Lesen Sie mal das: Hanna Voss und Alexander Isele (Interview)/IPG-Journal: ‘Sich lediglich einen Hashtag auszudenken, reicht nicht’ – Die iranische Diaspora ist heillos zerstritten. Arash Azizi über das Scheitern der Proteste, den Einfluss aus dem Exil und den Umgang mit Reformern.” Den interviewten Professor von der Universität in South Carolina kenne ich nicht, kann also zu seiner politischen Einsortierung nichts beitragen. Aber zum Gesagten.

Seine Klage zur Organisationsunfähigkeit einer im weitesten Sinne emanzipatorischen Linken, oder noch breiter einer Gemeinsamkeit der Demokrat*inn*en, liesse sich auf jedes x-beliebige realkapitalistische Land genauso anwenden. Spezifisch iranisch ist allenfalls der Stress, dem Betroffene durch Leben im Exil oder inländisch in der Illegalität ausgesetzt sind. Die Fehler der iranischen Opposition, die er nach meiner beschränkten Kenntnis richtig beschreibt – welcher dieser Fehler wird hier im Zwergstaat Deutschland unter bürgerlich-demokratischer Herrschaft vermieden?

Ich kenne nicht wenige iranische Oppositionelle im deutschen Exil. Sie sind mir an Bildung überlegen. Bei der Intelligenz gelingt mir nur mühevoll das mithalten. Durch ihre Bekannt- und Freundschaft bin ich klüger geworden. Aber wir alle sind in unserer gegenwärtigen Sozialisation Kinder des real existierenden vom Neoliberalismus ausgerichteten Kapitalismus. Die asozialen Medien prägen uns individuell und gesellschaftlich. Das System will uns individuell, auf keinen Fall übertrieben kollektiv, wie es einstmals die Arbeiter*innen*bewegung war, als sie noch stark und mächtig war.

Der reale Kapitalismus hat bei weitem zu oft nicht vor der Anwendung des Faschismus zurückgeschreckt, um solcherart kollektivistische Gefahren vom System abzuwenden – und gerne auch mal hier und da zu vernichten. Die Differenzen der Herrschenden sind taktisch, ob es mal mehr oder mal weniger Repression sein soll. Menschenrechtliche Liberale z.B. meinen, dass nur die Freiheit und gesellschaftliche Vielfalt eine demokratische Legitimation für das System erhalten kann. Nicht selten verliert so eine Haltung die politische und gesellschaftliche Mehrheit, von Italien bis zum Iran. Urteilen Sie selbst, auf welchem Level wir uns hierzulande bewegen.

Die Fehler der iranischen Demokrat*inn*en machen deutsche Demokrat*inn*en jedenfalls ganz genauso. Deutlicher als bei der EU-Wahl mit 40 kandidierenden Listen ging es nicht. Es fehlt an materialistischen Analysen auf wissenschaftlichem Niveau – wenn es entsprechende Suhrkamp-Bücher geben sollte, sind sie eben so schlecht geschrieben, dass keins davon in einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen wird – warum emanzipatorische Kräfte im Kapitalismus der Gegenwart organisationsunfähig sind – und erst recht, wie diese Krankheit der Demokratie behandelt werden kann.

Meine individuelle Methode geht so: als Wahlkämpfer der Grünen begegneten mir viele gutwillige engagementbereite Menschen – solche, die Mitglied bei den Grünen werden wollten, und ebenso solche, die aus Enttäuschung woanders hin wollten (oftmals damals zur Linkspartei). Ich habe ihnen allen geraten, vorher mal eine Versammlung/öffentliche Sitzung zu besuchen, um sich einen eigenen persönlichen Eindruck zu verschaffen, wie es da zugeht. In der Regel ist mann/frau danach “geheilt”. Das ist seitdem nicht besser, eher schlimmer geworden, beschleunigt durch Corona-Lockdowns und die damit beschleunigte “Digitalisierung”, s.o. asoziale Medien. Das ist die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit. Das muss geändert werden. Aber wie? Zielsetzung-Analyse-Strategie-Aktionen sind die notwendigen Elemente für die, die daran was verbessern wollen. Das ist Arbeit, gelegentlich – allzu selten – auch Vergnügen. War es jedenfalls bei mir.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
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