Die komplett überflüssige Vorführung menschlicher Überanstrengung bei den olympischen Spielen von Paris 2024 ist nun zum Glück abgehakt, und die Großaufnahmen triumphierend bis zu den Mandeln aufgerissener Mäuler im Fernsehen haben wir überstanden. Die Ekstase der Zuschauer und Zuschauerinnen, die im nationalistischen Überschwang durchaus auch als Feindschaft wahrgenommen werden konnte, ist abgeklungen. Olympische Spiele werden ja seit altgriechischen Zeiten als durchaus angenehmer Kriegsersatz empfunden, jetzt, nach Beendigung der Spiele, können wir uns wieder mit aller Kraft echtem Mord und Totschlag zuwenden.
Es bleibt aber die Frage: Was veranlasst sogenannte Leistungssportler und Leistungssportlerinnen, Sehnen, Muskeln, Gelenke und andere Körperteile bis zur Krankschreibung, Wehruntauglichkeit und Verkrüppelung zu misshandeln? Und wie kommen sie darauf, für diesen Unfug von der Gesellschaft auch noch Subventionen zu verlangen? Deutsche Olympia-Mannschaften bestehen traditionell doch zu einem beachtlichen Teil aus Soldaten, Polizisten und Zöllnern, oder? Erhalten die das ganze Jahr unbezahlten Urlaub zwecks Leibesertüchtigung … ?
Spitzensport sei ein Berufsfeld mit enormen Risiken, Kosten und Entbehrungen, sagte der Geschäftsführer von Athleten Deutschland, Johannes Herber, „und deshalb wünschen wir uns, dass ein Mindestmaß an sozialer wie materieller Absicherung für die Athletinnen und Athleten geschaffen wird“.
Vielleicht hat es sich noch nicht bis in diese Funktionärskreise herumgesprochen, aber unter Beruf versteht man verfassungsrechtlich jede auf Dauer angelegte, der Einkommenserzielung dienende menschliche Betätigung. Dem verfassungsrechtlichen Berufsbegriff sind zwei Elemente immanent, nämlich Lebensaufgabe und Lebensgrundlage. Soll man unter Einkommenserzielung den monatlichen Scheck von der Sportförderung verstehen? Schau an, dazu meldet sich Schwimm-Weltmeisterin Angelina Köhler – sie sagt: „Wir trainieren unser ganzes Leben dafür. Wir trainieren zehnmal die Woche und ich finde, es kann nicht sein, dass die Prämien so wenig sind.“ (Köhler hatte in Paris über 100 Meter Schmetterling den vierten Platz belegt, immerhin.) Aber wenn die Prämien für die Quälerei so gering sind: Wer zwingt Sie denn, Frau Köhler? Hören Sie doch auf mit dem Quatsch, Verehrteste! In einem anderen Beruf verdienen Sie gewiss nicht viel weniger…
Funktionär Herber stellte außerdem fest, zur Zeit sei man in Deutschland nur bedingt in der Lage, das Potenzial der Athletinnen und Athleten so zu entwickeln, dass sie in der Breite international wettbewerbsfähig seien … Na und? Müssen sie das sein? Reicht es nicht, dass Deutschland Exportweltmeister ist, Rüstungsgigant und immer auf Seiten der Guten? Mehr Wertschöpfung ist doch nun wirklich nicht nötig – es ist doch von keinerlei Nutzen für die Menschheit, wenn ein junger Hüpfer mit Hilfe eines Stabes 6 Meter 20 hoch springt und sich dort oben über eine Latte windet. Absolut sinnlos ist es auch, wenn sich ein verbissenes Teenie-Girl am Stufenbarren beim Vorschwung in den Grätschsitz das Schambein prellt, und es ist geradezu gemein, ein Pferd so lange zu quälen, bis es den verquasten Ästhetikvorstellungen der Leute mit eigenem Reitstall (ordo equester) entspricht und artfremde und alberne Tanzstundenschritte ausführt.
Sinnlos hin, Unsinn her – die Gesellschaft leistet sich eine Abteilung Leistungssport. Das ist im Grunde nur eine kleine Sekte, deren ganzes Streben einer überlegenen Ausdauer, Sprung- und Schnellkraft dient. Indem sie trainieren, beten die Sektenmitglieder ihren eigenen Körper an, und der soll dann im Gegenzug Weltrekorde und Meisterschaften, Ruhm und Ehre, Geld und Unsterblichkeit liefern. Wenn er das tut, wird ihm für seine Leistungsbereitschaft das Silberne Lorbeerblatt verliehen, die höchste sportliche Auszeichnung in Deutschland. Wofür sich der Staat auf diese Weise bei den Höher-Weiter-Schneller-Anbetern bedankt, kann man nur raten. Vermutlich glaubt er, sich ein wenig vom Sportlerruhm an die eigene Fahne heften und weltweite Bewunderung einkassieren zu können. Sportfunktionäre, Politiker und Journalisten sind tatsächlich der Meinung, würden deutsche Olympioniken so viele Medaillen einsammeln wie beispielsweise die Chinesen und Chinesinnen, dann müsste das Ansehen Deutschlands in der Welt astronomische Höhen erklimmen. Wenigstens sportlich eine Weltmacht zu sein, ist ein Ziel, aufs Innigste zu wünschen! Vernünftig betrachtet erscheint es jedoch wahrscheinlicher, dass jede gewonnene Goldmedaille unsere Beliebtheit auf der Erde beeinträchtigt, denn dass Hochleistungssport die Völkerfreundschaft fördert, halte ich für ein Gerücht, zumal, wenn Nationen von den Spielen ausgeschlossen werden.
Aber auch, wenn die Gladiatoren und Gladiatorinnen als Elite auf noch so hohen Podesten platziert sind: Als Vorbilder für Kinder und Jugendliche sind sie durchaus verzichtbar. Sie haben bestenfalls einen Stellenwert wie Werbefuzzys und Comedy-Profis, sie gehören zum Unterhaltungsgewerbe, sie sind nichts anderes als Zirkusartisten. Bewundernswert, was sie sich antrainiert haben und was sie können, und wer diese Showstars „in Action“ sehen will, sollte sich vor eine entsprechende Bühne setzen. Allerdings: Dass die Normalbürger diese Artisten erst als Steuerzahler alimentieren und dann auch noch als Eintritt zahlende Zuschauer subventionieren, also doppelt bezahlen, halte ich für übertrieben.
Die Erringung einer Olympia-Medaille in Paris kostete die deutsche Gesellschaft rund 3,7 Millionen Euro.
Für eine Goldmedaille wird den Athleten und Athletinnen allerhöchste Anerkennung und Achtung zuteil, für ein Silbermedaille Hochachtung und für eine Bronzemedaille Respekt und Beachtung. Vom vierten bis zum letzten Platz reicht es dann meistens nur noch für Nicht- bis Verachtung. Das lässt mich hoffen, dass olympische Spiele eines Tages nur noch durch die Spenden derjenigen, die sich so eine Veranstaltung wirklich wünschen, finanziert werden.
In Anbetracht der Sinnlosigkeit einer olympischen Spitzensportler-Messe erscheinen die übertriebenen Superlative, die verbalen Schwächen, die logopädischen Unzulänglichkeiten, die pure Geschwätzigkeit und die Unfähigkeit, ein sinnvolles Interview zu führen, als völlig normale Mittel der Berufsausübung von Sportjournalisten. Ihre Bemühungen, Interesse für die Hochleistungsmärtyrer zu wecken, waren vergeblich, ihre sportlichen Analysen obsolet. Aber die männlichen und weiblichen Moderatoren, Reporter vor Ort und Berichterstatter erfanden immerhin die Hohlkopf-Floskel der „unfassbaren Emotionen“, um ihrer Schleimscheißerei noch mehr Gewicht zu verleihen…
Sind also die olympischen Spiele noch zu retten? Ja, im Kino. Mit guter Animation und Heerscharen von Avataren. Amazonen mit Pfeil und Bogen und Speer-schleudernde Recken im Lendenschurz durchlöchern sich gegenseitig in einer Entscheidungsschlacht, und für Olympia qualifizierte Sportlerinnen und Sportler müssen in Sportarten kämpfen, die sie gar nicht nicht trainiert haben: Hammerwerfer plumpsen vom 10-Meter-Turm, um die fettesten Arschbomben zu kreieren, Diskuswerferinnen laufen rückwärts über Geröllhalden, auf denen fiese Stolperdrähte gespannt sind, Vielseitigkeitsreiter tragen Ammerländer Sattelschweine über Hindernisse und durch Wassergräben um den Parcours, gut dressierte höhere Töchter im Frack führen beim Bodenturnen ihre Kunstgangarten vor und tanzen zierliche Piaffen, Schwergewichtsboxer ringen auf dem Schwebebalken beim Doppelsalto um Balance, und der Chor der Synchronschwimmerinnen singt mit den dazu gehörenden Funktionären unter Wasser „Freude schöner Götterfunken“, dirigiert vom Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees Thomas Bach in einem superknappen Höschen, wie es die Weitspringerinnen tragen durften. Doch über Sex und sexuelle Verdrängung bei Olympia reden wir ein anderes Mal…
Zurück in die Realität: 2017 zeigten die Gegner Olympischer Spiele in Hamburg dem Senat, den Medien sowie Spekulanten und Geschäftemachern die rote Karte: Eine Mehrheit der Hamburger wollte ihre Stadt im Jahre 2024 nicht als Werbefläche für McDonald’s, Coca-Cola, Adidas und Hyundai zur Verfügung stellen und von ihren Steuern Tausende von korrupten Funktionären und gedopten Muskelprotzen aus aller Herren Länder unterbringen. Die Verweigerer meinten, es sei unsinnig, wenn die Gastgeber die Risiken tragen und das Internationale Olympische Komitee schleppt dann die garantierten Gewinne davon. Und sie standen auf dem Standpunkt: Erst, wenn das Olympische Komitee mitsamt der werbetreibenden Industrie höflich – sehr höflich! – an der Rathaustür anklopft und demütig – sehr demütig! – ein beträchtliches Vermögen für die Ausrichtung der Spiele anbietet, darf der Senat in Erwägung ziehen, den globalen Profisport in den Mauern der Stadt zuzulassen …
Nach Paris gibt es nun natürlich vermehrt Leute, die diese Entscheidung der Bewohner Hamburgs heftig beklagen und über „mutlose Bedenkenträger“ schimpfen. Ein Journalist voller unfassbarer Emotionen beschrieb in einer Zeitung, wie großartig es gewesen wäre, hätte HH 2024 die Spiele ausgerichtet:
Die Dauerbaustellen lägen hinter uns, wir hätten ein modernisiertes und deutlich erweitertes U- und S-Bahn-Netz sowie einen erweiterten Hauptbahnhof, ferner einen ausgebauten Harburger Bahnhof, dann viele Kilometer neuer und attraktiver Rad- und Fußwege, ein filigranes (sic!) Stadion für 60 000, ein olympisches Dorf, in das demnächst die ersten Hamburger eingezogen wären, Teile des Stadions wären in Kürze zu Wohnungen umgebaut worden und das Olympiazentrum zum Kreuzfahrtterminal. Selbst die Turmruine an den Elbbrücken wäre vielleicht schon ein Wolkenkratzer, einen Baustopp hätte es vermutlich nicht gegeben. Hamburg hätte nicht nur neue Stadien, sondern perfekt sanierte Flächen im Volkspark und anderswo. 12 Schwimmhallen, 37 Sporthallen und 62 Sportfelder seien geplant gewesen, und selbst der Hafen hätte sich wettbewerbsfähig neu aufstellen können. Und schließlich das Sahnehäubchen: Olaf Scholz wäre immer noch Bürgermeister. Das wäre vielleicht das Beste gewesen für die Stadt, das Land und auch für ihn. Unfassbar – Blödheit kennt keine Grenzen!
Die martialischen Sicherheitsmaßnahmen und die Preissteigerungen, die Verbannung der Obdachlosen, die Sperrung von Straßen und die Schwierigkeiten, die eigene Wohnung zu erreichen, die verrotteten Sportstätten in früheren Olympia-Städten, das alles hat der hanseatische Pfeffersack-Journalist nicht auf dem Zettel. Und auch die Frage „hat Olympia die sozialen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen in den Vorstädten von Paris, wo die Armen wohnen, also in den Banlieus, verbessert?“ stellt sich ihm nicht. Na gut – dass HH nicht in der Lage ist, den Einwohnern und Touristen eine ausreichende Anzahl unentgeltlich zu benutzender Toiletten hinzustellen, lässt er ja auch unerwähnt…
Es stellt sich also die Frage: Kann man eine Stadt nur mit Hilfe von olympischen Spielen verschönern und modernisieren? Nein, natürlich nicht, wenn man das dafür notwendige Geld aufbringt, aber das steckt ja leider in irgendwelchen Offshore-Konten, in Kriegsvorbereitungen und anderen unnützen Subventionen, wenn nicht sogar (horribile dictu) im Bürgergeld, im Wohnungsbau oder im Gesundheitswesen. Olympia in Paris hat viele Milliarden € gekostet. Wer für diesen Zirkus so viel Geld verplempert, aber nicht mal in der Lage ist zu garantieren, dass die Wasserqualität der Seine normalen Badebetrieb erlaubt, muss sich über nichts mehr wundern. Für den hat sich diese Welt erledigt.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.
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