Zur Diskussion um den jüngsten Nato-Gipfel

„Den Frieden in der Ukraine sichern, bevor es zu spät ist“ – Unter dieser Überschrift publizierte die Financial Times einen offenen Brief von mehreren britischen Diplomaten bzw. Akademikern. Hier ist der Wortlaut in Deutsch:

„Die jüngsten militärischen Erfolge Russlands in der Region Donezk (Bericht vom 5. Juli) sprechen für eine Verhandlungslösung des Krieges in der Ukraine. Die USA und ihre Verbündeten unterstützen das wichtigste Kriegsziel der Ukraine, nämlich die Rückkehr zu den Grenzen von 2014, d. h. die Vertreibung Russlands von der Krim und aus dem Donbass. Alle informierten Analysten sind sich jedoch einig, dass ohne eine ernsthafte Eskalation des Krieges das wahrscheinlichste Ergebnis eine anhaltende Pattsituation vor Ort sein wird, mit einer nicht unerheblichen Chance auf einen russischen Sieg.

Diese Schlussfolgerung zeigt, dass ein Verhandlungsfrieden wünschenswert, ja sogar dringend notwendig ist, nicht zuletzt um der Ukraine selbst willen. Das Zögern des offiziellen Westens, einen Verhandlungsfrieden zu akzeptieren, beruht auf der Überzeugung, dass alles, was nicht zu einem vollständigen ukrainischen Sieg führt, es Putin ermöglichen würde, “ungeschoren davonzukommen”.

Dabei wird jedoch das bei weitem wichtigste Ergebnis des bisherigen Krieges ignoriert: die Ukraine hat für ihre Unabhängigkeit gekämpft und sie gewonnen – wie Finnland 1939-40. Einige territoriale Zugeständnisse scheinen ein geringer Preis für eine tatsächliche – und nicht nur scheinbare – Unabhängigkeit zu sein.

Wenn ein Frieden, der in etwa auf der gegenwärtigen Aufteilung der Kräfte in der Ukraine beruht, unvermeidlich ist, ist es unmoralisch, ihn jetzt nicht anzustreben.

Washington sollte mit Moskau Gespräche über einen neuen Sicherheitspakt aufnehmen, der die legitimen Sicherheitsinteressen sowohl der Ukraine als auch Russlands schützen würde. Auf die Ankündigung solcher Gespräche sollte sofort ein zeitlich begrenzter Waffenstillstand in der Ukraine folgen. Ein Waffenstillstand würde es der russischen und der ukrainischen Führung ermöglichen, auf realistische und konstruktive Weise zu verhandeln.

Wir fordern die Staats- und Regierungschefs der Welt auf, eine solche Initiative zu initiieren oder zu unterstützen. Je länger der Krieg andauert, desto mehr Territorium wird die Ukraine wahrscheinlich verlieren, und desto mehr wird der Druck für eine Eskalation bis hin zu einer nuklearen Ebene wahrscheinlich wachsen. Je schneller der Frieden ausgehandelt wird, desto mehr Menschenleben werden gerettet, desto schneller wird der Wiederaufbau der Ukraine beginnen und desto schneller kann die Welt von dem sehr gefährlichen Abgrund, an dem sie derzeit steht, zurückgeholt werden.“

Nahezu zeitgleich publizierten Politico und der Guardian einen offenen Brief von 61 US-Wissenschaftlern bzw. Politikexperten aus Denkfabriken, die den Nato-Gipfel aufforderten, der Ukraine kein Beitrittsversprechen zu machen. Im letzten Satz hieß es: „Der Zweck der Nato besteht nicht darin, Wertschätzung für andere Länder zu signalisieren, sondern darin, das Nato-Gebiet zu verteidigen und die Sicherheit der Nato-Mitglieder zu stärken. Die Aufnahme der Ukraine würde die Sicherheit der Vereinigten Staaten und der Nato-Verbündeten verringern, was ein erhebliches Risiko für alle bedeuten würde.“

Kommentare waren lediglich bei der FT zugelassen. Grob vereinfacht ausgedrückt, gab es zwei Typen von Reaktionen. Einige hielten die Forderungen des Offenen Briefes für Real-Politik. Die meisten allerdings vermuteten dahinter die lange Hand Moskaus oder einen Beschwichtigungsversuch. Argumente waren eher abwesend.

Tatsächlich hat der Nato-Gipfel erneut bekräftigt, dass die Strategie „Siegfrieden“ unverändert gilt. Die Nato verpflichtete sich zur Langzeitunterstützung der Ukraine, damit „diese in ihrem Kampf um die Freiheit siegen kann.“ Russland dagegen wird von der Nato als “die wichtigste und direkte Bedrohung“ für die Sicherheit der Alliierten angesehen. Weiter heißt es: „Russland ist bestrebt, die euro-atlantische Sicherheitsarchitektur grundlegend umzugestalten. Die Rundum-Bedrohung, die Russland für die NATO darstellt, wird auf lange Sicht bestehen bleiben.“

Die Nato will nicht direkte Kriegspartei sein oder werden. Das wies sie weit von sich. Sie sei auch keine Bedrohung für Russland und bereit zur Kommunikation, um Missverständnisse oder Eskalation zu verhindern. Gleichzeitig enthält der Nato-Beschluss die Forderung nach bedingungslosem Abzug Russlands aus der Ukraine. Der Ukraine wiederum wurde die Nato-Mitgliedschaftskarotte vor die Nase gehalten. Ihre Zukunft liege in der Nato. Der Prozess sei „unumkehrbar“, aber die Einladung erfolge erst, wenn die Nato-Mitglieder das beschließen.

Im Klartext: Mit Russland wird nicht verhandelt, Russland wird besiegt. Wenn nie wieder Russland eine Gefahr darstellt, kann die Nato auch die Ukraine aufnehmen. Sonst nicht. Russland kann aus Nato-Sicht allenfalls den Schwanz einziehen, sich aus der Ukraine zurückziehen, aber es bleibt dennoch am Nato-Pranger der „einen Milliarde“ festgebunden. Auf ganz lange Zeit.

Vom Nato-Gipfel waren keine Wunder zu erwarten. Das Bündnis, das sich weigerte, mit Russland über eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zu verhandeln, und das nicht akzeptieren konnte, dass die Ukraine sich im Rahmen von Friedensverhandlungen zur Neutralität verpflichtet, gibt sich weiter siegesgewiss. Damit legte die Nato ihr Schicksal in ukrainische und russische Hände.

Die ganze Welt ist voller Nato-Bedrohungen

Aber das ist noch nicht einmal das Fatalste am aktuellen Nato-Beschluss. Laut Tagesschau zeigte die Nato „klare Kante“ gegen China.

Sie hat noch sehr viel mehr gemacht. Der Beschluss definiert das Nato-Sicherheitsinteresse global und hebt speziell den asiatisch-pazifischen Raum hervor. Kurzum, die Nato ist auf besten Weg, ihre geographische Begrenzung als euro-atlantisches Verteidigungsbündnis vollends abzustreifen. Die EU wird ihr dabei helfen, denn nie, so der Beschluss, waren die Beziehungen enger.

Überall ist nun die Nato-Sicherheit zu gewährleisten, von der Ostsee über das Schwarze Meer, bis hin zum Balkan oder Moldawien, Georgien, Weißrussland und die Ukraine, blickt man allein nach Europa. Aber die ganze Welt ist voller Nato-Bedrohungen, biologischer, chemischer und nuklearer Art, wogegen sich nun die Nato wappnen muss. Auf die Schlussfolgerung, dass die Überwachungsmechanismen bei biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen dringend gestärkt werden müssen, kommt die Nato nicht.

Hinzu kommen Terrorismus, mögliche Sabotage-Akte an Unterseeinfrastrukturen, Cyberkriminalität, Falschinformationen, irreführenden Informationen. Dem Letzterem muss mit „strategischer Kommunikation“ begegnet werden. was das bedeutet, möge sich jeder selbst ausmalen. Und, daran lässt die Nato keinen Zweifel: Wenn sie mit „hybriden“ Methoden konfrontiert sein sollte, auch dann gilt die Beistandsverpflichtung des Artikel 5. Die Nato versicherte sich erneut, völlig auf dem Boden der UN-Charta zu stehen und „voll und ganz dem humanitären Völkerrecht verpflichtet zu sein.“

Das alles ist offenbar längst Auslegungssache. War Orban nun auf „Friedensmission“ – mit oder ohne Anführungsstriche? Immerhin hat er den Nato-Beschluss mitgetragen. Das Nato-Mitglied Spanien hat gegenüber dem Internationalen Gerichtshof seinen Wunsch deutlich gemacht, der südafrikanischen Klage gegen Israel (Vorwurf Genozid) beitreten zu wollen. Belgien und die Türkei haben entsprechende Intentionen geäußert. Deutschland wiederum kündigte Parteinahme für Israel an.

Keine Auslegungsfrage dagegen ist, dass Artikel 1 des Nato-Statuts die Allianz zur friedlichen Streitbeilegung verpflichtet. Im jüngsten Beschluss wurden so viele Konflikte konstatiert. Die Bereitschaft, eine Lösung dafür zu suchen, fehlt.

Präsident Biden würdigte den ausscheidenden Nato-Generalsekretär und verlieh ihm eine Auszeichnung. Trotz Telepromter verlief es nicht “unfallfrei”, wie die Daily Mail auf Youtube berichtete.

Der neue Nato-Generalsekretär heisst Rutte, ehemaliger Ministerpräsident der Niederlande. Wahrscheinlich denke ich dreimal um die Ecke, aber mir fiel die Lobeshymne der New York Times auf die Zusammenarbeit zwischen der CIA und dem ukrainischen Geheimdienst ein. Später sei noch der niederländische dazugestoßen. Ein perfekter Dreiklang…

Damals dachte ich zunächst, wo ist denn der BND? Dann aber wurde mir klar, dass im Unterschied zu Deutschland in Den Haag internationale Organisationen von strategischem Interesse ansässig sind. So etwas muss gepflegt werden.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Petra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.