Als ich las, dass am 10. August der „Internationale Tag gegen Hexenwahn“ begangen wird, habe ich erst einmal auf die Uhr geschaut, um zu sehen, in welchem Jahrhundert wir leben. Doch es gibt diesen Gedenktag wirklich. Er wurde erstmals am 10. August 2020 vom Internationalen Katholischen Hilfswerk missio ausgerufen, um über Menschenrechtsverletzungen aufzuklären, die unter dem Vorwand vermeintlicher Hexerei vollzogen werden, und um gegen diese vorzugehen. 

Die Vereinten Nationen unterstützten die Einrichtung dieses Gedenktages. Sie sehen in den modernen Hexenjagden eine massive Missachtung der Menschenrechte. 2021 hat der Menschenrechtsrat der UN eine Resolution veröffentlicht, in der alle Staaten aufgerufen werden, jede Gewalt, die aus einer Anschuldigung der Hexerei entsteht, zu beenden und besonders gefährdete Menschen zu schützen.  Der Beschluss zeigt auf, welche Personen am häufigsten betroffen sind und welche Menschenrechte besonders vom Hexenglauben bedroht sind. Als zu bekämpfende Praktiken werden Stigmatisierung, Verbannung, Nötigung, Menschenhandel, Verstümmelung, Folter und Verbrennung aufgelistet. Eine Expertengruppe soll nunmehr eine Studie über Menschenrechtsverletzungen durch Anschuldigung der Hexerei, rituelle Angriffe und Stigmatisierung erstellen und dem UN-Menschenrechtsrat vorlegen.

Offenbar ist Hexenverfolgung also nicht nur eine unmenschliche Grausamkeit der Vergangenheit, sondern auch heute noch so bedeutsam, dass man mit einem Gedenktag die Aufmerksamkeit darauf lenken muss. Wobei es gewiss bemerkenswert ist, dass die genannte Initiative hierzu von einer katholischen Einrichtung ausgegangen ist. Hexerei und Zauberei sind uns auch heute nicht unbekannt. Aber was bedeutet HEXENWAHN? Was passiert wo und warum wird es als Menschenrechtsverletzung bezeichnet, die man bekämpfen muss ? 

Die Hexenverfolgung in Europa des Mittelalters von etwa 1500 bis 1800 ist Geschichte. Die letzte Hinrichtung einer Hexe erfolgte 1782 in der Schweiz. Damals wurden Frauen als Hexen verfolgt, weil man Schuldige suchte für unerklärliche Ereignisse wie Seuchen, Unglücke, Unwetter oder andere Katastrophen. Die beschuldigten Frauen dienten dann als Sündenböcke. Ihnen wurden übernatürliche Fähigkeiten zugesprochen, sie standen im Pakt mit dem Teufel, sie stellten Gift her und sprachen Verwünschungen aus. Manche konnten sogar auf dem Besen fliegen. Und alle waren schuldig. Das hatten sie bei der Folter zugegeben, und deswegen durften sie hingerichtet, verbrannt, gesteinigt oder ertränkt werden.

Die Hexenverfolgungen in Mitteleuropa breiteten sich ab 1500 rasch aus. Nur teilweise gingen die Anschuldigungen von der katholischen Kirche aus, oft war es das einfache Volk, das sich auf diese Weise gegen Personen der Oberschicht wie Beamte oder Geldverleiher richtete. Zu 75 bis 80% waren Frauen die Beschuldigten, wahrscheinlich weil sie für Erziehung, Versorgung, Heilung und Pflege zuständig waren und ihnen daher größerer Einfluss auf Leben und Tod als Männern zugesprochen wurde. 2000 bis 3000 Prozesse und Opfer soll es gegeben haben, zu 90% vor weltlichen Gerichten. Andere Quellen sprechen von bis zu 60.000 Verfolgten.

Eine Erklärung für die Entstehung und Ausbreitung der Hexenprozesse wird darin gesehen, dass zwischen 1550 und 1650 eine „kleine Eiszeit“ stattfand. Diese führte zu Ernteausfall, Hungersnöten, Arbeitslosigkeit und sozialen Spannungen. Als Verantwortliche für die Wetterprobleme wurden Hexen angesehen. Theologische Gründe für Hexenverfolgungen werden vielfach bestritten. Die Tatsache, dass die Kirche verantwortlich gemacht wird, liegt vor allem am ‘Hexenhammer’, einem von einem Dominikanermönch verfassten Werk zur systematischen Rechtfertigung der Hexenjagd. Angeblich hatte der Papst es legitimiert.

Natürlich gibt es auch heute noch Hexen und Zauberer, z.B. auf dem Jahrmarkt oder im Varieté, in Comics und in Filmen. Es gibt Hellseherinnen und Heilsbringer, Traumdeuterinnen und Astrologen, Wahrsagerinnen und Kartenleger, sogar Exorzisten, Teufelsaustreiber und selbsternannte Propheten. Allerdings brauchen wir keine Angst vor ihnen zu haben und müssen sie nicht befehden – außer wenn sie lästig oder aggressiv werden. 

Heutige Hexen sind eher naturverbunden, suchen den Kontakt zu alten Göttern oder glauben an einen Naturgott. Manchmal wird sogar pseudowissenschaftlich zwischen verschiedene Formen der Magie unterschieden: Schwarze Magie: Schadenszauber; Rote Magie: Zerstörung, Chaos; Blaue Magie: Gesundheit, Versöhnung; Weiße Magie: Weisheit, Spiritualität; Grüne Magie: Kräuter, Heilgetränke.

Rund 250 Jahre sind seit den Hexenverfolgungen vergangen, und in den westlichen Gesellschaften finden sich nur noch Anleihen und Erinnerungen an den alten Hexenglauben. In anderen Regionen der Erde sind jedoch bis heute Hexenglauben und -verfolgungen nachweisbar. So weisen die Verschwörungstheorien in den USA Elemente von Hexenmythen auf, besonders deutlich in der Behauptung, dass Personen der Oberschicht Kinder entführen, foltern und missbrauchen. Früher wurde das den Teufelsanbetern angelastet.

In mehr als vierzig Ländern werden noch heute Männer, Frauen und Kinder der Hexerei bezichtigt, angeklagt und umgebracht. Der Glaube an böse Magie und Schadenszauber besteht immer noch und führt zu Hexenjagd und -morden. Offizielle Hinrichtungen vermeintlicher Hexen sind ebenso dokumentiert wie Lynchmorde. Die Gründe sind denen aus dem Mittelalter ähnlich. Bei Krieg, Katastrophen und Epidemien suchen die Menschen einen Schuldigen. Aber auch Habgier, Neid und Rache können zum Anlass für Misstrauen werden. Reiche und mächtige Personen werden beschuldigt, über magische Kräfte zu verfügen.

Um solchen Exzessen entgegenzutreten, hat missio den ‘Internationalen Tag gegen Hexenwahn’ proklamiert. Weltweit unterstützt die Organisation Projekte gegen Hexenverfolgung, vor allem durch Hilfe bei Notsituationen und durch Aufklärung in Schulen. Betroffen sind zumeist Witwen, alleinstehende Frauen und Straßenkinder. Menschenfeindlicher Aberglaube wird dazu benutzt, sie zu Sündenböcken für gesellschaftliche Probleme zu machen.

Missio hat eine Weltkarte erstellt, auf der jene 44 Länder markiert sind, in denen Personen in Gefahr sind, als Hexen stigmatisiert, gefoltert und getötet zu werden. Diese Staaten liegen überwiegend in Afrika, dem Nahen Osten, Südostasien, Ozeanien und Lateinamerika. Es wird angenommen, dass die Gesamtzahl der Opfer derzeit weltweit höher liegt als im Mittelalter. Die Erfassung konkreter Zahlen ist jedoch problematisch, da sich vieles im Geheimen abspielt. Gleiches gilt für das Bemühen um Aufklärung.

Schwerpunkte der Hexenverfolgung sind Tansania, Saudi-Arabien und Papua-Neuguinea, in den 90er Jahren galt dies auch für Südafrika. Für Tansania liegen einige Zahlen vor: So wird die Zahl der Opfer auf jährlich 100 bis 200 geschätzt. Von 1960 bis 2000 sollen etwa 20.000 bis 40.000 Menschen getötet worden sein. Andere Quellen sprechen von 5.000 Toten für den Zeitraum von 1994 bis 1998 gesprochen.

In Papua-Neuguinea war „Hexerei“ bis 2013 strafbar. So konnte sich jeder, der einen Mord begangen hatten, damit verteidigen, dass das Opfer ihn verhext habe. Das Gesetz hat sich geändert, die Sitten sind geblieben. Der Glauben an böse Mächte und daran, dass Menschen von ihnen besessen sein können, herrscht immer noch. Hexenverbrennungen werden nur selten rechtlich verfolgt. Wer sich einmischt, wird zum Risiko, auch für seine Familie und den gesamten Clan.  

In Saudi-Arabien wird Hexerei als ernste Gefahr gesehen, denn Hexer/innen droht die Todesstrafe. Scharfe Gesetze gegen Hexerei bestehen auch in verschiedenen afrikanischen Staaten. In einigen Ländern werden Albinos verfolgt, weil sie wegen ihres Aussehens als Unruhestifter eingestuft werden. In Ghana leben hunderte ausgestoßener Frauen unter menschenunwürdigen Bedingungen in sogenannten Hexencamps. In Mexiko ist die Lage unübersichtlich. Einerseits werden auf Märkten magische Dienste und Gegenstände in großer Zahl angeboten, anderseits sind Hexereien mit Geldstrafen bedroht.

Besonders grausam sind die Hexenbräuche in der Demokratischen Republik Kongo und einigen anderen afrikanischen Staaten. Geschieht ein Unglück, sucht man einen Schuldigen. Allzu oft werden Kinder als Hexer/innen abgestempelt, sie sind wohl die leichtesten Opfer. Diesen ‘Hexenkindern‘ werden dann magische Fähigkeiten zugeschrieben, mit denen sie angeblich Schadenszauber ausüben. Solche Kinder werden häufig von ihren Müttern bestraft, ausgesetzt, verfolgt oder sogar ermordet. Der Hilfsorganisation ‘SOS-Kinderdörfer’ zufolge sind allein im Kongo jährlich ein- bis zweitausend Kinder betroffen.

Todesstrafe wegen Hexerei, Kindermord, Hexendenunziation aus Habgier, Neid oder Rache – es ist kaum vorstellbar, was in fernen Teilen der Welt geschieht. Da sind die Aktivitäten von missio nicht nur gerechtfertigt, sondern unbedingt erforderlich. Missio ist jedoch zu klein und zu schwach, um gegen diese Menschenrechtsverletzungen anzugehen. Hier sind die Vereinten Nationen gefordert. Nicht nur durch Unterstützung des Gedenktages und durch Resolutionen, sondern mit konkreter und verbindlicher Einflussnahme auf jene Staaten, die Hexenverfolgung immer noch zulassen oder gar fördern.

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.