Handelns befragen lassen. Diese Offenheit vermisst man – ganz im Gegensatz zur Debatte über den Krieg im Nahen Osten – in der öffentlichen Debatte insbesondere im politischen und medialen Raum, aber auch in gesellschaftlichen und kirchlichen Institutionen. Die Debatte – wenn man denn davon sprechen mag – ist vielmehr davon gekennzeichnet, kritische Rückfragen zu marginalisieren, zu diskreditieren oder gar zu unterdrücken.

Die erste Frage, die der Krieg in der Ukraine jedoch angesichts der Opfer, Zerstörungen und Folgen provoziert, lautet, ob heute noch militärische Mittel geeignet sind, die damit verbundenen Ziele überhaupt zu erreichen. Wir haben das Zeitalter der Kabinettskriege mit Entscheidungen durch eine Schlacht längst hinter uns gelassen und sind – spätestens seit dem amerikanischen Bürgerkrieg 1861-65 – in das Stadium des totalen Krieges und seit einigen Jahren auch in das Stadium des hybriden Krieges eingetreten. Krieg hat aufgehört, die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln oder gar der letzte Ausweg (last resort) zu sein. Moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften sind, da sie nur bedingt territorial, vor allem aber durch soziale Beziehungen konstituiert sind, strukturell nicht militärisch verteidigbar. Der letzte Ausweg im Atomzeitalter ist vielmehr die Diplomatie, um politische Ziele zu erreichen.

Sieht man von dieser prinzipiellen Fragestellung ab, dann bleibt im Fall des Krieges in der Ukraine die Frage der Eskalationsgefahr zu beantworten. Da beide Seiten einen militärischen Sieg anstreben und nur diesen als Erfolg verstehen, ist seit Kriegsbeginn im Februar 2022 eine langsame, aber stetige Eskalation des Krieges und der Kriegsführung zu beobachten, bei der die Ukraine nur aufgrund der massiven Unterstützung durch westliche Länder, allen voran den USA, Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs mithalten kann. Die Eskalation besteht dabei zum einen in der Quantität und Qualität der Waffen, deren Funktionsbestimmung, Zerstörungsfähigkeiten (Letalitätsgrad) und Reichweite, zum Zweiten im Einsatz völkerrechtlich geächteter Waffen (Streubomben) und zum Dritten in den Zielen militärischer Angriffe, die sich völkerrechtswidrig auch gegen die zivile Infrastruktur richten, wobei selbst vor der Inkaufnahme von Katastrophen nicht haltgemacht wird (Kachowka-Staudamm; Beschuss des AKWs Saporischschja; Hungersnöte im Globalen Süden). Als vierte Form der Eskalation ist die Ausweitung des Kriegsgebietes über die Ukraine hinaus auf Russland selbst, dritte Staaten wie z.B. Weißrussland sowie internationale Gewässer und Lufträume zu nennen.

Obwohl die Aussichtslosigkeit und die Kosten der Siegoptionen auf der Hand liegen und die Eskalationsrisiken allen bewusst sind, ist dennoch ein Ende der Eskalation nicht in Sicht, da beide Seiten an ihrer Siegoption festhalten: die westlichen Staaten könnten sich deshalb absehbar dem Dilemma ausgesetzt sehen entscheiden zu müssen, ob sie nicht doch mit eigenen Truppen zugunsten der Ukraine eingreifen oder diese faktisch fallen lassen müssen, was politisch derzeit nicht vorstellbar ist. Für den russischen Präsidenten kann sein politisches und physisches Überleben von einem Sieg abhängen, den er versuchen könnte, auch mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen zu erzwingen. Wie eine westliche Reaktion darauf aussehen könnte, wurde vom US-amerikanischen Präsidenten schon angedeutet. Sie wird gemäß der der Eskalationslogik eigenen Strategie eines „Beendens durch Übertrumpfen“ eine stärkere Reaktion sein müssen in der Hoffnung, damit die andere Seite zur Vernunft und Einsicht zu bringen. Da die russische Antwort auf die westliche Reaktion derselben Logik folgen muss, um nicht als Schwäche oder Nachgeben gedeutet zu werden, mag man sich den weiteren Fortgang nicht ausmalen. Was jeweils für jede Kriegspartei zunächst als rational erscheinen mag, ist letztlich für die Ukraine, Russland und ganz Europa nur zerstörerisch.

Politische Kräfte, die diese Logik zu durchbrechen in der Lage sind, lassen sich derzeit weder in Russland noch in den westlichen Ländern ausmachen. Vielmehr werden überall alle Zweifel beiseitegeschoben und am „Weiter-so“ festgehalten. Die Eskalation wird also weitergehen.

Notwendig: Deeskalation

Wenn es zutrifft, dass die dem aktuellen Handeln zugrundeliegenden Annahmen kaum tragfähig sind und die skizzierten Folgen der derzeitigen Politik (verlustreicher Abnutzungskrieg; Hineingleiten in eine Dilemmasituation; Eskalationsgefahr) als wahrscheinlich angesehen werden müssen, dann erscheint nichts dringlicher als ein schnelles Ende dieses Krieges anzustreben – insbesondere angesichts der schon erbrachten und noch absehbaren menschlichen Opfer, der materiellen Schäden und der immateriellen Folgen dieses Krieges sowie der Gefahr weiterer Eskalationen.

Die Lage ist dramatischer als 1962 in der Kuba-Krise, als mit den USA und der Sowjetunion zwei Atommächte die Welt an den Abgrund eines Atomkrieges geführt hatten, weil es dieses Mal – angesichts der schon erbrachten Opfer – kaum Aussichten auf ein Zurück gibt. Dennoch sind Wege eines Zurück dringender denn je. Ein „Weiter-so“ bedeutet angesichts der Militär- und Ressourcenpotentiale der beiden Kriegsparteien und der Machtverhältnisse in Russland, dass der Ukraine und ihren Verbündeten im günstigsten Fall ein jahrelanger und opferreicher Stellungs- und Abnutzungskrieg bevorsteht, der von den umkämpften Gebieten allenfalls „verbrannte Erde“ übriglassen wird und fortwährend ein hohes Eskalationsrisiko beinhaltet. Ein „Weiter-so“ trägt für die Ukraine, Russland, ganz Europa und die Welt ein nicht vertretbares Risiko einer selbstgemachten Katastrophe in sich. Deshalb muss dringend deeskaliert werden.

Dabei bedeutet Deeskalation nicht die Preisgabe der Ukraine und ihrer rechtmäßigen Ansprüche. Vielmehr geht es zuerst darum, militärische Gewaltanwendungen einzustellen, den Konflikt zu entmilitarisieren und durch Verhandlungen zu regeln. Der US-Außenminister hat bereits auf den anderen Weg verwiesen, wenn er davon sprach, dass die vollständige territoriale Integrität der Ukraine diplomatisch erreicht werden muss und auch aus dem Umfeld des NATO-Generalsekretärs sind ähnliche Einschätzungen bekannt geworden. Deutschland selbst liefert ein Beispiel für eine solche zwar schmerzliche, aber letztlich erfolgreiche Option: es hat – die realen Machtverhältnisse in Europa 40 Jahre lang berücksichtigend – 1990 die Wiedervereinigung auf diplomatischem Wege erreicht.

Für Verhandlungen bereit sein und Verhandlungen anstreben

Das Potential zu deeskalieren liegt bei allen Kriegsparteien, insbesondere aber bei Russland, das diesen Krieg sofort beenden und sich zurückziehen könnte. Es ist und bleibt aufgefordert, das sofort zu tun. Realpolitisch ist aber nicht zu erwarten, dass diese Appelle im Kreml ankommen. Deshalb müssen auch Dritte in diesem Sinne tätig werden – und sie werden tätig. Da der Krieg globale Folgen hat, gibt es in der internationalen Staatengemeinschaft derzeit erste Schritte, ein Ende des Krieges zu erreichen. Neben bilateralen Bemühungen sind die multilateralen Zusammenkünfte in Kopenhagen, Dschidda und jüngst in Malta zu nennen, wo sich über 60 Staatenvertreter getroffen haben, um nach Wegen für ein Ende des Krieges zu suchen. Noch finden diese Sondierungen ohne Russland statt und sie haben noch zu keinem erkennbaren Ergebnis geführt. Eine Verurteilung des Angriffs und die Aufforderung einer schnellen Beendigung des Krieges durch die große Mehrheit der Staaten in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gab es schon im März 2022 (A/RES/ES-11/1) und wieder im Februar 2023 (A/RES/ES-11/6).

Forderungen nach Diplomatie und Verhandlungen zu diffamieren und zu diskreditieren, verbietet sich deshalb von selbst, auch wenn eine solche Initiative auf Annahmen aufbaut, die kritisch überprüft werden müssen. In der Abwägung möglicher Risiken eines „Weiter-so“ im Vergleich zum Versuch einer Verhandlungslösung spricht jedoch vieles dafür, es wenigstens einmal zu versuchen.

Dies bedeutet, eine eigene Strategie zu entwickeln, die der Diplomatie eine wirkliche und ernsthafte Chance einräumt. Sie muss das Interesse beider Kriegsparteien an einer Verhandlungslösung wecken und befördern. Dabei sind bisherige Erfahrungen zu berücksichtigen, die zeigen, dass bei einer militärischen Pattsituation, die gemeinhin als mutual hurting stalemate bezeichnet wird, nur dann ein Ausweg gefunden werden kann, wenn zum einen beide Seiten ein Ergebnis vorweisen können, das von ihren Eliten und in ihren Gesellschaften als gesichtswahrend eingeschätzt wird und zum anderen ein Missbrauch der Verhandlungen als Regenerationsphase vor einem erneuten Waffengang durch eine oder beide Kriegsparteien ausgeschlossen werden kann. Es braucht folglich für beide Kriegsparteien Garantien Dritter, dass z.B. eine Waffenruhe dauerhaft eingehalten wird.

Statt nur immer wieder mit Verweis auf den jeweiligen Gegner festzustellen, dass derzeit Verhandlungen nicht möglich sind, sind zwei Aufgaben anzugehen.

Zum einen sind Strategien und Verfahren für Verhandlungen auszuarbeiten sowie die inhaltlichen Positionen dafür zu bestimmen, um dann die richtigen Schritte unternehmen zu können, wenn man ein Fenster der Gelegenheit für Verhandlungen geöffnet hat. Hierzu gibt es bereits eine Vielzahl diskussionswürdiger Vorschläge (vgl. die Zusammenschau von Martina Fischer, Deutschland-Archiv, Juli 2023; Wolfgang Ischinger, Tagesspiegel 12.03.2023 (Paywall); Peter Brandt u.a., Berliner Zeitung 09.09.2023). Sie müssten von der Politik aufgegriffen werden. Insbesondere die interne Kommunikation und Abstimmung zwischen den unterstützenden Vier (USA, D, F, GB) in Abstimmung mit den anderen NATO-, EU- und OSZE-Staaten erscheint dabei zentral. Ein weiteres Scheitern wie im März 2022, als die Ukraine und Russland bereits verhandelt haben, darf es nicht geben.

Zum Zweiten stehen alle Dritte – sowie wenn möglich auch nicht-staatliche Akteure in den Kriegsparteien – vor der Aufgabe, ernsthaft nach Wegen zu suchen, die staatlichen Vertreter der Kriegsparteien vom Verhandlungsweg zu überzeugen und dazu zu drängen. D.h. es muss deutlich gemacht werden, dass sie durch Verhandlungen mehr gewinnen als verlieren können. Dies müsste für den Westen im Hinblick auf die Ukraine leichter möglich sein als im Hinblick auf Putins Russland. Dies auch deshalb, da die ukrainische Führung inzwischen erkennen muss, dass in den USA und in der EU die Bereitschaft für eine Unterstützung brüchiger wird und bei einem möglichen Wahlsieg Trumps seitens der USA völlig zum Erliegen kommen könnte. Die Leistungen der USA, darin sind sich alle einig, wird die EU nicht ersetzen können. Dies berücksichtigend, könnten Verhandlungen für die Ukraine doch eine Perspektive bieten zu retten, was zu retten ist.

Es muss also vor allem intensiv überlegt werden, welche einseitigen, bilateralen und multilateralen Schritte von westlichen Staaten unternommen werden können, um insbesondere Putin an Verhandlungen zu interessieren. Eine ethisch-normative Abwägung könnte dies letztlich gerechtfertigt erscheinen lassen, wenn dadurch noch viel Schlimmeres zu verhindern ist. (Vgl. Olaf L. Müller 2022) Aus realistischer Sicht ist es ein Gebot der politischen Klugheit, die realen Machtverhältnisse anzuerkennen, zumal es dem Westen in der Vergangenheit nicht fremd war, sich opportun auf Verhandlungen mit Kriegsgegnern, autokratischen Herrschern und Kriegsverbrechern einzulassen.

Verhandlungsmomentum aktiv erzeugen

Da die USA der zentrale Akteur auf westlicher Seite sind und die Rolle Deutschlands nur in der multilateralen Abstimmung mit den USA und den anderen westlichen Staaten zum Tragen kommen kann, stellt sich die Frage, was zu tun folglich die Bundesregierung innerhalb der EU und innerhalb der NATO fordern sollte, um Verhandlungen ernsthaft möglich werden zu lassen. Es ist offensichtlich, dass ein solch faktischer Strategiewandel zunächst einmal voraussetzt, das Ergebnis und die Perspektiven der bisherigen Strategie zu überprüfen, die Diskussion über Alternativen ernst zu nehmen und vom gesinnungsethischen Verteidigungsbellizismus (Olaf L. Müller 2002) Abstand zu gewinnen. Eine Strategie, die aktiv zu Verhandlungen beitragen will, muss von einer neuen Informationspolitik und einer umfassenden Kommunikation begleitet werden, die für diese Strategie in den Bevölkerungen Zustimmung zu gewinnen versucht. Dies wäre auch im Sinne der Erkenntnis des ehemaligen Bundespräsidenten Heinemann, die besagt, dass der Frieden und nicht der Krieg der Ernstfall sei.

Nachstehend sind einige Schritte aufgeführt, die als sinnvoll erscheinen um ein Momentum für Verhandlungen zu befördern. Vollständigkeit wird nicht beansprucht, sondern vielmehr ein Weiterdenken erhofft.

Zum einen sollte der Westen die Vereinten Nationen als Informations-Agentur beauftragen, die Kriegskosten und Kriegsfolgen detailliert zusammenzustellen und für weitere mögliche Kriegsszenarien deren Folgen abschätzen zu lassen. Damit sollte das Bewusstsein geschaffen werden, dass eine Fortsetzung des Krieges für alle Kriegsparteien und viele weitere Staaten weitreichende Folgen haben wird.

Zum Zweiten sollte der Westen für eine Blauhelme-Mission der Vereinten Nationen werben und so bald wie möglich eine entsprechende Resolution im VN-Sicherheitsrat für eine solche VN peacekeeping-Mission einbringen. Diese muss an dem dann aktuellen Frontverlauf (Line of Control) eingesetzt werden, um eine Waffenruhe und einen Waffenstillstand sowie in der Folge davon den schrittweisen Rückzug der Truppen zu überwachen. Der Westen soll vorschlagen, die Blauhelm-Mission auf alle Fälle mit Truppen aus den BRICS-Staaten (ohne Russland, aber mit Brasilien, Indien, China und Südafrika) sowie weiteren Staaten aus Asien, Afrika und Lateinamerika (wie z.B. Südkorea, Indonesien, Nigeria, Kenia, Argentinien, Chile, Mexiko) zu bestücken. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass keine der beiden Kriegsparteien es wagen wird, eine VN-Mission dieser Staaten zu missachten.

Zum Dritten wäre im Westen auf Strategien zur Einleitung und Ermöglichung von Verhandlungen zurückzugreifen, wie sie mit dem Konzept des Gradualismus vorliegen, welches z.B. schon von Kennedy gegenüber der Sowjetunion praktiziert wurde. Dieses Konzept sieht vor, zunächst einmal Vorleistungen zu erbringen und die Gegenseite aufzufordern, diese zu beantworten. Dieser Versuch sollte nicht beim ersten Scheitern abgebrochen werden, sondern es wären noch weitere einseitige Schritte anzukündigen und zu vollziehen. Erst wenn die Gegenseite nach mehreren einseitigen Schritten nicht reagiert, stellt man diese Vorleistungen ein. Die westlichen Staaten sollten deshalb überlegen und festlegen, welche einseitigen Schritte gegenüber Russland möglich sind, ohne die eigene Sicherheit und die Sicherheit der Ukraine fundamental zu gefährden. Zu denken wäre beispielsweise an einen Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen, den Verzicht auf die Lieferung von Streumunition an die Ukraine, den nachprüfbaren Verzicht auf die Bestückung der NATO-Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien oder den Abzug so genannter taktischer Atomwaffen aus den westeuropäischen NATO-Ländern und seitens der Ukraine die bedingungslose Freilassung einiger russischer Kriegsgefangener.

Zum Vierten müsste der Westen gegenüber Russland bekräftigen, die Ukraine dabei zu unterstützen, den zum Zeitpunkt der Dislozierung der VN-Mission gültigen territorialen Status quo jetzt und in Zukunft zur Not auch militärisch zu verteidigen, wenn die Mission der VN-Blauhelme dies nicht mehr zu garantieren vermag. Diese Festlegung impliziert jedoch auch, dass der Westen eine militärische Rückeroberung der russisch besetzen ukrainischen Gebiete nicht mehr unterstützt und von der Ukraine verlangt, dieses Ziel nicht mehr mit militärischen Mitteln zu verfolgen. Zugleich wird aber weiterhin die russische Besatzung als nicht rechtmäßig angesehen. Dass dies möglich und politisch wirksam ist, zeigen z.B. die USA und die Bundesrepublik Deutschland. Erstere haben die sowjetische Annexion der baltischen Staaten nie völkerrechtlich anerkannt, letztere hat selbiges gegenüber der DDR praktiziert. Bis heute erkennt die internationale Staatengemeinschaft die Besetzung der Westbank und die Annexion Ost-Jerusalems durch Israel 1980 sowie u.a. die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien nicht an.

Zum Fünften sollte der Westen darauf drängen, ein Set von miteinander verbundenen Verhandlungsforen anzuregen, da der Krieg mindestens fünf Dimensionen hat, für die Regelungen zu finden sind. Eine Befriedung wird nur zu erreichen sein, wenn

(a) der inner-ukrainische Konflikt zwischen der West- und der Ostukraine,

(b) der bilaterale Konflikt zwischen Russland und der Ukraine,

(c) der internationale Konflikt zwischen der NATO/EU und Russland sowie – zumindest indirekt und implizit –

(d) der Hegemoniekonflikt zwischen den USA und China/ Russland und letztlich auch

(e) die Autokratisierung Russlands und damit die Vertrauenswürdigkeit der russischen Regierung nach innen und außen adressiert werden.

Schließlich bleibt als sechste Aufgabe, von sich aus ein umfangreiches Verhandlungspaket vorzulegen und mögliche Regelungen vorzuschlagen, die der Komplexität der Konflikte, die hinter dem Krieg stehen, gerecht werden. Das bedeutet, Themen parallel zu verhandeln, eventuell in verschiedenen Gremien mit unterschiedlicher Besetzung, aber darauf zu achten, dass eine Rückkopplung gewährleistet ist (2). Dass es sinnvoll ist, anfangs den Schwerpunkt auf Verhandlungen zu legen und dafür Angebote zu machen, bei denen eine win-win-Lösung eher zu erwarten ist, versteht sich von selbst.

Dennoch muss ein westliches Verhandlungsangebot so ausgestaltet sein, dass dieses Putin nicht erlaubt, es einfach zu ignorieren, und das denjenigen Kräften im Kreml eine Durchsetzungschance verschafft, die den Krieg beenden wollen. Um möglichen Verhandlungen eine Erfolgsaussicht zu geben, wäre hinsichtlich substantieller Regelungen zu diskutieren, ob nicht Putin beim Wort zu nehmen wäre und das von ihm propagierte und als rote Linie charakterisierte Ziel, eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO zu vermeiden, als Verhandlungsangebot auf den Tisch kommen müsste. Dies würde seine – wenn auch vielleicht übertriebenen – Sicherheitsbedenken berücksichtigen und anerkennen, dass es auch internationale Sicherheitsgarantien für Russland gibt. Ein solches Angebot müsste gekoppelt werden an eine dauerhafte Stationierung der VN-Blauhelme (aus den oben genannten Staaten), was die Sicherheit der Ukraine gewährleisten würde, und mit einem Klärungsverfahren für den Umgang mit den umstrittenen Gebieten sowie einem umfassenden Vorschlag zur beidseitigen Rüstungsreduzierung mittels Rüstungskontrollabkommen.

Letztere sollten so angelegt sein, dass es keinen Anlass für russische Einkreisungs- oder Entwaffnungsängste gibt und dass sie zugleich die Bedrohungsvorstellungen der osteuropäischen NATO-Staaten entkräften. Die Frage des Status der besetzten Gebiete muss bis zu einer Klärung als offen angesehen werden. Dies knüpft nochmals an die Angebote an, die der ukrainische Präsident im März 2022 vorgelegt hatte. Damals war für die Ukraine ein Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft und ein Offenhalten des Status der Krim für die nächsten 15 Jahre denkbar.

Als Übergangslösung wäre für die besetzten Gebiete eine Treuhand-Verwaltung der Vereinten Nationen vorzuschlagen, die auch sicherstellt, dass der freie Zugang für Bürgerinnen und Bürger beider Staaten gewährleistet ist, um Verwandtschaftskontakte und Wirtschaftsbeziehungen zu ermöglichen. Schließlich müsste ein westliches Verhandlungsangebot eine schrittweise Lockerung der Wirtschafts- und Finanzsanktionen in Aussicht stellen, jeweils geknüpft an russisches Verhalten im Hinblick auf Rückzug von Truppen, Freilassung von Gefangenen, Aufklärung über verschleppte Menschen, Bezahlung von Kriegsschäden und Kooperation mit der VN-Treuhand-Verwaltung.

Annahmen und Möglichkeiten eines Strategiewandels

Ein solcher Strategiewandel des Westens scheint derzeit für viele noch unvorstellbar zu sein. Aber dass ein tiefgreifender Wandel in der internationalen Politik möglich ist, dazu sei nochmals auf Deutschland bzw. die Bundesrepublik Deutschland verwiesen. Sie gab in den 1960er Jahren aufgrund besserer Einsicht ihre gescheiterte Politik des Alleinvertretungsrechts auf, schlug einen – damals innenpolitisch heftig umstrittenen – Kurswechsel in ihrer Ostpolitik ein und erkannte faktisch die DDR als zweiten deutschen Staat sowie die Nachkriegsgrenzen an, was letztlich wesentlich zur Entschärfung des Ost-West-Konflikts beigetragen hat.

Die Wahl einer neuen Strategie des Westens geht von Annahmen aus, die hier benannt sein sollen. Zum einen lässt sie sich leiten von der Einschätzung, dass die Risiken der derzeitigen Politik zu hoch sind und man es deshalb mit dem hier skizzierten Weg ernsthaft versuchen muss, zu Verhandlungen zu kommen. Zum Zweiten baut sie darauf, dass Putin und die derzeitigen russischen Machteliten rational Kosten und Nutzen abwägen werden. Dies ist keinesfalls unbillig oder politisch naiv, da alle diejenigen ebenfalls von dieser Annahme ausgehen, die in Putins Drohungen mit Atomwaffen nichts Anderes als einen Bluff sehen, weil er um die Selbstschädigung beim Einsatz dieser Waffen weiß. Aber auch alle diejenigen, die durch eine Fortführung des Krieges auf eine Erhöhung der Kriegskosten setzen und deshalb ein Nachgeben erwarten, greifen schließlich auf das Bild von Putin als eines (zweck-)rationalen Akteurs zurück. Zu fragen ist jedoch dann, warum die Rationalitätsannahme nur im Fall von Kosten, nicht aber im Fall von gegenseitigem Nutzen gelten sollte. Andernfalls droht eine teure, sich schon heute abzeichnende und über Jahrzehnte andauernde Beschleunigung der Rüstungsdynamik wegen eines verschärften Sicherheitsdilemmas sowie das Scheitern aller Bemühungen, gemeinsame Sicherheit zu schaffen sowie die Erderwärmung und deren Folgen und andere drängende globale Krisen anzugehen. Zum Dritten baut eine solche Strategie auf der soziologischen Erfahrung auf, dass Machteliten, und so auch die russische Machtelite, nicht homogen sind, sondern in ihnen durchaus unterschiedliche Einschätzungen z.B. über die Aussichten eines Krieges und seiner Folgen für die eigene Gesellschaft und Stellung bestehen. Die Minderung äußeren Drucks kann die Möglichkeiten Putins abschwächen, nach innen und gegenüber dritten Staaten ein einheitliches Feindbild über den Westen zu konstruieren und zu instrumentalisieren. Es könnte zivilgesellschaftlichen Kräften in Russland Hoffnung geben. Dieser Strategiewechsel bedeutet zum Vierten, den Forderungen der Länder des Globalen Südens nachzukommen, den Krieg schnell diplomatisch zu beenden. Es würde auch zum Ausdruck bringen, die diplomatischen Bemühungen dieser Länder als wegweisend anzuerkennen und ihnen damit mehr Gewicht zu verleihen, was wiederum die Chancen auf Verhandlungen erhöhen würde. Dies wäre auf alle Fälle klüger, als sich letztlich von den Ländern des Globalen Südens zu einer Lösung drängen lassen zu müssen – einer angesichts der weltpolitischen Verschiebungen hin zu einer multipolaren Welt nicht unwahrscheinlichen Perspektive.

Bleibt festzuhalten: Riskanter als das heutige Vabanque-Spiel kann es nicht kommen. Deshalb bleibt der Westen – und damit auch die Bundesregierung – aufgefordert, eine Deeskalation auch in diesem Krieg jetzt aktiv anzugehen.

(1) Im Jahr 2022 gaben die NATO-Staaten 1.167,9 Mrd. Euro für Rüstung aus. Die NATO-Staaten ohne die USA kamen 2022 noch auf Ausgaben in Höhe von ca. 335 Mrd. Euro.

(2) Vgl. dazu die ausführliche Studie von Pfaffenholz, Thania et.al.: Negotiating an End to the War in Ukraine: Ideas and Options to Prepare for an Design a Negotiation Process, Genf: Inclusive Peace, Juli 2023. Die Studie liefert Ideen und Optionen für einen Verhandlungsrahmen sowie Hinweise auf praktische Schritte dazu, verzichtet aber auf Vorschläge und die Diskussion möglicher substantieller Regelungen für eine Kriegsbeendigung und die Schritte dahin.

Der Autor, Akad. Oberrat a. D., war bis 2019 an der Universität Tübingen am Institut für Politikwissenschaft im Bereich Internationale Beziehungen/Friedens- und Konfliktforschung tätig. Seine Schwerpunkte in Lehre und Forschung lagen in den Bereichen Europäische Sicherheit, Konfliktanalyse, Konfliktmanagement und Mediation, Rüstung und Abrüstung/Rüstungskontrolle sowie Ethik der internationalen Beziehungen und Friedensbildung. Seit 2015 ist er Mitglied der Steuerungsgruppe der Servicestelle „Friedensbildung Baden-Württemberg“. Mehrere Jahre war er Mitglied der Fachgruppe „Rüstungsexporte“ der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) sowie des AK Curriculum und Didaktik der Arbeitsgemeinschaft Friedens- und Konfliktforschung e.V. 2019 erhielt er (zusammen mit Kolleg*innen) den Landeslehrpreis Baden-Württemberg; außerdem ist er in der Lehrer*innen-Ausbildung tätig.

Über Thomas Nielebock / Gastautor:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

Ein Kommentar

  1. Martin Böttger

    Diese gründliche Ausarbeitung passt wie die Faust aufs Auge auf die Nachrichtenlage:
    https://overton-magazin.de/top-story/sobald-wir-die-russen-anrufen-werden-sie-sich-am-naechsten-tag-an-den-verhandlungstisch-setzen/
    Aber wer in Berlin schafft es noch, Wirklichkeit zur Kenntnis zu nehmen?

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