Bei Argentiniens Bildungsprotesten geht es um die nationale Identität
Im argentinischen Selbstverständnis ist das öffentliche Bildungswesen mit seinen kostenlosen Universitäten eine Errungenschaft jahrzehntelanger Kämpfe. Sie machten Bildung außerhalb der städtischen Eliten zugänglich. Vor allem den Diktaturen waren sie von jeher ein Dorn im Auge, galten sie doch als Hort der Subversion. Kein Wunder, dass sie zu den ersten Opfern von Präsident Javier Mileis rabiater Sparpolitik gehören.
Gleich zu Beginn seiner Amtszeit fror Argentiniens ultrarechter Präsident Javier Milei im Januar 2024 das Budget der Hochschulen auf dem Niveau von 2023 ein – und das obwohl die Inflation in diesem Jahr etwa 212 Prozent betrug. Faktisch bedeutet das eine Kürzung um die Hälfte, wodurch der Lehrbetrieb erheblich gefährdet wird. Die aktuelle Regierung versuchte das nachträglich damit zu rechtfertigen, dass öffentliche Gelder verschwendet und ihre Verwendung nicht kontrolliert würde. Die Universitäten werden jedoch regelmäßig vom argentinischen Bundesrechnungshof überprüft. Das Budget wird vom Parlament beschlossen und darf von der Exekutive eigentlich nicht geändert werden. Da die Umsetzung jedoch dem Kabinettschef unterliegt, wurden schlicht Fakten geschaffen. Dabei war der Bildungsetat bereits in den beiden letzten Regierungen aufgrund der hohen Inflation immer weiter gesunken. Gekürzt wurde also ausgehend von einer ohnehin niedrigen Basis.
Was heißt hier Verschwendung?
Die Kürzungen führten zu heftigen Protesten, darunter die größte Massendemonstration, die das Land in den letzten Jahren erlebt hat: Am 24. April 2024 gingen in Buenos Aires und anderen Städten über 1,1 Millionen Menschen auf die Straße, um für die öffentliche Bildung und insbesondere für die freien und kostenlosen Universitäten zu demonstrieren.
Seitdem haben zahlreiche weitere Proteste von Studierenden, Dozierenden und Angestellten stattgefunden. Erzielt wurden jedoch nur kleine Anpassungen bei den technischen Betriebskosten, die einen geringen Anteil des Haushalts ausmachen. Die Aufmärsche zeigen, dass viele Argentinier*innen stolz auf ihr Universitätssystem sind. In der Geschichte des Landes spielt es eine wichtige Rolle.
Argentinien verfügt heutzutage über mehr als 60 öffentliche Hochschulen, die vom Staat und den Provinzen getragen werden. Die größte ist die Universidad de Buenos Aires (UBA) mit etwa 318000 Studierenden. Sie brachte fünf Nobelpreisträger und 13 Präsidenten hervor. Die UBA zählt neben der Universidade de São Paulo (USP) in Brasilien und der Universidad Nacional de México (UNAM) zu den drei führenden Universitäten Lateinamerikas. Bemerkenswert ist, dass die UBA nur einen Bruchteil des Budgets pro Kopf aufwendet im Vergleich zu den anderen beiden (1200 US-Dollar pro Studierende gegenüber 15000 US-Dollar bei der USP und etwa 8000 US-Dollar bei der UNAM). Möglich ist das unter anderem, weil viele Dozent*innen an der UBA für ihre Lehrtätigkeit keine oder nur geringe Entlohnung erhalten. Das macht den Vorwurf der Verschwendung öffentlicher Gelder umso bitterer.
Die nächstgrößten Universitäten sind die Universidad de Córdoba und die Universidad Nacional de La Plata mit jeweils etwa 150000 Studierenden. Zudem gibt es in jeder Provinz mindestens eine eigene Hochschule, die insbesondere in kleineren Provinzen die Studiengänge anbietet, die für die regionale Wirtschaft von Bedeutung sind. Darüber hinaus existieren in Buenos Aires und anderen Großstädten eine Reihe kostenpflichtiger privater Universitäten, getragen von Kirchen und Unternehmen.
Hundert Jahre Bildungskämpfe
Anfang des 20. Jahrhunderts gab es nur vier Universitäten im Land: die von Córdoba (1631 von Jesuiten gegründet und eine der ältesten des Kontinents), Buenos Aires (1821), Santa Fe (1889) und La Plata (1897). Die wohlhabenden Familien des Landes schickten gerne ihre Kinder zum Studium nach Europa, während die Eliten der Nachbarländer ihre Kinder eher nach Argentinien schickten. Ab 1918 begannen ausgehend von Córdoba studentische Unruhen, die bald auf die anderen vier Hochschulen übersprangen (1917 war die von Tucumán hinzugekommen). Diese Proteste wurden von der studentischen Interessenvertretung Federación Universitaria Argentina (FUA) organisiert und umfassten Streiks und Besetzungen. Sie erkämpften eine tiefgreifende Reform des Hochschulsystems, die zu einer Demokratisierung und Autonomie der Universitäten führte.
In den folgenden Jahren versuchten konservative Regierungen diese Reformen rückgängig zu machen, jedoch mit wenig Erfolg. Unter der Präsidentschaft von Juan Domingo Perón wurden 1949 die Studiengebühren an staatlichen Hochschulen abgeschafft. Zudem wurde die Universidad Obrera (Arbeiteruniversität) gegründet, die nach dem Staatsstreich von 1955 in Universidad Tecnológica Nacional (UTN) umbenannt wurde. Zwischen 1945 und 1955 stieg die Zahl der Studierenden von 40284 auf 138871 um mehr als das Dreifache. Perón bezeichnete es als seinen persönlich größten Erfolg, die Universität den Kindern der Arbeiter*innen geöffnet zu haben.
Die folgenden Diktaturen versuchten, gegen diesen popularen und demokratischen Charakter vorzugehen. Unter der Präsidentschaft von General Juan Carlos Onganía drang am 29. Juli 1966 die Polizei während der „Nacht der langen Schlagstöcke“ in die Räume der Universität von Buenos Aires ein und griff Dozierende und Studierende an, die dort gegen die Aufhebung der Autonomie protestierten. Über 400 Personen wurden festgenommen, Bibliotheken und Labore der Universität verwüstet. In der Folgezeit gingen hunderte Professor*innen und Forschende ins Exil.
Die Diktatur von 1976 intervenierte erneut in verschiedene Hochschulen. Unter den über 30000 Verschwundenen waren viele Studierende und Dozierende. Obwohl die Militärjunta viel in die schulische Bildungsinfrastruktur investierte, vernachlässigte sie die Universitäten, die sie als Hort der Subversion betrachtete.
Kulturkrieg um die öffentlichen Universitäten
Ab 2009 erlebte das Bildungswesen unter der Regierung von Cristina Kirchner (Juraabsolventin der staatlichen Universität von La Plata) einen Schub. Waren zuvor schon einige hinzugekommen, verdoppelte sich nun die Gesamtzahl der Hochschulen. Im Jahr 2022 beschloss die Regierung unter Alberto Fernández (Juraabsolvent, UBA) die Gründung von drei weiteren Universitäten, deren Eröffnung jedoch von der aktuellen Regierung blockiert wurde. Mauricio Macri, der Ingenieursabsolvent der privaten Universidad Católica, der das Land zwischen Kirchner und Fernández regierte (2015-2019), hatte als Kandidat die Praxis, „überall Universitäten zu gründen“, kritisiert. Seine Gouverneurin der Provinz Buenos Aires, Maria Eugenia Vidal (Politikwissenschaften und internationale Beziehungen, ebenfalls Universidad Católica), erklärte in einem Treffen mit Unternehmer*innen, dass „die Armen sowieso nicht in die Universität gelangen“. Dies spiegelte sich in ihrer Bildungspolitik wider: Zum ersten Mal seit hundert Jahren gab es am Ende einer Legislaturperiode weniger Schulen als am Anfang. Der aktuelle Präsident Javier Milei, der selbst an der privaten Universidad de Belgrano studierte, steht in einer regressiven Tradition, die offensichtlich weniger mit Wirtschaftlichkeit als mit Ideologie zu tun hat.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 477 Juli/Aug. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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