Assange als Präzedenzfall: Sind Whistleblower, Journalisten oder Verleger „Verschwörer“? – Wikileaks-Gründer Julian Assange ist frei. Doch das US-amerikanische Spionagegesetz bedroht weiterhin Journalisten, Verleger und Whistleblower – weltweit.
Julian Assange ist frei. In einem sogenannten Plea Deal bekannte er sich in einem von insgesamt 17 Anklagepunkten, die die USA gegen ihn erhoben hatten, schuldig: der „Verschwörung mit einer Quelle zur Erlangung und Weitergabe von Informationen der nationalen Sicherheit“, „im Sinne der Anklage“.
Doch sind Whistleblower, Journalisten oder Verleger „Verschwörer“? Wurde hier nicht ein Präzedenzfall geschaffen, dessen Gefährlichkeit viel deutlicher benannt werden müsste?
Der Anklage der USA gegen Assange lag ein Spionagegesetz zugrunde, der sogenannte Espionage Act. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dieses Gesetz schon oft für den Versuch benutzt wurde, kritische Berichterstattung zu verhindern.
Ist Julian Assange ein Verschwörer? Die Geschichte des Espionage Acts
Das Gesetz wurde am 15. Juni 1917 während des Ersten Weltkriegs erlassen und wurde in der Folge gegen Tausende von Menschen eingesetzt, die sich gegen den Krieg und die Wehrpflicht aussprachen.
Im Jahr 1971 wurde es von der Nixon-Regierung im berühmten Verfahren um die Pentagon Papiers gegen den Analysten Daniel Ellsberg eingesetzt, der eine geheime Militärstudie über den Vietnamkrieg an die New York Times und die Washington Post weitergegeben hatte. Die Studie deckte Lügen über den Beginn und den Verlauf des Vietnamkriegs auf und zeigte, dass der Krieg ohne Wissen der Bevölkerung ausgeweitet und eigentlich schon als hoffnungslos erkannt worden war, während weiterhin Erfolge gemeldet und Soldaten in den Tod geschickt wurden. Die Veröffentlichung der Pentagon Papers veränderte die öffentliche Meinung über den Krieg und läutete das Ende des Vietnamkriegs ein.
Die Anklage gegen Ellsberg markierte das erste Mal, dass das umstrittene Gesetz gegen einen Whistleblower eingesetzt wurde, d.h. eine Person, die aus Gewissensgründen geheime Informationen an die Öffentlichkeit weitergibt. Das Verfahren wurde jedoch schließlich wegen Fehlverhaltens der Regierung eingestellt, nachdem mit Nixons Genehmigung in das Büro von Ellsbergs Psychiater eingebrochen wurde, um belastendes Material zu stehlen.
Die Nixon-Regierung wandte den Espionage Act außerdem gegen die New York Times an und versuchte, eine einstweilige Verfügung zu erwirken, um der Zeitung nach den ersten Veröffentlichungen die Publikation weiterer Teile der Pentagon Papers zu verbieten. Dies war der erste Versuch einer US-Regierung, eine Zeitung vor einem Bundesgericht zu zensieren. Das Gericht entschied sich jedoch im Interesse der Pressefreiheit gegen ein Veröffentlichungsverbot.
Pentagon Papers: US-Justizministerium vom „Verschwörungsansatz angetan“
Laut James Goodale, dem ehemaligen Anwalt der New York Times und Autor des Buches „Fighting for the Press“, der die NYT im historischen Fall der Pentagon Papers vertrat, ist das Justizministerium seit diesem Fall „von diesem Verschwörungsansatz angetan“.
Seit der Obama-Regierung 2009 hat die Anwendung des Espionage Act gegen Whistleblower dann stark zugenommen. Trump und Biden setzten die Verfolgung von Whistleblowern nach dem Espionage Act fort.
Die meisten von ihnen verbüßten eine Gefängnisstrafe, die nur ein paar Jahre betrug, da sie sich auf einen Plea Deal einließen. Manche konnten eine Gefängnisstrafe durch einen solchen Deal vermeiden (Thomas Drake) oder leben im Exil (Edward Snowden). Andere hingegen wurden zu langen Haftstrafen verurteilt (Chelsea Manning zu 35 Jahren, Joshua Schulte zu 40 Jahren).
Jameel Jaffer, Professor für Recht und Journalismus und geschäftsführender Direktor des Knight First Amendment Institute an der Columbia University, schrieb 2019 über den Espionage Act und die zunehmende Verurteilung von Whistleblowern: „Das Gesetz hebt alle Unterscheidungen auf, die in solchen Fällen relevant sein sollten, […] Es verkennt den Unterschied zwischen Whistleblowern und Spionen. Die mittlerweile routinemäßige Anwendung des Spionagegesetzes gegen die Quellen von Journalisten deutet darauf hin, dass auch die Regierung diesen Unterschied aus den Augen verloren hat.“
Allerdings ist es noch nie zu einer erfolgreichen Strafverfolgung eines Verlegers oder eines Journalisten gekommen. James Goodale warnte bereits 2019, als es Hinweise auf eine geheime Anklage gegen Assange gab, vor einer solchen strafrechtlichen Verfolgung wegen ihrer Bedeutung für die Pressefreiheit: „Bis heute hat es noch nie eine strafrechtliche Verfolgung für solche Handlungen gegeben […] Wenn die Anklage Erfolg hat, wäre das fast das Todesurteil für investigative Berichterstattung, die auf geheimen Informationen beruht.“
Ist die Veröffentlichung von Geheimdokumenten grundsätzlich illegal?
Es ist daher wohl kein Zufall, dass die grundsätzliche Bedeutung der Anklagen gegen Assange für die Pressefreiheit immer wieder durch verschiedene Behauptungen in Frage gestellt wird. Besonders häufig wird behauptet, dass die Veröffentlichung „geheimer Dokumente“ illegal sei und dass Wikileaks keinen ordentlichen Journalismus betrieben habe, da sie einfach alle Daten ohne Schwärzung online gestellt hätten.
Ein Beispiel ist die Einschätzung der ZDF-Korrespondentin Heike Slansky aus Washington am 25. Juni 2024: Vor allem Beschäftigte aus den Bereichen der Sicherheit und des Militärs seien über die Freiheit Assanges nicht erfreut, da „natürlich der Tatbestand die Wiedergabe von geheimen Dokumenten eine Straftat hier in diesem Land ist“. Des Weiteren seien einige Journalisten unzufrieden mit der Entscheidung, da Julian Assange aus Sicht einiger Kritiker nicht als Journalist zu betrachten sei, da er „eben komplett die Daten ungeschwärzt an die Öffentlichkeit gegeben“ hätte.
Mark Feldstein, ein preisgekrönter Journalist, Historiker und Professor an der University of Maryland, hat sich in seinem Gutachten, das er dem Gericht als Sachverständiger im Auslieferungsverfahren um Julian Assange im Jahr 2020 vorgelegt hat, ausführlich mit der Frage beschäftigt, ob es illegal sei, geheime Dokumente zu veröffentlichen.
In seinem Gutachten präsentierte er eine lange Liste von Beispielen bekannter journalistischer Veröffentlichungen der letzten Jahrhunderte, wie die Veröffentlichungen über die „Watergate-Affäre“, um nur ein Beispiel zu nennen, die alle auf geheimen Dokumenten beruhten. Er stellte auch mehrere Studienergebnisse vor, die alle zeigten, dass die Veröffentlichung von Geheimdokumenten im Journalismus „an der Tagesordnung“ sei.
Auf dem Belmarsh-Tribunal in Washington DC im Dezember 2023, resümierte Feldstein: „Die Strafverfolgung von Julian Assange ist ein Novum in der amerikanischen Geschichte. Die Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen ist dagegen nichts Ungewöhnliches, sondern etwas Alltägliches. Das ist seit den 1790er Jahren schon tausende Male passiert. Aber noch nie ist ein Verleger für das, was er veröffentlicht hat, ins Gefängnis geworfen worden.“ Daraus kann man schließen: Die Anklage gegen Assange ist ein bedrohlicher Präzedenzfall.
An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass die Anklagen nach dem Espionage Act nicht auf Verschlusssachen beschränkt sind, sondern im Prinzip für alle Informationen der „nationalen Sicherheit“ gelten. Der Menschenrechtsanwalt und Espionage Act-Experte Carey Shenkman, Mitautor von „A Century of Repression: The Espionage Act and Freedom of the Press“, sagte im Juni 2024: „Es muss sich nicht um militärische Geheimnisse, Codes oder streng gehütete Informationen handeln, sie müssen nicht einmal als geheim eingestuft sein. Es kann sich auch um Beweise für Folter, Kriegsverbrechen, Korruption oder Regierungskriminalität handeln.“
Ist Wikileaks unverantwortlich mit Daten umgegangen?
Auch der Vorwurf, Wikileaks habe keinen ordentlichen Journalismus betrieben, da Assange unverantwortlich mit Daten umgegangen sei, lässt sich so nicht halten. Zwar hat WikiLeaks die Depeschen des Außenministeriums tatsächlich unbearbeitet veröffentlicht. Allerdings erst, nachdem sie bereits von John Young auf seiner Website cryptom.org völlig ungeschwärzt veröffentlicht worden waren und dies bereits auf Twitter diskutiert worden war.
Dass es überhaupt dazu kommen konnte, lag letztlich daran, dass ein Reporter des Guardian ein Passwort zu einer verschlüsselten Datei mit den Dokumenten in einem Buch veröffentlicht hat. WikiLeaks wollte diese bereits veröffentlichten Informationen dann so schnell wie möglich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen und veröffentlichte sie deshalb auch unbearbeitet, was von seinen Medienpartnern in der Tat scharf kritisiert wurde.
Dies war jedoch weder das „Prinzip“ von Wikileaks, noch bezog sich die Anklageschrift hauptsächlich auf diese Veröffentlichungen: Nur drei der 17 Anklagepunkte betrafen ausschließlich diese Veröffentlichungen. Alle anderen Anklagepunkte zielten auf das gesamte von Manning geleakte Material, das ansonsten sorgfältig geprüft, bearbeitet und in Zusammenarbeit mit den großen Medien veröffentlicht wurde.
Was bedeutet Assanges Plea Deal für die Pressefreiheit?
Jetzt, wo Assange sich der „Verschwörung zur Erlangung und Veröffentlichung von Informationen zur nationalen Sicherheit“ schuldig bekannt hat, wie steht es da um die Pressefreiheit?
In der WikiLeaks-Pressekonferenz in Canberra, sagte Assanges Anwältin Jennifer Robinson, die Assange seit 14 Jahren rechtlich vertritt, dass diese Vereinbarung „kein Präzedenzfall ist, weil es sich nicht um eine Gerichtsentscheidung handelt“. Allerdings sei die Strafverfolgung an sich ein Präzedenzfall, der gegen den Rest der Medien verwendet werden könne.
Hinzu kommt die extraterritoriale Strafverfolgung der USA gegen unliebsame Journalisten oder Verleger: Assange ist Australier, er hielt sich in Großbritannien auf und war auch während der Veröffentlichungen nicht in den USA. Kurz nach der Gerichtsverhandlung warnte Jennifer Robinson daher gegenüber dem Guardian: „Die USA versuchen, eine extraterritoriale Gerichtsbarkeit über euch alle auszuüben, ohne euch den verfassungsmäßigen Schutz der freien Meinungsäußerung zu gewähren, und jeder, dem die freie Meinungsäußerung und die demokratische Rechenschaftspflicht am Herzen liegen, sollte sich dem widersetzen. Ich möchte alle, die sich für Julian Assange eingesetzt haben, ermutigen, sich auch weiterhin gegen diesen gefährlichen Präzedenzfall zu wehren.“
In einem Interview für Sky News am 27. Juni sagte Robinson: „Angesichts der Auswirkungen auf die Meinungsfreiheit und der abschreckenden Wirkung dieser Strafverfolgung sind wir nicht nur an einer Begnadigung für Julian interessiert, sondern auch an einer Gesetzesänderung, die sicherstellt, dass kein anderer Journalist auf diese Weise unter dem Espionage Act verfolgt werden kann“.
Auch der Menschenrechtsanwalt und Gründer des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) Wolfgang Kaleck sagte am 25. Juni dem ZDF, dass dieses Gesetz „eigentlich abgeschafft gehört“.
Raja Stutz verfolgt den Fall Assange seit Jahren und organisiert u.a. zusammen mit der Regisseurin Clara López Rubio (“Der Fall Assange: Eine Chronik“) regelmäßig Veranstaltungen, um darüber ins Gespräch zu kommen, zum Beispiel Dokumentarfilmvorführungen mit Diskussion im Berliner AcudKino. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
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