Die Interdependenz zwischen der zunehmenden Anwendung digitaler Informationsquellen und der Leistungsfähigkeit von Gedächtnis und Erinnerung der Menschen ist inzwischen unstrittig. Die Digitalisierung beeinträchtigt das Gedächtnis, weil dieses nicht mehr wie bislang gefordert und trainiert wird. Sie macht träge, weil das Gehirn von der Reiz- und Informationsüberflutung überfordert ist. Dank der Internet-“Auskunfteien“ gewöhnt sich unser Gehirn immer mehr daran, nichts zu lernen.
Inzwischen gibt es zunehmende Hinweise aus der Wissenschaft, dass es auch eine Interdependenz zwischen dem menschlichen Orientierungssinn und der Nutzung von Navigationsgeräten gibt. Eigentlich kann das nicht überraschen, denn es geht wiederum um die Entlastung des menschlichen Gehirns durch technische Angebote. Unser Orientierungssinn kann nämlich durch Übung und Gedächtnistraining gesteigert, aber auch durch fehlende Praxis und Nutzung beeinträchtigt werden.
Wie ein Navigationsgerät oder ein vergleichbares Instrument arbeitet, wird den meisten klar sein, auch wenn es unterschiedliche Systeme gibt. Jeder Neuwagen und nahezu jedes Smartphone sind damit ausgestattet. Was verstehen wir jedoch unter Orientierungssinn, wie funktioniert er und wie kann er gesteuert und beeinflusst werden?
Kurz gesagt bezeichnet Orientierungssinn die Fähigkeit von Menschen (und Tieren), sich räumlich einordnen, richtungsbezogen zurechtfinden und zielgerecht bewegen zu können. Zu den Instrumenten, die dies ermöglichen, zählen Sehen und Hören, Gleichgewichtssinn (Muskelsteuerung), Gedächtnis und Aufmerksamkeit. Tiere verfügen oft noch über andere Orientierungshilfen: Geruchssinn, Temperaturempfinden, Magnetismus, Sonnenlicht, Orten von Strömungen und Erschütterungen. 2)
Einige Grundfähigkeiten des Menschen zur räumlichen Orientierung sind angeboren, doch kann der Orientierungssinn durch Übung und Gedächtnistraining wesentlich verbessert werden. Je nach Lebensweise und Kulturraum und abhängig von Erfahrung und Anwendung kann der Orientierungssinn des Menschen sehr unterschiedlich sein. Die Einübung der räumlichen Orientierung beginnt schon im Kleinkindalter und entwickelt sich abhängig davon, wie viel Gelegenheit die Menschen haben, sich eigenständig fortzubewegen.
Die großräumige Orientierung, die zumeist unbewusst erfolgt, benutzt Himmelsrichtungen, Landschaftsprofile, Straßen, Gebäude und vergleichbare Punkte. Sie ist stärker durch Denken, Erfahrung und Vorstellungen geprägt. Zum Beispiel wird man sich beim Gehen oder beim langsamen Fahren den Standort durch Richtung und Entfernung, durch geografische Strukturen wie Wege, Grenzen, Gewässer, Hügel oder auffällige Gebäude oder durch markante Punkte (visuelle Reize, Geräusche, Gerüche, Wegweiser) merken.
Interessant ist, dass eine Kindheit in ungeordneten ländliche Strukturen oder historisch gewachsenen Orten die Entwicklung der Orientierungsfähigkeit stärker fördert als das Aufwachsen in gut gegliederten Städten. Eine Studie mit fast 400.000 Personen hat diese Er-kenntnis bestätigt. Der Umstand, dass die Navigationsfähigkeiten der Menschen unterschiedlich gut sind, wird erstens auf diese Kindheitsumgebung zurückgeführt, zweitens auf genetische Bedingungen und drittens auf Ausbildung und Erfahrung.
Um sich zurechtzufinden, besitzt der Mensch sogenannte mentale oder kognitive Karten, also im Gehirn erstellte und gespeicherte Abbilder bekannter Umgebungen. So ist vielleicht beim zweiten Besuch einer Stadt kein Stadtplan mehr erforderlich. Instinktiv werden bekannte Routen bevorzugt, jedoch ist der Mensch auch in der Lage, alternative Wege zu nehmen, wenn eine Strecke gesperrt ist oder er sich verlaufen hat. Solche mentalen Karten in unserem Kopf sind jedoch keine exakte Wiedergabe unserer Umgebung. In der eigenen Wohngegend sind die Informationen zumeist detaillierter, in entfernten Gegenden oft nur fragmentarisch.
Menschen sind ganz unterschiedlich begabt darin, ein räumliches Verständnis zu entwickeln. Vielleicht spielt dabei die Kapazität des visuell-räumlichen Arbeitsgedächtnisses ein Rolle. Und es scheint eine Frage der Übung zu sein. Überraschenderweise gibt es einen Unterschied zwischen Frauen und Männern. Beide sind etwa gleich gut, sich zurechtzufinden. Doch während sich die Frauen eher an Gebäuden und anderen Landmarken orientieren, nutzen Männer eher Himmelsrichtungen und Entfernungen.
Welche Wirkung das Training des Orientierungssinns hat, zeigte eine Untersuchung bei Londoner Taxifahrern. Sich in dieser Stadt zurechtzufinden, ist offenbar wegen vieler verwinkelter Straßen sehr anspruchsvoll. Die Zulassungsprüfungen bestätigten dann den Wert der Ausbildung. MRT-Untersuchungen ergaben, dass bei den erfolgreichen Absolventen bestimmte Teil des Gehirns stärker ausgeprägt waren als bei Kontrollprobanden.
Früher nutzte man Landkarten und Stadtpläne. So wurde die Umgebung Teil des persönlichen Erlebens und stand bei einem erneuten Besuch der Gegend zur Verfügung. Ein Navi leitet uns dagegen automatisch. Für den Orientierungssinn bedeutet dies, dass das Gehirn im Leerlauf verharrt. Durch die Konzentration aufs Navi verlieren wir den Blick auf Gebäude, Landschaft, Sehenswürdigkeiten usw. Wir lernen kaum etwas über die Umgebung und wenig über die Straßenführung. Oft bleibt das Gefühl, dass man nichts von der Strecke weiß oder in Erinnerung behält, die man gerade gefahren ist.
Das Navi zeigt immer nur einen kleinen Ausschnitt der Gegend, in der wir uns befinden. Die Darstellungen darin werden stark schematisiert und auf Straßen und Kreuzungen reduziert. Es gibt keinen Gesamtüberblick, markante Punkte wie Berge, Wälder, Kirchen oder andere Gebäude, an denen wir uns orientieren können, tauchen nicht auf. Aufgrund der Tatsache, dass das Navi stets die von ihm empfohlene Wegführung optisch hervorhebt, erhält man kein Gefühl für die Struktur einer Stadt. Wer stets mit dem Navi durch die Stadt fährt, baut keine mentale Karte auf. Im Grenzfall kennen wir die Welt nur noch so, wie das Navi sie sieht.
Es ist bequem, sich von einem Navigationsgerät leiten zu lassen. Für die allermeisten ist es inzwischen eine Selbstverständlichkeit. Manche kommen gar nicht mehr ohne digitale Hilfsmittel aus. Ein Navi arbeitet präzise, allerdings nur in dem ihm „eingepflanzten“ Rahmen. Es erreicht keineswegs die breiten Fähigkeiten des menschlichen Gehirns. Ohne Navi (z.B. weil der Akku leer ist oder weil es keinen GPS-Empfang gibt) haben wir Probleme mit dem Rückweg. Auch wenn wir den ganzen Hinweg zu Fuß gegangen sind, sind wir plötzlich orientierungslos.
Auch ist nicht ausgeschlossen, dass Irrtümer passieren, zum Beispiel durch Schreibfehler beim Eingeben des Ortes. Bekannt ist der Fall, wo das Navi eine Fähre anzeigte, der Fahrer jedoch eine Brücke „erkannte“ und somit im Fluss landete. Vor blindem Vertrauen ins Navi muss man daher warnen. Es kann zu bösen Überraschungen und sogar zu Unfällen führen. Schuld an Pannen jeder Art ist dann stets das Navigationsgerät und nicht der Fahrer.
Manchmal wird das Navigationsgerät mit dem Taschenrechner verglichen. So wie dieser dafür sorgt, dass man das Kopfrechnen verlernt, sorgt das Navi dafür, dass die Orientie-rungsfähigkeit schwindet. Es gibt also eine Vielzahl von Erkenntnissen, die darauf hindeu-ten, dass das Orientierungsvermögen verkümmert, wenn man sich nur auf ein Navigationssystem verlässt. Eindeutig bewiesen ist, dass Übung und Anwendung die Orientierungsfähigkeit steigern. In der Literatur finde sich einige Tipps, wie man dies versuchen kann:
- # Wenn man das Navi auf Norden ausrichtet, dreht sich die Karte nicht mehr und der Fahrende muss mitdenken (wie früher bei den Landkarten).
- # Wenn man jemandem erklärt, wohin man will und wie man dahin kommen will, trainiert man sein Vorstellungsvermögen.
- # Wenn man das Navi nur dosiert einsetzt und ansonsten auf Landkarte und Erinnerung zurückgreift, trainiert man sein Gehirn.
- # Man sollte das Navi nur bzw. erst dann einschalten, wenn die Gegend tatsächlich unbekannt ist und man ohne Navi nicht mehr weiterkommt.
# Auf einfachen und gut beschilderten Strecken sollte man das Navigationsgerät gar nicht verwenden.
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