Bolivien: politische Bestandsaufnahme zwei Monate nach der Militärrevolte
Im Juli wollten auch bolivianische Politiker*innen nach Venezuela reisen, um die Wahlen zu beobachten. Doch die Regierung des Bruderlandes verwehrte ihnen die Einreise. Sorgenh um die Zukunft der Demokratie in Bolivien selbst muss man sich allerdings auch machen. Schließlich sind für August 2025 Neuwahlen geplant, und die bolivianische Regierung lässt sich von cubanischen und venezolanischen Geheimdienstlern beraten. Doch weil die Regierungspartei MAS aktuell gespalten ist, wackelt ihre Macht.
Präsident Luis Arce hat seit einigen Monaten keine Mehrheit mehr im Parlament. Skandale erschüttern das Vertrauen auch in andere Institutionen, wie Parteien, Justiz, Presse und selbst die Kirche, wie eine aktuelle Befragung der Friedrich-Ebert-Stiftung ergeben hat. Die bolivianische Wirtschaft ist auf Talfahrt, und in den Kassen ist zu wenig Geld, um die bisherige Politik der Subventionen aufrechtzuerhalten oder gar mit neuen Programmen die Gunst des Wahlvolks zurückzugewinnen. Nur ein Beispiel: Die Stadtverwaltung der Wirtschaftsmetropole Santa Cruz hat aus Kostengründen sogar die Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag abgesagt. Am 6. August räumte Präsident Luis Arce ein, dass es eine Wirtschaftskrise gebe – nachdem er sie lange geleugnet hatte. Die Währungsreserven sind aufgebraucht, der Staat hat als Kreditnehmer bereits auf die Rentenfonds zurückgegriffen. Nun will die Regierung auch noch mit CO2-Emissionszertifikaten handeln, obwohl der Präsident dies 2021 auf der COP 26 in Glasgow noch als „Kohlenstoffimperialismus“ abgelehnt hatte. Laut bolivianischer Verfassung ist der Handel mit Emissionszertifikaten untersagt. Anders als das Vizepräsidentschaftsamt des Landes befand das Verfassungsgericht jedoch einen Teil des Gesetzes über die Mutter Erde, der einen solchen Handel verwirft, für nicht verfassungskonform und machte damit den Weg frei für ihn.
Verantwortlich für die gegenwärtigen wirtschaftlichen Probleme seien nicht die defizitären Staatsbetriebe oder die Ineffizienz bei der Lithiumförderung und der Erschließung neuer Gasvorkommen. Auch nicht die Subventionen für Gas, Diesel und Benzin, die jährlich Milliarden verschlingen und das Haushaltsdefizit vergrößern. Nein, verantwortlich für die miserable ökonomische Lage seien, so Präsident Arce, die Weltwirtschaft, das bolivianische Parlament, das zu wenig neue Kredite genehmige, Spekulant*innen, die zum Wertverlust der bolivianischen Währung geführt hätten, oder die ständigen Straßenblockaden seines Hauptkonkurrenten Evo Morales beziehungsweise von Interessengruppen wie den Transportunternehmen. Die schenken nämlich, angesichts häufig tagelanger Wartezeiten an den Tankstellen, den wiederholten Versprechen der Regierung keinen Glauben mehr. Sie sind aber eher Betroffene der Wirtschaftskrise als deren Verursacher.
Soll die Bevölkerung über Kurskorrekturen entscheiden?
Bei seiner Festrede am Nationalfeiertag hatte Luis Arce Lösungsvorschläge parat: Eine Treibstoffsorte höherer Qualität soll eingeführt werden, die dem deutschen Superbenzin entspricht und das Doppelte des bisherigen Preises kosten wird. (1) Außerdem soll eine Volksabstimmung über die Abschaffung der Benzin- und Dieselsubventionen abgehalten werden. Frühere Versuche, die Preise zu erhöhen, waren stets an massiven Protesten gescheitert, obwohl die Agrarindustrie dies schon lange fordert. Teures Diesel sei besser als gar kein Diesel, vor allem in der Erntezeit.
Gleichzeitig soll die Bevölkerung auch über die Verfassung abstimmen. Im Klartext: über die Frage, ob sich Arces Konkurrent Evo Morales erneut zur Wahl stellen darf. Eine Wiederwahl ist laut Verfassung derzeit eigentlich möglich. Das Verfassungsgericht hatte zwar 2019 jegliche Begrenzung als menschenrechtswidrig erklärt (2), nun aber hat es auf Wunsch der Regierung Arce – und auf Kosten von Evo Morales – eine neue gegenteilige Interpretation des eigentlich klar formulierten Paragrafen abgeliefert. Auch über ein drittes Thema sollte das Volk abstimmen: die Neuverteilung der Abgeordnetensitze nach der Veröffentlichung der Ergebnisse des Zensus. Dabei ist die Rechtslage genauso klar. Die Sitze müssen gemäß der tatsächlichen Bevölkerungszahlen in den verschiedenen Regionen verteilt werden, weshalb Konflikte in den Regionen zu erwarten sind, aus denen Menschen in andere Regionen migriert sind. Dieses dritte Thema wurde allerdings vom Wahlgerichtshof zurückgewiesen. Bei der von Arce vorgeschlagenen Volksabstimmung handelt es sich weniger um Basisdemokratie. Vielmehr ist sie eine praktische Lösung für den Präsidenten, der sich offenbar nicht traut, nötige Entscheidungen zu treffen, und der in den Beliebtheitsrankings immer weiter nach unten rutscht.
Dieser Abwärtstrend konnte nur kurzfristig gebremst werden durch die Militärrevolte Ende Juni unter der Ägide des Arce-Vertrauten General Zuñiga, in deren Folge der Präsident Solidaritätsbekundungen aus allen politischen Lagern und aus dem Ausland erhielt. Und dies, noch bevor die Debatte darüber begann, ob es sich tatsächlich um einen Putschversuch gehandelt hatte oder um eine bestellte, aber aus dem Ruder gelaufene Aktion, um das Image der Regierung aufzupolieren.
Drohende Inflation und wirtschaftlicher Alltagsverstand
Nun stehen die wirtschaftlichen Probleme der Menschen wieder im Mittelpunkt. Busfahrer wie Bäcker fordern eine Erhöhung der staatlich festgelegten Tarife. Der staatliche Lebensmittelversorger EMAPA komme mit den Lieferungen des ebenfalls subventionierten Mehls nicht mehr nach. Deswegen hat die Regierung nun die Abschaffung der Importzölle für Mehl beschlossen. Auch Präsident Arces Lösungsvorschlag für das Benzin haben die Bäcker übernommen: Sie würden die Versorgung mit dem preislich festgelegten Standardbrot reduzieren und andere – nicht preislich festgelegte – teurere Brotsorten anbieten.
Auch die Geflügelproduzenten bekommen zu wenig subventionierten Mais, sind auf Zukäufe zu höheren Preisen angewiesen und drohen, die Produktion zu reduzieren, sollte die Regierung den festgelegten Verkaufspreis nicht erhöhen. Da nützt es auch nicht viel, dass der Vizeminister für Verbraucherschutz alle diejenigen als Spekulanten bezeichnet und teilweise festnehmen lässt, die ihre Produkte zu höheren als den staatlich fixierten Preisen verkaufen. Eine Erhöhung der Preise würde allerdings die Inflationsrate anheizen. Sie lag im Juli zum Erstaunen derer, die täglich ihre Einkäufe tätigen, bei offiziell nicht einmal vier Prozent. Vermutlich verwendet das nationale Statistikinstitut bei seiner Berechnung vor allem die subventionierten Produkte des staatlichen Versorgungsbetriebes, die mit den privaten Anbietern konkurrieren, dabei allerdings weit davon entfernt sind, den Bedarf abzudecken.
Eine Umfrage der feministischen Journalistin María Galindo vor kurzem in einem populären Marktviertel von La Paz zeigte, dass nicht nur Ökonomen die aktuelle Wirtschaftspolitik kritisieren. Die Befragten gingen aber auch nicht davon aus, dass Wirtschaftsexpert*innen oder oppositionelle Parteien nach den Wahlen Lösungen parat hätten. Die Händlerinnen und Händler vertrauen lieber ihrer eigenen Fähigkeit zu improvisieren, sich durchzuwurschteln, und vor allem ihrem Fleiß, mit dem sie ihre geschäftlichen Schwierigkeiten zu kompensieren versuchen. Von der von Präsident Arce vorgeschlagenen Volksbefragung halten sie wenig. Warum sollte die Bevölkerung für einen Abbau der Subventionen stimmen, auch wenn sie weiß, dass es wirtschaftspolitisch geboten wäre?
Schulterschluss mit den Unternehmensverbänden und neue politische Allianzen
Im Vorfeld der Verhandlungen zwischen Regierung und Unternehmensverbänden schlug ein verwandelter Evo Morales im August unter anderem Public Private Partnerships, mehr Rechtssicherheit für Investoren, Steuererleichterungen für Importe zur Förderung internationaler und nationaler Privatinvestitionen, günstige Kredite für kleine wie große Unternehmen, Steuersenkungen auf Nahrungsmittel sowie die Erleichterung des Einsatzes von Biotechnologie (konkret: von gentechnisch verändertem Saatgut) als Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise vor. Dass diese Vorschläge dann auch auf dem nachfolgenden Treffen der Regierung mit den Unternehmensverbänden vereinbart wurden, zeigt nicht nur, dass von den Ideen des „Neuen sozialen, kommunitären und produktiven Wirtschaftsmodells“ der „Bewegung zum Sozialismus“ nicht mehr viel übrig geblieben ist. Es zeigt auch, dass sich die Differenzen zwischen Arce und Morales eher auf die Frage beschränken, wessen Anhänger*innen künftig den Staatsapparat kontrollieren sollen.
Angesichts der hohen Ablehnung von Evo Morales in der Bevölkerung außerhalb der eigenen Partei und der sinkenden Zustimmungsraten des derzeitigen Präsidenten Arce könnte sich die MAS aber auch auf einen dritten, einen Kompromisskandidaten einigen. Oder aber jenseits der Partei einen Pakt mit einem der populistischen Bürgermeister eingehen, denen die MAS (auf Kosten der eigenen Kandidaten) durch strategischen Stimmeneinsatz bei den letzten Regional- und Kommunalwahlen ins Amt geholfen hatte, um Siege der Opposition zu verhindern. Etwa Jhonny Fernández aus Santa Cruz, der bereits angekündigt hat, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Oder eher noch der Ex-Militär Manfred Reyes Villa, lange Zeit im Exil und erklärter Gegner der MAS. Heute hält er sich meist dezent zurück, wenn es darum geht, die bolivianische Regierung zu kritisieren (geschweige denn, nach venezolanischem Vorbild eine*n gemeinsamen Oppositionskandidaten oder -kandidatin zu küren). Reyes Villa hat bereits 42 bisherige Oppositionsabgeordnete von Fernando Camachos CREEMOS und Carlos Mesas Comunidad Ciudadana für seine eigene Gruppierung abgeworben, um, wie er sagt, „Themen, die Präsident Arce auf die Tagesordnung gesetzt hat“, zu anzugehen. Dazu gehört die Bewilligung der von Arce gewünschten neuen Kredite. Er wolle das Volk einen, sagt Reyes Villa, wie er es bereits in Cochabamba geschafft habe. Zunächst wird er offenbar erst einmal Mehrheitsbeschaffer für Präsident Arce im Parlament, damit dieser die Regierungsfähigkeit zurückgewinnt. Wie stabil solche neuen Allianzen – über ideologische Gräben hinweg – sein können, oder ob es sich nur um einen Versuch handelt, den politischen Konkurrenten für die eigene Macht zu instrumentalisieren, wird sich noch zeigen müssen.
(1) Das subventionierte Benzin wird weiter knapp bleiben. Wer es sich leisten kann, wird auch das teurere kaufen. Die Subventionen werden zum Teil abgeschafft, ohne dies offiziell so zu nennen. Die bisherige Qualität hat nicht den Standards entsprochen, die die neuen Motoren erfordern.
(2) Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes 2017 erklärte unbegrenzte Kandidaturen zum „Menschenrecht“. So konnte Morales 2019 für eine vierte Amtszeit kandidieren. Die Richter beschlossen dies, obwohl die Verfassung maximal zwei aufeinander folgende Amtszeiten festlegt. Sie gaben damit einer Verfassungsbeschwerde einer Senatorin und von Abgeordneten der Regierungspartei MAS statt.
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 478 Sep. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn.
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