Die Ahrtalflut 2021 aus Betroffenen- und Mediensicht sowie Lehren für künftige Krisen – Kurzfassung der Studie
Auf einen Blick

Kommunikation ist ein Schlüsselfaktor für die öffentliche Verarbeitung von Krisen.

Die Flut im Ahrtal 2021 erreichte auch deshalb so katastrophale Ausmaße, weil Medien unzureichend in die Krisenkommunikation eingebunden wurden.

Wie manche Medien vor Ort aufgetreten sind und berichtet haben, wurde kritisiert.

Die Studie arbeitet Aspekte der Beziehung zwischen Journalist*innen und Betroffenen sowie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wahrnehmung der Berichterstattung heraus. Im Fokus: Sachgerechtigkeit, Empowerment und Emotionen.

Emotionen sollten stärker thematisiert, widersprüchliche Erwartungen an Journa­ lismus reflektiert werden.

Medien sollten systematisch ihr Potenzial als Instanz zur Förderung von Resilienz in Krisen ausbauen.

Allgemeiner Kontext zur Studie

Menschen in schwierigen Lebenslagen sind oft ein Medienthema. Doch wie soll man über sie berichten? Und wie, in welcher Rolle, sollte man ihnen als Journalist*innen begegnen? Diese Studie verhandelt solche Fragen am Fallbeispiel der Flutkatastrophe in Deutschland im Juli 2021, die das Ahrtal als Region besonders hart getroffen hat. Viele Menschen dort haben schmerzliche Erfahrungen gemacht, weil Angehörige aus dem Leben gerissen wurden, und mussten immense materielle Schäden hinnehmen. Die Relevanz des Untersuchungsfokus auf Flut und Starkregen als potenzieller Krise wird durch aktuelle Ereignisse (z.B. Niedersachsen zur Jahreswende 2023/24, Saarland, Nordrhein-­Westfalen, Bayern und Baden­-Württemberg im Frühjahr 2024) bestätigt.

Das Besondere bei diesem Untersuchungssetting ist der dezidierte Fokus auf die Beziehungen von betroffenen Menschen zu den Berichterstatter*innen vor Ort: Indem Wahrnehmungen und Einschätzungen im Mittelpunkt stehen, lässt sich herausarbeiten, was sie umtreibt und inwiefern es gegenseitig Missverstände gibt. Die Studie soll die teils widersprüchlichen, teils übereinstimmenden Erwartungen und Ansprüche an die Berichterstattung sowie die jeweiligen Verständnisse journalistischer Rollen und Arbeitsweisen deutlich machen. Medieninhaltsanalysen gleichen kursorisch ab, inwiefern die tatsächliche Berichterstattung den Eindrücken aus den Interviews entspricht.

Ziel der Arbeit ist es auch, durch ein größeres gegenseitiges Verständnis künftig die Krisenkompetenz von Bürger*innen sowie von Medienschaffenden zu steigern.

Methode

Im Zeitraum Mai bis Juni 2023 wurden Leitfadeninterviews mit zehn von der Katastrophe betroffenen bzw. dort helfenden Personen und zehn Journalist*innen geführt. Alle Interviews wurden transkribiert, nach dem Prinzip der qualitativen Inhaltsanalyse ausgewertet und mit dem computergestützten Analyseprogramm MAXQDA bearbeitet. Die Aussagen wurden den Themen Empathie, Sachgerechtigkeit und Empowerment zugeordnet. Für die Medieninhaltsanalyse wurde eine quanti­tative und qualitative Auswertung anhand der­ selben Kategorien vorgenommen.

Ergebnisse

Entlang der Themenebenen Sachgerechtigkeit (Was muss ich wissen? Und was stimmt?), Emo­tionen (Welche Gefühle beobachte und erlebe ich? Und wie geht es mir?) sowie Empowerment (Was macht mich stark? Was motiviert und aktiviert mich?) erzählen Medienakteur*innen, Helfende und Betroffene anschaulich in ihren Interviews von dem, was sie während der Flut­Krise im Ahrtal erlebt haben.

Medienschaffende mussten mit dem schwierigen Umfeld, mit ihren eigenen Emotionen und mit dem Dilemma, ob sie ausschließlich berichten oder auch helfen sollten, zurechtkommen. Sie mussten abwägen, wie intensiv sie das Leid der Menschen zeigten. Und sie mussten damit klarkommen, dass die Gespräche mit Betroffenen und die Allgegenwärtigkeit der massiven Zerstörungen sie belasteten.

Die Betroffenen erwarteten, dass Medienakteur*innen kontinuierlich und sachgerecht berichteten, Informationen überprüften und auch Auskünfte gaben (zum Beispiel dazu, wo der nächste Bankomat war).

Sie erhofften sich Mitgefühl – im direkten Umgang sowie in der Berichterstattung. Darüber hinaus artikulierten Betroffene wie Helfende den expliziten Anspruch, dass Emotionen als Teil ihrer Wirklichkeit auch in der Medienberichterstattung öffentlich gemacht werden sollten und dass dies sensibel und nicht voyeuristisch erfolgt.

Die Menschen vor Ort erwarteten zudem einerseits, dass Medien Positives beschrieben, konstruktiv berichteten, Lösungen aufzeigten, motivierten und Behörden eher zurückhaltend kritisierten. Andererseits verlangten sie, dass die Berichtenden nicht der politischen Agenda folgten und den Scheinwerfer nur auf das richteten, was gelang, sondern sich gleichsam anwaltschaftlich für die Betroffenen einsetzten, wenn zum Beispiel der Wiederaufbau oder die Finanzierungsanträge schleppend vorankamen. Die widersprüchlichen Erwartungen der Betroffenen an die Berichterstattung lassen sich als Votum für eine umfassende journalistische Professionalität interpretieren: Journalismus empowert sein Publikum ebenso durch konstruktive Hinweise, wie man in einer Krise handlungsfähig bleibt, sowie durch kritische Recherchen, wenn zum Beispiel Entscheidungsträger*innen etwas vertuschen wollen.

Die kursorisch durchgeführten Medieninhaltsanalysen ergaben, dass viele Erwartungen umgesetzt wurden, wenngleich die Befunde keine Aussage darüber ermöglichen, ob auch der Umfang, in dem sie umgesetzt wurden, den Erwartungen entsprach; die Darstellung von Emotionen spielte tendenziell lokal eine größere Rolle als überregional.

Auf Beziehungsebene deckten sich die Erwartungen der Betroffenen und die professionellen Ansprüche, die die befragten Medienakteur*innen an sich selbst stellten, bezogen auf den Umgang mit Emotionen und Empathie sowie mit Sachgerechtigkeit weitgehend (darin eingeschlossen das Anliegen, kontinuierlich im Medienfokus zu bleiben). Unterschiede gab es zum Beispiel hinsichtlich der Erwartungen an die zeitlichen Kapazitäten und die Rolle der Journalist*innen. Betroffene beschrieben es als sehr positiv, wenn Journalist*innen bei einem Gesprächstermin viel Zeit mitbrachten und bei Aufräumarbeiten ‚mitanpackten‘. Arbeitsroutinen, der Arbeitsaufwand für die Beitragsproduktion und Abgabefristen sowie die Bedeutung der journalistischen Rolle waren wenigen bewusst: ,An der Schaufel‘ waren sie ersetzbar, nicht aber in ihrer Professionalität als Chronist*innen der Ereignisse.

Abschließend werden Empfehlungen für mehr Krisenkompetenz vorgestellt. Dazu zählen:

1) Mehr Expertise: Standardmäßig sollten Journalist*innen Krisen­ und Sicherheitstrainings angeboten werden, sowie Schulungen zu ethischen Fragen und in psychologischem Grundwissen (zum Beispiel zur Einordnung von häufig vorkommenden Belastungsreaktionen und zu Handlungsmöglichkeiten für den Umgang mit eigenen Stresssituationen), welches sie auch an ihr Publikum weitergeben können.

2) Mehr Erklärung: Medien müssen Grundwissen über ihre Arbeitsweisen (Abgabefristen etc.), ihre Funktionen und Rollen als Beobachter, Chronist, Seismograf etc. vermitteln und öffentlich über widersprüchliche Erwartungen reflektieren (Berichten oder Helfen?); sie sollten also aktiv die Medienkompetenz ihres Publikums erhöhen.

3) In Redaktionen (oder auch gemeinsam mit anderen Medienhäusern) sollten vorab für den Krisenfall Task­Force­Teams eingerichtet werden mit Personen, die sich mit offiziellen Warnsystemen auskennen, krisenerfahren sind und mit einem klaren Aufgabenportfolio arbeiten (u. a. Zuarbeit aus der Redaktion für Reporter*innen vor Ort, Care­Arbeit, Syndizie- rung von Wissen, Krisenaufarbeitung).

4) Eine bessere finanzielle Absicherung von Lokal-­ und Regionaljournalismus als in Krisen besonders bedeutsamer Anlaufstelle, beispielsweise durch eine öffentliche Förderung von Krisentrainings und von Aus-­ und Weiterbildungsprogrammen.

5) Eine bessere Einbindung von Medien in behördliche Abläufe bei Katastrophenlagen.

6) Ein differenziertes Einsetzen des Handwerkskastens von professionellem Journalismus in seiner Bandbreite. Journalist*innen sollen kritisieren, was schiefläuft, und aufdecken, wenn etwas vertuscht werden soll. Und sie sollen konstruktiv berichten, mehrere Sichtweisen und – stärker als bislang – auch langfristig ausgerichtete Maßnahmen zeigen, die dazu befähigen, Hochwasser künftig besser zu bewältigen.

Fazit

Die Lehren aus der Flutkatastrophe 2021 lassen sich als Faktoren für mehr gesellschaftliche ‚Krisenintelligenz‘ in künftigen Krisen nutzbar machen. Dazu gehört, die bedeutsame Rolle von Medien im Krisenverlauf nicht länger zu unterschätzen. Die Einblicke in die Hinterbühne der Arbeit von Journalist*innen und in die Erwartungen von Betroffenen verdeutlichten, was ihnen wichtig ist: Empathie und Emotionen als erlebte und medial abgebildete Wirklichkeit sowie eine die Resilienz fördernde, motivierende und zugleich sachgerechte und kritische Berichterstattung, also eine auf Verständigung orientierte Beziehung zueinander. Das nützt nicht nur beim Berichten über Leid und Katastrophe.

Über die Autorinnen

Dr. Marlis Prinzing ist Kommunikationswissenschaftlerin, Professorin (Macromedia Hochschule Köln), leitet den Studiengang Journalismus und forscht zu Ethik, Innovation und Krise.

Mira Keßler ist Dozentin des Masterstudiengangs „Internatio­nal Media Studies“ der Deutschen Welle Akademie in Bonn und Doktorandin an der Ruhr­Universität Bochum.

Dr. Melanie Radue ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Journalistik der Universität Passau und arbeitet als Projektleiterin bei Media in Cooperation and Transition (MiCT).

Herausgeber: Otto Brenner Stiftung, Jupp Legrand, Wilhelm­ Leuschner­Straße 79, 60329 Frankfurt am Main, Tel.: 069­6693­2810, E­Mail: info@otto­brenner­ stiftung.de, www.otto­brenner­stiftung.de

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Die Langfassung dieses Beitrages kann beim Herausgeber bestellt werden.

Über Marlis Prinzing, Mira Keßler, Melanie Radue / Otto Brenner Stiftung:

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