Ein Diskussionspapier der Initiative “Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder!” (Auszüge)
Das internationale System befindet sich in einem Umbruch von historischer Tragweite. Die Dominanz der USA geht zu Ende. Eine neue Hegemonialmacht wird es auf absehbare Zeit nicht geben. Es entsteht eine multipolare Weltordnung. Keine der heute lebenden Generationen kennt ein solches System aus eigener Erfahrung.
Der Umbruch wirft neue Fragen zu Krieg und Frieden auf. So zur Positionierung der Friedensbewegung in der Rivalität der Großmächte, zu Stabilitätsrisiken eines multipolaren Systems, zum Verhältnis von internen Verhältnissen eines Landes und internationalem System sowie zum Zusammenhang von Krieg und Frieden mit den globalen Problemen von Klimawandel, Armut, technologischen Umwälzungen wie Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Wir haben es mit einer enorm gesteigerten Komplexität zu tun.
Aufgabe von Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit ist es, Antworten auf die neuen Entwicklungen der Weltordnung zu finden und sie strategisch zu verarbeiten.
Der vorliegende Text will zur Diskussion über die Veränderungen der machtpolitischen Struktur und Dynamik des internationalen Systems und die Konsequenzen daraus für Friedenspolitik anregen. Dabei haben wir nicht den Anspruch, die Thematik in all ihren Dimensionen behandelt zu haben. Kommentare, Kritik und Widerspruch sind willkommen. Wichtig ist, dass die Diskussion in Gang kommt.
1. Die Umbrüche im internationalen System verstehen
Die zentrale Determinante für Struktur und Dynamik des internationalen Systems ist auf absehbare Zukunft seine Transformation zu einem polyzentrischen System. Die Transformation ist unaufhaltsam. Die geopolitische Dominanz der USA und ihrer Verbündeten endet. Sie führt zur „Entwestlichung“ der internationalen Machtverhältnisse. Das ist die eigentliche Zeitenwende. Es entsteht eine Pluralität von geopolitischen Machtzentren, die jedoch unterschiedliches Gewicht haben.
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1.4. Die EU in der neuen Weltordnung
Im Jahr 1900 stellte Europa fast ein Viertel der Weltbevölkerung. Gegenwärtig sind es für die EU noch 5,5%, die bis 2050 auf 4,5% sinken werden. Schon jetzt hat sich der Schwerpunkt der Weltwirtschaft vom transatlantischen Raum nach Ostasien verlagert. Für 2050 wird ein Schrumpfen des EU-Anteils am globalen BIP von derzeit 14% auf 9% prognostiziert. 1980 waren es noch über 20%.
In einer multipolaren Weltordnung möchte die EU eigenständiger Pol sein, auf Augenhöhe mit den USA und China. Dazu sollen alle Politikfelder in den Dienst der geopolitischen Ambitionen gestellt werden: Klima, Energie- und Rohstoffe, Wirtschaft, Technologie, Medien etc. In Worten des Strategischen Kompasses heißt es, „die volle Bandbreite der EU-Politik und ihre Hebel als Machtinstrumente zu nutzen.“ Auch die Erweiterungspolitik wird zum geopolitischen Machterwerb genutzt.
Bei der EU ist jedoch der Unterschied zwischen Wollen und Können besonders groß. Sie ist kein Staat, sondern ein Hybrid aus Staatenallianz und supranationalen Elementen von Staatlichkeit. Mit dieser komplizierten Konstruktion verfügt sie über deutlich weniger Handlungsfähigkeit als ein klassischer Staat. Akut setzen Wachstumsschwäche und Verluste bei Wettbewerbsfähigkeit und Spitzentechnologien die EU enorm unter Druck, während die internen Widersprüche und zentrifugalen Tendenzen zunehmen, wie u.a. die Wahlen zum EU-Parlament 2024 zeigten.
Hinzu kommt, dass die NATO einer geopolitischen Eigenständigkeit der EU enge Grenzen setzt. Das führt in den Essentials internationaler Politik zur Unterordnung unter die USA.
Von einigen Mitgliedsländern, vor allem im Osten, ist das so gewollt. Sie vertrauen den USA mehr als den EU-Führungsmächten Frankreich und Deutschland. Selbst mit Trump würde sich an der Unterordnung unter die USA nichts grundsätzlich ändern. Er will vor allem NATO-Europa stärker an den Kosten für die Sicherung der US-Hegemonie beteiligen und die Lasten des Ukrainekriegs abwälzen. Solange die NATO existiert, dürfte der Wunsch der EU nach autonomem Weltmachtstatus unerfüllt bleiben.
Vor diesem Hintergrund ist die Kontroverse um ‚strategische Autonomie‘ und ‚Transatlantismus‘ Ausdruck von Abstiegsängsten: „Die nächsten Jahrzehnte werden diesen Kontinent grundlegend herausfordern, … ich fürchte wir werden außenpolitisch ein Zwerg bleiben, wenn wir nicht aus der Einstimmigkeit herauskommen“, so Manfred Weber, Fraktionschef der Konservativen EVP im EU-Parlament (EP). Nach 500 Jahren Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus Europas ist das eine schwere Kränkung für das Selbstwertgefühl der Funktionseliten und ihr Überlegenheitsdenken. So heißt es schon 2016 in einer Resolution des EU-Parlaments „dass die EU ihre Sicherheits- und Verteidigungsfähigkeiten stärken muss, da sie ihr volles Potenzial als Weltmacht nur nutzen kann, wenn sie ihre einzigartige ‚Soft Power‘ im Rahmen eines umfassenden EU-Ansatzes mit ‚Hard Power‘ kombiniert“.
In solchen Formulierungen schimmert Panik vor dem Abstieg durch. Sie ist ein starker Treiber für die Militarisierung und den Bellizismus. Symptomatisch dafür ist die Resolution des neuen Europaparlaments zur Ukraine vom Juli 2024, die vom Geist militaristischer Durchhalteparolen durchtränkt ist, während das völkerrechtliche Gebot zu Diplomatie und Verhandlungen nicht vorkommen. Dazu passt auch die Nominierung von Kaja Kallas, einer fanatischen Russenhasserin, als Außenbeauftragte.
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2. Der zentrale Konflikt auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung
Eine multipolare Weltordnung ist ein Schritt zur Pluralisierung der internationalen Beziehungen und zu realem Multilateralismus. Sie erweitert für aufsteigende Länder die Teilhabe an Entscheidungen über die Entwicklung des internationalen Systems. Zugleich erhöht sich die Handlungsmacht mittlerer und kleinerer Länder. Es entstehen Spielräume, wenn gleichzeitige oder wechselnde Kooperationen mit verschiedenen Großmächten möglich werden. ‚Multivektorielle Außenpolitik‘ ist das Stichwort dafür.
Auf dem Papier existiert das zwar alles bereits in der UN-Charta, u.a. im Prinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten sowie dem Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten. Die machtpolitische Funktionsweise des internationalen Systems hat dies in der Praxis immer wieder ignoriert.
Der Umbruch birgt freilich auch beträchtliche Risiken. Historisch haben Änderungen der Hegemonialordnung oft zu Krieg geführt. Eine Harvard-Studie hat 16 solcher Fälle in der Weltgeschichte untersucht. In zwölf davon kam es zum Krieg, darunter die beiden Weltkriege.
Aber auch ohne Krieg kann Multipolarität leicht zur Zunahme von Konkurrenz, Spannungen, Instabilität und Unberechenbarkeit führen. Kernproblem ist dabei, dass die etablierte Hegemonialmacht nicht bereit ist, ihre Vormachtstellung aufzugeben und sich friedlich in die neue Ordnung einzufügen.
Anders als bei früheren Umbrüchen dieser Art ist neu, dass der geopolitische Wandel mit menschheitsgeschichtlich einmaligen Risiken durch Klima- und andere Umweltprobleme zusammenfällt, deren Lösung globale Kooperation eigentlich zwingend erforderlich macht.
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2.2. Atomarer Winter statt Klimaerwärmung?
Mit der Atombombe existiert zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Waffe, mit der die Gattung des homo sapiens ausgerottet werden kann. Zwar gab es unter dem Schock der Kuba-Krise Verträge zur Rüstungskontrolle, die mit dem Gleichgewicht des Schreckens eine gewisse Stabilität und Entspannung ermöglichten. Doch inzwischen haben wir wieder eine brandgefährliche Situation: die Verträge sind gekündigt, beginnend bereits 2001 mit der Kündigung des ABM-Vertrages durch die Bush-Administration, und es gibt neue, völlig unregulierte Technologien, deren militärische Anwendung unkalkulierbare Risiken erzeugen, darunter ein Kriegsausbruch aufgrund technischer Fehler.
Die Konfrontation findet nicht mehr nur zu Lande, zu Wasser und in der Luft statt, sondern auch im Weltraum und im Cyberspace. Das erhöht zusätzlich das Misstrauen zwischen den Konfliktparteien und führt zu noch mehr Instabilität. Je weiter die Eskalation getrieben wird, umso wahrscheinlicher ist irgendwann ein Kontrollverlust. Die ukrainischen Angriffe auf das russische Atomwaffenradar zur Früherkennung anfliegender Nuklearwaffen verweisen auf dieses Risiko.
Wenn es nicht bald zu Verhandlungen wenigstens über Rüstungskontrolle kommt, könnte der Welt statt der Klimaerwärmung ein atomarer Winter drohen.
Die heißen Kriege in der Ukraine und in Nahost absorbieren schon jetzt große materielle und politische Ressourcen und fesseln die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Dafür treten die Klima- und Umweltkrisen in den Hintergrund. Der Ukraine-Krieg verursachte in den zwölf Monaten 2023 einen CO2-Ausstoß von etwa 120 Millionen Tonnen, was etwa dem Ausstoß eines Landes wie Belgien entspricht. Die Treibhausgasemissionen durch das Militär werden weltweit auf mindestens 1.644 und bis zu 3.484 Millionen Tonnen im Jahr geschätzt. Das sind 3,3 bis 7,0 Prozent der globalen Emissionen. Und zwar im laufenden militärischen Betrieb, ohne die derzeitigen Kriege. Das ist in etwa der Ausstoß eines Landes wie Russland oder Indien. In die Zahlenwerke, die dem Kyoto-Protokoll 1997 und dem Pariser Abkommen 2015 zugrunde liegen, wurden die militärischen Belastungen absichtlich nicht aufgenommen.
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2.4. Demokratie versus Autokratie?
Ideologisch rechtfertigt der Westen die Konfrontationspolitik mit der Konstruktion „Demokratie versus Autokratie“. Mit der Anrufung von ‚Werten‘ soll eine post-heroisch eingestellte Bevölkerung wieder zu Kriegsbereitschaft motiviert werden. Notwendig ist dafür das seit ewigen Zeiten praktizierte Verfahren, die Gegenseite als das schlechthin Böse darzustellen. „Es geht um den Unterschied zwischen Gut und Böse“ so Nikki Haley, ehemalige UNO-Botschafterin der USA, stellvertretend für viele.
Wenn man genauer hinschaut, entlarvt sich die scheinbar hochmoralische Einteilung der Welt in Gut und Böse jedoch als Doppelmoral. So heißt es in der o.g. US-Sicherheitsstrategie: „Die dringendste strategische Herausforderung für unsere Vision geht von Mächten aus, die autoritäres Regieren mit einer revisionistischen Außenpolitik verbinden.“ Daneben wird eine andere Kategorie von Autokratien eingeführt: „Viele Nicht-Demokratien schließen sich den Demokratien der Welt an, um diesen [revisionistischen] Verhaltensweisen abzuschwören.“ Es geht also nicht um Autokratie als solche, sondern um das, was Washington zum ‚Revisionismus‘ erklärt, d.h. die Ablehnung der US-Dominanz. Man kreiert zwei Sorten von Autokratie: die revisionistischen in Peking und Moskau und die nicht-revisionistischen, die als Partner akzeptiert werden. Auch Lars Klingbeil ist Anhänger solcher doppelten Standards: „Es ist klar, dass wir dabei auch mit Ländern zusammenarbeiten müssen, die nicht unsere Werte teilen oder sogar unsere Gesellschaftsordnung ablehnen.“
Der zentrale Widerspruch im internationalen System ist keineswegs der zwischen Auto- und Demokratie, sondern der zwischen dem Eintreten für eine nicht-hegemoniale, multipolare Weltordnung auf der einen, und dem Versuch der Aufrechterhaltung von US/westlicher Dominanz auf der anderen Seite.
Die politische Funktion des Narrativs vom Widerspruch zwischen Auto- und Demokratie besteht darin, das schon in der Antike verkündete Dogma „Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor!“ plausibel zu machen. Dabei wird aber dessen grundlegender Defekt unterschlagen, nämlich dass die Gegenseite genauso denkt, und die Konfliktspirale auf diese Weise immer wieder angetrieben wird. Das o.g. Beispiel der Mittelstreckenwaffen zeigt die praktischen Folgen.
Im Unterschied zu Interessenskonflikten kann es in moralischen Konflikten keine Kompromisse geben. Sie ähneln darin Glaubenskriegen Es sei denn, man einigt sich – wie schon im Augsburger Religionsfrieden 1555 – auf die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Bekenntnisse. Ein ideologischer Konflikt zwischen Demokratie und Autoritarismus stimuliert eine Eskalationsspirale mit Konfrontation, Wettrüsten und Kaltem Krieg – bis es zum Kontrollverlust, dem heißen Krieg, kommt.
3. Kontroversen in der Friedensbewegung bearbeiten
Das Narrativ von Auto- versus Demokratie besitzt bis in Teile der Friedensbewegung und der gesellschaftlichen Linken hinein einige Attraktivität. Dem liegt eine ursprünglich emanzipatorische Intention zugrunde: die Verdammten dieser Erde zu befreien. Schon die Gründung von „Schwesterrepubliken“ durch französische Revolutionstruppen im 18. Jahrhundert hatte dieses Motiv. Affinität zu diesem Verständnis von Internationalismus – z.B. in der Kommunistischen Internationale in ihren ersten Jahren und ihrem Ziel der Weltrevolution oder Che Guevaras Revolutionsversuch in Bolivien – ist unübersehbar. Allerdings kann außenpolitischer Messianismus von links unter Bedingungen von Konflikt und Spannungen im internationalen System höchst gefährlich werden, insbesondere wenn er mit dem ‚liberalen Internationalismus‘ konvergiert, mit dem der Westen gern eine aggressive Außenpolitik rechtfertigt.
3.1. Demokratie, Menschenrechte und nationale Souveränität
Ohnehin ist ein Großbegriff wie Demokratie immer umstritten, auch innerhalb der Friedensbewegung. Und es ist fraglich, ob je ein Konsens darüber zu erreichen ist. Erst recht, wenn es sich um die internen Verhältnisse eines anderen Landes handelt. Das ist auch nicht notwendig, wenn man die UN-Charta zur Souveränität und Nichteinmischung in die inneren Verhältnisse (insbes. Art. I, Abs. 2, Art. II, Abs. 1 und Abs. 7) respektiert. Die Charta beruht ja gerade auf der Einsicht, dass angesichts unterschiedlicher Kulturen, Wertesysteme und politischer Ordnungen heilloses Chaos und Zerstörung entstünde, wenn jedes Land seine eigenen Vorstellungen anderen aufdrängen oder gar mit Gewalt aufzwingen wollte.
Ähnliches gilt für Menschenrechte, wenn der Begriff als Kampfbegriff für geopolitische Interessen in Dienst genommen wird. Universalität der Menschenrechte bedeutet die Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten, die Menschenrechte im eigenen Land zu verwirklichen (UN-Charta Art. I, Abs.3). Dazu gehören auch die sozialen Menschenrechte, die auch vom Westen gern ausgeblendet werden. Sie ist aber keine Lizenz für Regime-Change von außen, oder gar für einen Angriffskrieg der NATO, wie z.B. 1999 gegen Jugoslawien, als der deutsche Außenminister meinte, man müsse „ein neues Auschwitz verhindern“. Auch Moskaus Rechtfertigung für den Einmarsch in die Ukraine, das Land vom Faschismus zu befreien, gehört in die Kategorie unilateraler Anmaßung zur Intervention in ein anderes Land.
Nur für extreme Fälle wie Völkermord sieht die UN-Charta (Art. VII) genau definierte Ausnahmen vor. Demnach kann nur der UN-Sicherheitsrat die Befugnis zur Gewaltanwendung gegen ein Land erteilen. Das betrifft auch die sog. Responsibility to Protect, die in den Nullerjahren, als die westliche Hegemonie noch ungebrochen schien, Konjunktur hatte. Die Hürden für Eingriffe sind sehr hoch, nicht zuletzt durch Blockaden im Sicherheitsrat. Das wird bei russischen Vetos immer lauthals beklagt. Anders dagegen bei US-Vetos, wenn es um Israel geht. Allerdings zeigt die Entscheidung für einen Waffenstillstand in Gaza vom 10. Juni 2024, dass es auch anders geht; auch wenn der Beschluss von Israel – mit westlicher Duldung – ebenso wenig umgesetzt wurde, wie die Resolutionen der Vollversammlung zu vielen anderen Konflikten.
In Deutschland gibt es politische Strömungen, die ein sehr distanziertes Verhältnis zu nationaler Souveränität und dem Gebot der Nichteinmischung haben. Sie berufen sich dabei auf die Erfahrungen mit dem exzessiven Nationalismus der deutschen Geschichte – und sind insofern typisch deutsch. Der hohe Stellenwert von Souveränität und Nichteinmischung im Völkerrecht ist aber Reaktion auf die lange Geschichte der Unterwerfung und Ausbeutung fremder Länder im Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus. Das vergisst man im Globalen Süden nicht.
Zudem reagiert gerade der Westen selbst extrem empfindlich, wenn er glaubt, andere Länder würden sich in seine inneren Verhältnisse einmischen. Allerdings ist bei der allfälligen Empörung über tatsächliche oder angebliche Desinformation und Cyberattacken aus Russland und China oft schwer zwischen Fakt und Fake, zwischen Realität, Propaganda und Verschwörungstheorie zu unterscheiden.
3.2. Widersprüche zwischen Frieden und Menschenrechten?
Die ideologische Aufladung zwischenstaatlicher Beziehungen mit unilateralen Wertorientierungen führt dazu, dass von fundamentalistischen Gegensätzen ausgegangen und nach Strategien gesucht wird, den jeweils anderen einzudämmen oder ganz auszuschalten.
Natürlich ist die Steinigung von Ehebrecherinnen in Saudi-Arabien, die Theokratie der Mullahs und der Taliban, die Diskriminierung religiöser, ethnischer, politischer u.a. Minderheiten in vielen Teilen der Welt – darunter auch im Westen – schwer zu ertragen. Kritik und Protest aus der Zivilgesellschaft ist selbstverständlich legitim. Auch für die Friedensbewegung bleibt internationalistische Solidarität mit Pazifisten, Kriegsdienstverweigerern u.a. Kriegsgegnern, die Repressionen und Verfolgung ausgesetzt sind, auf der Tagesordnung. Allerdings muss sie sich dabei klar von geopolitischer Instrumentalisierung von Menschenrechten durch Regierungen oder militaristischen Kräften abgrenzen.
Zudem ist Friedenspolitik per se auch Menschenrechtspolitik, denn die unmenschliche Brutalität des Krieges, die Toten, Verstümmelten, Traumatisierten, die Kriegsverbrechen sowie die sozialen und politischen Folgen von Zerstörung und Hass sind schwerste Verletzung der Menschenrechte.
Oft sind Menschenrechtsfragen mit dem Recht auf Selbstbestimmung von Minderheiten verknüpft, vor allem, wenn die Minderheiten Diskriminierungen ausgesetzt sind. Wenn diese dann staatliche Unabhängigkeit anstreben, entstehen scharfe Konflikte, in denen das Recht auf Selbstbestimmung in Widerspruch zum Recht auf territoriale Integrität des Mehrheitsstaates gerät. Spektakuläre Beispiele sind Kurdistan, Kosovo, die Kriege zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach, Nord-Zypern oder die Westsahara, aber auch Katalonien oder Schottland. Und natürlich die Taiwan- und die Palästinafrage. Auch in der Ukraine ist das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner der Krim und des Donbass eine wichtige Komponente des Konflikts. Zusätzliche Brisanz gewinnen solche Konflikte, wenn sie Teil geopolitischer Einmischung von ausländischen Mächten und entsprechend instrumentalisiert werden.
3.3. Instrumentalisierung von Menschenrechten provoziert Wagenburgverhalten
Die geopolitische Instrumentalisierung von Demokratie und Menschenrechten erzeugt permanent Spannungen im internationalen System. Ein Klima der Konfrontation führt aber auch dazu, dass Autoritarismus und Repression in einem Land, das sich bedroht fühlt, entstehen, bzw. dort wo sie bereits existieren, sich weiter verstärken. Es tritt das Wagenburg-Phänomen ein, d.h. Abwehrhaltung nach außen führt auch immer zu Konformitätsdruck nach innen.
Das gilt für alle Seiten. Das Verbot russischer Sender und Zeitungen durch die EU und die Cancel Culture gegen alles Russische, oder auch die deutsche „Staatsraison“ im Gaza-Krieg haben zwar noch nicht das Ausmaß an Autoritarismus wie in der Ukraine und Russland erreicht, aber grundsätzlich greift hier die gleiche Logik der Wagenburg.
Eine neue Dimension entsteht dabei durch das Internet und die Integration des Cyberspace in die Konfrontation. Auch hier sind die USA führend. Ihr Geheimdienstsystem – 18 Institutionen mit über 800.000 Mitarbeitern – verfügte amtlichen Angaben zufolge 2023 über ein Budget von 99,6 Mrd. Dollar, wovon 27,9 Mrd. auf den militärischen Bereich entfielen. Zum Vergleich: die russischen Militärausgaben betrugen 2023, dem zweiten Kriegsjahr in der Ukraine, insgesamt 109 Mrd. Dollar.
3.4. Krieg, Moral und Rationalität
Eng verbunden mit dem Narrativ von Auto- versus Demokratie ist der Umgang mit Konflikt und Krieg in ausschließlich moralischen Kategorien. Das führt zu einer bequemen Reduktion einer komplexen Wirklichkeit auf zwei Variablen: „gut“ und „böse“. Diese wiederum beruhen meist auf lange etablierten Feindbildern und archetypischen Klischees, wie der ‚Gefahr aus dem Osten‘ oder dem Bild von David & Goliath. Darin wird z.B. der ‚David Ukraine‘ Opfer von ‚Goliath Russland‘. Vor allem bei vielen jungen Leuten gibt es auch die Wahrnehmung: ‚Goliath Israel‘ gegen ‚David Palästina‘! Das sind Strategien, die eigene Identität aus den realen Widersprüchen herauszunehmen und sich der einen oder anderen Seite zu unterwerfen. Eine autonome Friedensbewegung wird damit unmöglich.
Moralisch begründete Parteinahme ist auch deshalb attraktiv, weil sie ein Überlegenheitsgefühl vermittelt. Denn „Wir“ sind natürlich „die Guten“. Moral mutiert dann zu selbstgerechtem Moralisieren, wie es sehr typisch von der links-liberalen Avantgarde des Bellizismus, dem militaristischen Mainstream und ihrer Erzählung von der „wertegeleiteten Außenpolitik“ vertreten wird.
Allerdings ist Moral nur solange glaubwürdig, wie sie unteilbar ist. Wer selbst das Völkerrecht mit Füßen tritt, wie die NATO in Jugoslawien, oder die US-geführte „Koalition der Willigen“ im Irak 2003 – darunter die Ukraine mit dem sechstgrößten Truppenkontingent von 36 – praktiziert Doppelmoral.
Doppelmoral ist auch im Spiel, wenn es um das Recht auf Selbstbestimmung geht, z.B. des Kosovo oder Taiwans. Da gilt dessen Durchsetzung mit Krieg bzw. militärischen Drohungen durch den Westen als gerechtfertigt, während der gleiche Vorgang im Fall der Krim oder des Donbass‘ zu Separatismus erklärt und seine militärische Niederschlagung unterstützt wird.
Heuchlerische Doppelstandards gelten auch beim Thema Annexionen. So bleiben die Annexion von Nordzypern und Teilen des kurdisch besiedelten Nordsyriens durch das NATO-Mitglied Türkei oder die der Golanhöhen und Ostjerusalems durch Israel ohne praktische Konsequenzen seitens des Westens. Die Annexion der Westsahara durch Marokko wurde, entgegen klarer UN-Beschlüsse, durch die USA sogar formell anerkannt, und Frankreich ist dabei, sich dem anzuschließen.
Aus alledem folgt kein Plädoyer für Amoralität. Auch emanzipatorische Friedenspolitik braucht einen moralischen Kompass. Aber wenn Krieg verhindert oder beendet werden soll, helfen moralische Empörung oder gar moralisierender Hass nicht weiter. Im Gegenteil. Hass erzeugt Gegenhass und die Sehnsucht nach Rache und treibt so die Spirale der Gewalt immer weiter. Stattdessen muss man die Ursachen von Konflikten rational begreifen. Wissen und rationale Erkenntnis sind die Vorbedingung für mündige moralische Entscheidungen.
4. Anforderungen an Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit
Erste Aufgabe einer zeitgemäßen Friedenspolitik ist es, die Komplexität der neuen Weltordnung zu verstehen und in Argumentation und Praxis einzubeziehen. Gefragt ist ein aufgeklärter Realismus, ein nüchterner Umgang mit Geopolitik, allerdings auf Grundlage friedenspolitischer Wertorientierungen.
Dazu gehören die klare Haltung gegen Tod und Zerstörung durch Krieg und die Orientierung an der UN-Charta: Diplomatie und politische Konfliktlösung, Kooperation, ungeteilte, gemeinsame Sicherheit, souveräne Gleichheit aller Staaten, friedliche Koexistenz, Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Notwendig ist die qualifizierte Auseinandersetzung mit Bellizismus und Militarismus und deren scheinbar plausiblen Argumenten. Die Friedensbewegung und die gesellschaftliche und politische Linke sollten den Sirenengesängen einer ‚Burgfriedens-Politik‘, auf die die SPD sich im Ersten Weltkrieg einließ, nicht folgen.
Dabei gilt es, sich Diffamierungen wie ‚Putinversteher‘, Antiamerikanismus und dem Missbrauch des Antisemitismusvorwurfs u.ä., die auf Denkverbote und die Unterdrückung freier Meinungsäußerung hinauslaufen, selbstbewusst zu entziehen.
Friedenspolitik identifiziert sich nicht prinzipiell oder dauerhaft mit einem Land oder einem Lager. Das gilt auch für das eigene Land/Lager, d.h. Absage an Nationalismus, Euro-Nationalismus und die Identifikation mit irgendeiner Wagenburg, auch nicht mit der des Westens.
Das schließt nicht aus, im konkreten Fall Vorschläge einer Seite zu unterstützen, wenn sie friedenspolitisch sinnvoll sind. Das gilt auch für entsprechende Initiativen aus ‚Feindesland‘.
Nicht möglich ist in einer interdependenten Welt und unter Bedingungen der existenziellen Bedrohung durch Massenvernichtungsmittel die Haltung „Alles Imperialisten, aus deren Händel halten wir uns raus“.
Strategische Autonomie der EU, die darauf hinausläuft, klassische Großmacht zu werden, ist keine friedenspolitische Option. Gebraucht wird eine Autonomie, die mit einem anderen Politiktypus einhergeht, der auf Frieden, Koexistenz, Abrüstung, gemeinsamer Sicherheit und Kooperation beruht.
Schon in Vorkriegszeiten gehört die Kritik an ideologischen Feindbildern, die eine wesentliche Voraussetzung für außenpolitische Aggressivität schaffen, zu den Aufgaben von Friedenspolitik. Dazu ist es auch notwendig, autonome Expertise über ‚die Feinde‘ zu entwickeln, um nicht von staatstragenden ‚Experten‘, selbsternannten Think Tanks und einschlägigen Instituten abhängig zu sein.
Eine andere Außenpolitik für Deutschland liegt in der Verantwortung der deutschen Friedenskräfte. Das kann ihnen niemand abnehmen und muss im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehen. Ihre Aufgabe ist es, der Militarisierung der Gesellschaft, der Aufrüstung und den Großmachtambitionen des herrschenden Blocks – sei es in deutscher, EU- oder NATO-Gestalt – entgegenzutreten.
Kontroversen innerhalb der Friedensbewegung sollten in sachlicher und solidarischer Form ausgetragen werden und nicht zu Konfrontation und gegenseitiger Ausgrenzung führen. Grenzen der Toleranz gibt es nur gegenüber rechtsextremistischen, nationalistischen, militaristischen u.ä. Kräften.
Die herrschende Politik führt zu Demokratieabbau und zu sozialen Belastungen vor allem der subalternen Klassen und Schichten. Das muss eine wichtige Rolle friedenspolitischer Argumentation sein, nicht zuletzt, weil hier äußerst wichtige Ansatzpunkte für Gegenmachtbildung liegen.
Auch ist es den Kalten Kriegern der Zeitenwende, trotz intensiver Gesinnungsmassage durch die staatstragenden Medien, noch immer nicht gelungen, die Bevölkerung voll auf ihre Seite zu ziehen. Wie Umfragen immer wieder bestätigen, gibt es weiterhin starke post-heroische Einstellungen und eine Ablehnung weiter Teile der Bevölkerung, sich auf „Kriegstüchtigkeit“ trimmen zu lassen.
Das gibt Anlass zu der Zuversicht, dass die Friedensbewegung wieder stark und einflussreich werden kann.
Dieser Beitrag ist eine redaktionell gekürzte Fassung, erkennbar an den drei Punkten “…” zwischen den Absätzen. Hier das vollständige Inhaltsverzeichnis: 1. Die Umbrüche im internationalen System verstehen; 1.1. Die USA bleiben Supermacht; 1.2. Supermacht China und die neue Rolle des Globalen Südens; 1.3. Der Wiederaufstieg Russlands zur Großmacht; 1.4. Die EU in der neuen Weltordnung; 1.5. Die deutsche „Zeitenwende“; 2. Der zentrale Konflikt auf dem Weg zur multipolaren Weltordnung; 2.1. Washington will weiterhin die Weltordnung dominieren; 2.2. Atomarer Winter statt Klimaerwärmung?; 2.3. Neue US-Atomwaffen gegen Russland auf deutschem Boden; 2.4. Demokratie versus Autokratie?; 3. Kontroversen in der Friedensbewegung bearbeiten; 3.1. Demokratie, Menschenrechte und nationale Souveränität; 3.2. Widersprüche zwischen Frieden und Menschenrechten?; 3.3. Instrumentalisierung von Menschenrechten provoziert Wagenburgverhalten; 3.4. Krieg, Moral und Rationalität; 4. Anforderungen an Friedenspolitik auf der Höhe der Zeit,
Die o.g. Autoren arbeiten in der Initiative “Nie wieder Krieg- die Waffen nieder!” mit.
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