Pflegenotstand: Würde eine späte Anerkennung der DDR-Fachkräfte helfen? – Das Qualifikationsniveau des DDR-Gesundheitspersonals war sehr hoch. Nach der Wende wurden aber viele aus ihrem Beruf gedrängt oder in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungen.

Vor 50 Jahren führte die DDR für zunächst 13 Berufe die dreijährige medizinische Fachschulausbildung (wieder) ein. Im heutigen Verständnis war das medizinische Fachschulstudium nicht akademisch, aber dennoch war es eine wesentlich höhere Qualifikation als eine Berufsausbildung. Da nach der Wende viele „West“-Strukturen übernommen wurden, ist oft kein direkter Vergleich möglich. Sicher sagen lässt sich allerdings, dass das Qualifikationsniveau der Fachschulausbildung sehr hoch war.

Am 1. September 1974 begannen 12.000 junge Menschen an einer von 58 medizinischen Fachschulen der DDR zu studieren. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden zahlreiche Qualifikationen und Berufsabschlüsse der Gesundheitsfachberufe nicht anerkannt. Politische Fehlentscheidungen, aus Unwissenheit oder Ignoranz getroffen, wurden bis heute nicht korrigiert. Dabei sind sie mitverantwortlich für den beklagten Fachkräftemangel im Gesundheitswesen. Und für Frust.

Zu den ab 1974 fachschulisch ausgebildeten medizinischen Berufen gehörten unter anderem die Krankenschwester/der Krankenpfleger, die Sprechstundenschwester, die Kinderkrankenschwester und die Krippenerzieherin.

Was den im Einigungsvertrag „vergessenen“ und infolge rechtlicher Festlegungen aus ihrem Beruf gedrängten oder in prekäre Arbeitsverhältnisse gezwungenen Sprechstundenschwestern und Krankenpflegern widerfuhr, wurde auch in der Berliner Zeitung thematisiert. In einem Leserbrief Ende Oktober 1991 berichten die Gesamtelternsprecherin und die Direktorin des „Zentrums für körperbehinderte Kinder und Jugendliche“, wie eben jenes Zentrum personell umgebaut werden sollte:

„Im Juni 1991 waren die Stellen des medizinischen Bereichs der Schule neu ausgeschrieben worden. Die Bewerbungen von zwei Krankenpflegern und einer Sprechstundenschwester wurden zurückgewiesen, weil sie nicht die Qualifikation als examinierte Krankenschwestern besaßen. Nun aber stellt sich heraus, daß die drei durchaus hätten eingestellt werden können. Denn bezahlt werden sollen die in der Körperbehindertenschule arbeitenden Schwestern nicht nach ihrer Ausbildung, sondern viel niedriger – als Arzthelferinnen. Im Umgang mit behinderten Kindern muß eine Schwester aber theoretische und praktische Kenntnisse über eine Vielzahl von Krankheitsbildern von Kindern besitzen. Sie muß zum Wohle der Kinder eigenverantwortliche Entscheidungen treffen, mit denen eine Arzthelferin gewiß nicht konfrontiert wird.“

Die Autorinnen kritisieren die Rückstufung in die Vergütungsgruppe der Arzthelferinnen: „Die Rückstufung der Krankenschwestern ist eine unverständliche Nichtachtung ihrer Tätigkeit“. Krippenerzieherinnen oder Hygieneinspektoren und weitere Berufe erlebten später ähnliches.

Mangelnde Anerkennung

Examinierte Sprechstundenschwestern mussten sich 1991 vom Juristen Dieter Lullies, damals leitender Senatsrat der Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit und als „Totengräber der Polikliniken“ in die Geschichte eingegangen, in der Fachzeitschrift „Heilberufe“ belehren lassen, dass ihr Beruf in der Bundesrepublik kein Beruf sei. Die dort übliche Arzthelferin, gelernt oder ungelernt, sei „mehr eine Mischung aus Praxishilfe und Abrechnungsverwaltung und unterliegt dem Berufsbildungsgesetz“.

Sprechstundenschwestern und Stomatologische Schwestern (heute Zahnmedizinische Fachangestellte) bliebe ihr Beruf erhalten, „nur gibt es für sie keine Arbeit“. Umschulen könne man zur Arzthelferin, Zahnarzthelferin als Krankenschwester. Lullies ist seit über drei Jahrzehnten Vorstandsvorsitzender der Akademie der Gesundheit Berlin/Brandenburg e.V., die in zahlreichen Gesundheitsfachberufen ausbildet, inzwischen auch hochschulisch.

Doch warum sollten Sprechstundenschwestern als für die ambulante Versorgung spezialisierte Pflegekräfte bei nahezu gleichen Voraussetzungen eine zweijährige Umschulung zur Krankenschwester absolvieren? Die ab 1974 in der DDR gültigen Rahmenlehrpläne der Fachrichtungen Krankenpflege und Sprechstundenassistenz sahen das dreijährige Direktstudium, identische Voraussetzungen und einen identischen Gesamtstundenumfang von 4.867 Stunden vor. Die Theorie war also identisch (Rahmenlehrpläne), im Praktischen gab es geringe Unterschiede, die sich auf die ambulante bzw. stationäre Versorgung bezogen.

Einem Dokument des DDR-Instituts für Weiterbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte aus dem Jahr 1981 zufolge, sollten Krankenschwestern Mitte der 1970er-Jahre nur im Ausnahmefall im ambulanten Bereich eingesetzt werden, da sie für die stationäre Versorgung dringend gebraucht wurden. In der hausärztlichen Sprechstunde, vor allem im ländlichen Versorgungsgebiet, wurde stattdessen „eine zielgerichtet ausgebildete und disponibel einsetzbare Sprechstundenschwester“ für erforderlich gehalten.

Diese musste bei kleinen chirurgischen Eingriffen assistieren, Höhensonne und Kurzwelle bedienen können, bestimmte Laboruntersuchungen durchführen und EKGs ableiten können, die Dispensairebetreuung, also die Versorgung chronisch Kranker, managen und Screeningmethoden anwenden.

Diese Kenntnisse fehlten stationär tätigen Krankenschwestern ebenso wie die Voraussetzungen, um einen reibungslosen Sprechstundenablauf zu organisieren und zahlreiche verwaltungstechnische, schriftliche und Dokumentationsaufgaben zu bewältigen. Zudem erwarteten Bürger im zunehmenden Maße ständige Zugänglichkeit und Hilfe der ambulanten Betreuung auch außerhalb der regulären Arbeitszeit.

Bereits 1978 hatte dasselbe Institut festgehalten: „Für die Schwester in ambulanten Gesundheitseinrichtungen ergibt sich daraus die Konsequenz, in Früh- und Spätsprechstunden, ggf. sonnabends und sonntags Dienst zu tun. Mit der Verlagerung der Betreuung der Patienten mit chronischen Erkrankungen obliegt künftig dem ambulanten Bereich des Gesundheitswesens auch die Einleitung und Überwachung von Maßnahmen der Rehabilitation und der sekundären und tertiären Prävention; dazu brauchen die Schwestern zusätzliches Wissen und Können.“

Geht man davon aus, dass die meisten der 12.000 Personen, die im Jahr 1974 ein medizinisches Fachschulstudium aufnahmen, 16 Jahre jung waren, so sind diese Angehörigen des Geburtsjahres 1958 heute in den meisten Fällen in Rente oder stehen kurz davor. Doch die im Gesundheitswesen tätigen Babyboomer bekamen bis 1989 zahlreiche an medizinischen Fachschulen ausgebildete Kolleginnen und Kollegen. Wie viele Menschen heute noch in ihrem in der DDR erlernten Gesundheitsberuf arbeiten, ist nicht erforscht. Insgesamt war die Qualifikationsquote im DDR-Gesundheitswesen sehr hoch.

Was bedeutet all das nun für heutige Diskussionen?

Über die kürzlich vom amtierenden Bundesgesundheitsminister ins Gespräch gebrachte „stambulante Versorgung“ (gemeint ist eine Kombination aus stationärer und ambulanter Versorgung) schütteln vermutlich gerade in der DDR ausgebildete Gesundheitsfachkräfte den Kopf. Warum? Die Mischform aus stationärer und ambulanter Pflege wurde in der DDR täglich in Polikliniken praktiziert, tatkräftig unterstützt von gesellschaftlich hochanerkannten und bekanntlich ebenfalls abgewickelten Gemeindeschwestern. Längst hat man diese systemverdächtige Struktur durch die Hintertür wieder eingeführt – nun als Medizinisches Versorgungszentrum.

Community Health Nurses müssen heute ein Masterstudium absolviert haben. Sie werden dringend gebraucht, aber ihr Wirken ist nicht gesichert finanziert. Der Wettbewerb zwischen den Sektoren ambulant und stationär zeigt krankhafte Symptome. Das Ausspielen von Gesundheitsfachkräften gegeneinander gehört dazu, wie beispielsweise das Abwerben von Medizinischen Fachangestellten aus niedergelassenen Praxen in Kliniken, Krankenkassen, Behörden etc. zeigt. Sie fehlen dann in den Arztpraxen.

Examinierte Sprechstundenschwestern (männliche Absolventen sind nicht bekannt), die zu DDR-Zeiten qualifiziert genug waren, um die Gemeindeschwester zu vertreten, kämpfen auch nach einer im Jahr 2009 vom Deutschen Bundestag positiv beschiedenen Petition für die Gleichstellung ihres Berufes. Trotz nachgewiesener, teils sogar höherer Qualifikation als Krankenschwestern und -pfleger sowie nachgewiesenen praktischen Fähigkeiten im ambulanten und stationären Sektor, wird ihnen die Zugehörigkeit zur Profession Pflege verwehrt. Eine Statistik der zuständigen Ostbundesländer existiert nicht. Examinierte Sprechstundenschwestern werden auf Hilfskraftniveau vergütet und verdienen bis zu 800 Euro monatlich weniger als examinierte Pflegefachkräfte. Damit ist Altersarmut vorprogrammiert.

Diese skandalösen Umstände gehören Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung und angesichts des anhaltenden Fachkräftemangels dringend diskutiert.

Dagmar Möbius (*1965 in Dresden) war selbst examinierte Sprechstundenschwester. Sie ist seit 35 Jahren als freiberufliche Journalistin mit Schwerpunkt Gesundheit und Soziales tätig und hat ein Bachelorstudium für Interprofessionelle Gesundheitsversorgung absolviert. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.

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