Ostdeutsche Erfahrungsschätze nutzen? Zunächst müsste ein Westbeauftragter ran! – Der Ostbeauftragte der Bundesregierung will die Lebensleistungen der Ostdeutschen sichtbarer machen. Unser Autor plädiert dagegen für nachholende Entwicklung aufseiten der Westdeutschen.

Laut einem Bericht von Anfang April steht der Ostbeauftragte der Bundesregierung, Carsten Schneider, aktuell vor großen Herausforderungen. Gemeint sind damit an erster Stelle die bevorstehenden Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern. Der MDR hat den Ostbeauftragten ein Jahr lang mit der Kamera begleitet, woraus eine Dokumentation mit dem Titel „Der Optimist“ entstanden ist. (verfügbar bis 5.3.2025)

In der Berliner Zeitung fürchtete Anja Reich Ende März vergangenen Jahres, dass wir uns einen neuen Ostbeauftragten suchen müssten. Hintergrund ihrer Befürchtung war, dass der Ostbeauftragte für ein Streitgespräch mit dem Bestsellerautor Dirk Oschmann die Wochenzeitung Die Zeit der Berliner Zeitung vorzog.

Reich hatte nach eigenen Angaben zuerst beim Ostbeauftragten angefragt. Dieser behauptet seinerseits streng nach Reihenfolge der Anfragen gegangen zu sein, und da wäre Die Zeit schneller gewesen. Bis heute steht Aussage gegen Aussage.

Dirk Oschmann, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig, möchte den Ostbeauftragten, den er auch Indianerbeauftragten nennt, ganz abschaffen. Dazu muss man wissen, dass es in Amerika wirklich einen Indianerbeauftragten gibt. Die zuständige Behörde in den USA heißt „Bureau of Indian Affairs“.

Oschmann ist einem breiten Publikum durch seinen im Februar 2023 erschienenen Bestseller „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ bekannt geworden. Nun ist der Osten und mit ihm die Ostdeutschen aber keine westdeutsche Erfindung, sie existieren wirklich. Was Oschmann eine Erfindung nennt, ist bei genauerer Betrachtung eine falsche Wahrnehmung der Ostdeutschen durch Westdeutsche. Will man an dieser falschen Wahrnehmung etwas ändern, bedarf es keines Ost-, sondern eines Westbeauftragten.

Was versteht der Ostbeauftragte unter einem „Erfahrungsschatz“?

Den „Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland“, kurz: „Ostbeauftragter“, gibt es seit 1998. Das Amt war anfangs im Bundeskanzleramt angesiedelt, später im Bundesinnenministerium. Noch am Tag seiner Wahl zum Bundeskanzler im Dezember 2021 ernannte Olaf Scholz Carsten Schneider zum Staatsminister und übertrug ihm das Amt des Ostbeauftragten, das seither wieder im Bundeskanzleramt angesiedelt ist.

Eine zentrale Aufgabe des Ostbeauftragten ist, das gesellschaftliche Miteinander zu stärken und die Einheit auf Augenhöhe, welche als „dauerhafte Aufgabe“ angesehen wird, zu vollenden. Die Lebensleistungen der Ostdeutschen sollen dabei sichtbarer und besser anerkannt werden. Dafür möchte man nicht nur, dass mehr Ostdeutsche in Führungspositionen kommen, sondern man will auch ihre Kompetenzen und ihren Erfahrungsschatz nutzen. So steht es auf der Internetseite des Ostbeauftragten.

Die Frage, warum dieser Erfahrungsschatz nicht schon längst gehoben wurde, beantwortet ein Sprecher des Ostbeauftragten auf Nachfrage so: „Bei der Formulierung auf der Website des Beauftragten der Bundesregierung für Ostdeutschland zum Erfahrungsschatz der Ostdeutschen, steht nicht die Annahme im Raum, dass diese Erfahrungen bisher nicht genutzt wurden.“ Vielmehr bestehe bei der Wertschätzung der Lebensleistung und der Nutzung des besonderen Erfahrungsschatzes für die gesellschaftlichen Herausforderungen noch großes Potenzial, so der Sprecher weiter.

Die Antwort seines Sprechers: „Die Ostdeutschen haben nicht nur den Zusammenbruch eines Landes erlebt, sie haben es erfolgreich geschafft, sich nach der Wiedervereinigung zurechtzufinden und einen bescheidenen Wohlstand aufzubauen“. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden gesellschaftlichen Wandels in vielen Bereichen brächten Ostdeutsche aus dieser Erfahrung wichtige Fähigkeiten mit, die sie in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen einsetzen könnten. Das sei mit Erfahrungsschatz gemeint, so der Sprecher.

Drei Formulierungen fallen mir ins Auge, die darauf hindeuten, dass man wirklich am verkehrten Ort gesucht hat. Das ist zum ersten das Wort „erlebt“. Sicherlich, die Mehrheit hat die friedliche Revolution in der DDR einfach nur erlebt. Nicht wenige haben sie aber aktiv gestaltet, was ein Unterschied ist. Die Menschen sind, soweit sie nicht das Land verlassen hatten, in Scharen auf die Straße gegangen, bis vor kurzem war dies noch schwierig gewesen. Und sie haben am eigenen Leib erlebt, was man heute als Selbstwirksamkeit bezeichnet: Das Vertrauen und die innere Überzeugung, schwierige oder herausfordernde Situationen meistern zu können – und das aus eigener Kraft heraus.

Die Ostdeutschen – anpassungsfähig und bescheiden?

Das zweite Wort, das mich aufhorchen lässt, ist „zurechtfinden“. Sich zurechtzufinden kann nicht schaden. Das wusste schon Einstein, als er meinte: „Man muss die Welt nicht verstehen, man muss sich nur in ihr zurechtfinden.“ Für mich klingt zurechtfinden vor allem nach anpassen. Die Fähigkeit, sich anzupassen, als Erfahrungsschatz zu bezeichnen, auf diese Idee wäre ich als Ostdeutscher nicht gekommen.

Der „bescheidene Wohlstand“ ist die dritte Formulierung, die mich stutzig macht. Bescheiden klingt hier nach einem Makel, denn er ist als Vergleich mit dem größeren materiellen Wohlstand im Westen gemeint. Bescheiden zu sein, ist aber nichts Schlechtes. Möglicherweise wäre der Ostbeauftragte, der selbst auch aus dem Osten kommt, besser beraten gewesen, er hätte sich beim erwähnten Streitgespräch mit der kleineren Berliner Zeitung beschieden, und das ganz unabhängig von irgendeiner Reihenfolge.

Vielleicht sollte man ganz von vorne anfangen und erst einmal die Frage beantworten, was genau ein Erfahrungsschatz ist. Konkret: Was genau sind Erfahrungen? In der Regel geht es um durch Wahrnehmung und Lernen erworbene Kenntnisse und Verhaltensweisen. Mit Lebenserfahrung ist die Gesamtheit aller Erlebnisse gemeint, die eine Person jemals hatte, einschließlich ihrer Verarbeitung.

Der größte Unterschied bei den Lebenserfahrungen in Ost und West ist die friedliche Revolution von 1989. Diese Erfahrung haben nur Menschen gemacht, die in der DDR gelebt haben. Diese räumliche Begrenzung hat innerhalb der deutschen Revolutionen ein Alleinstellungsmerkmal.

Weder die Revolution von 1918, auch bekannt als Novemberrevolution, noch die von 1848, die Märzrevolution, kannten eine solche räumliche Begrenzung. Auch unter Berücksichtigung, dass es 1848 noch keinen einheitlichen Nationalstaat gab. Einen solchen zu schaffen, war neben Pressefreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäußerung ein Ziel dieser Revolution.

Das Ziel war nicht die Einheit, sondern eine bessere DDR

Das Ziel der friedlichen Revolutionäre war nicht die deutsche Einheit, sondern eine bessere DDR, auch wenn viele das heute nicht mehr wissen. Niemand ist damals auf die Straße gegangen, weil er wollte, dass das eigene Land den Bach runtergeht. Genau dies ist aber geschehen, was ein Teil des „Erfahrungsschatzes“ der Ostdeutschen ist.

Dazu gehört ebenso die Erfahrung, dass das, was Regierung und Medien verlautbaren, mit der Realität oft nichts zu tun hat. Und auch, dass sich trotz Bürgerdialog (den es auch schon in der DDR gab) am 9. September 1989 in Grünheide bei Berlin das Neue Forum gründete. Der bekannte Aufruf des Neuen Forums beginnt mit dem Satz: „In unserem Land ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft (Regierung und Regierte – Anmerkung des Autors) offensichtlich gestört.“

Auch aktuell ist es mit der Kommunikation von Regierung und Regierten nicht zum Besten bestellt. Mehr als jeder zweite junge Erwachsene in Deutschland vertraut der Regierung nicht mehr, 45 Prozent misstrauen dem Parlament. Rund ein Drittel der Deutschen nannte die Bundesregierung gar als Quelle für Falschinformationen.

Nur 49 Prozent stimmen der Aussage zu, man könne den Medien vertrauen, wobei vor allem dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk immer weniger Vertrauen entgegengebracht wird. ARD und ZDF genießen zwar noch bei 66 Prozent der Westdeutschen größeres Vertrauen, aber nur bei 41 Prozent der Ostdeutschen. Und nur 40 Prozent der Deutschen glauben, ihre politische Meinung noch frei äußern zu können.

Viele Ostdeutsche haben ein Déjà-vu

Die bevorstehenden Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern sind insofern eine Herausforderung, als dass man nach den Ursachen für die desolate Lage im Land suchen müsste. Vielen Ostdeutschen kommen die Probleme bekannt vor. Nicht wenige haben – so wie ich – das Gefühl eines Déjà-vus, das nicht enden will. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass unser nun gemeinsames Land bald den Bach runtergeht.

Dies zu verhindern, wäre dann selbst für einen Ostdeutschen eine neue Erfahrung. Der Erfahrungsschatz der Ostdeutschen könnte dabei behilflich sein. Er müsste den Westdeutschen allerdings vermittelt werden, wofür es keines Ost-, sondern eines Westbeauftragten bedürfte.

Aus Erfahrung weiß ich aber auch um ein grundsätzliches Problem: Erfahrungen sind nur bedingt vermittelbar. Es kann also sein, dass der Westdeutsche bestimmte Erfahrungen einfach selbst machen muss.

Rumen Milkow, Jahrgang 1966, wuchs in Ostdeutschland auf. Er ist freier Autor, Journalist und Herausgeber. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

Anm. d. Extradienst-Redaktion: lesen Sie ergänzend auch “#MDRINVESTIGATIVSTÄRKEN – Offener Brief zu Kürzungen beim MDR”.

Über Rumen Milkow / Berliner Zeitung:

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