Was passierte, als ich einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellte – Unser Autor absolvierte in der NVA der DDR den Grundwehrdienst. Angesichts der Wehrpflichtdiskussionen stellte er einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung – und erlebte eine Überraschung.
Im Frühjahr 2024 stolpere ich in den Medien über die Erinnerung daran, dass bis zum 60. Lebensjahr eine Mobilmachung im Ernstfall möglich ist. So schreibt die Augsburger Allgemeine: „Befindet sich Deutschland im Krieg, verlängert sich die Wehrpflichtigkeit. Die Bundeswehr ist dann befugt, alle Männer einzuziehen, welche ihr 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.“ Weniger aus Angst vor einer Einberufung als vielmehr aus prinzipiellen Gründen entschließe ich mich, im Juni 2024 und im Alter von 56 Jahren einen Kriegsdienstverweigerungsantrag zu stellen. In der NVA der DDR absolvierte ich Ende der 1980er-Jahre meinen Grundwehrdienst. Die Zeit ist zwar Teil meines Lebenslaufs geworden, von einer Verklärung meiner Erfahrungen in dieser unschönen Zeit bin ich weit entfernt.
Jetzt also berufe ich mich auf das Grundrecht der Kriegsdienstverweigerung im Sinne des Artikels 4 Absatz 3 Satz 1 des Grundgesetzes und auf das Gesetz über die Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe aus Gewissensgründen (KDVG). In meiner ausführlichen Begründung zitiere ich u. a. Stanislaw Strasburger, der in der Berliner Zeitung schrieb: „Krieg ist ein lukratives Geschäft – das ist nicht neu. Das war schon im Zweiten Weltkrieg so, in Vietnam, in Afghanistan, auf dem Balkan, im Irak und an vielen anderen Orten der Welt. Wo bleibt dabei das Wohl der Menschen? Diese Frage stellt sich heute akut, auch im Hinblick auf die Ukraine. Sind die Menschen dort wirklich bereit, sich bis auf den letzten Mann für die von Russland besetzten Gebiete töten oder verstümmeln zu lassen?“
Junge Wehrpflichtige in der DDR bei ihrer Ankunft in der Kaserne.
Die Unsummen an Geldern, die heute von den Militäretats vieler Länder verschlungen werden, sollten nicht der „Kriegsertüchtigung“ dienen, sondern eingesetzt werden, um einen stabilen Weltfrieden möglich zu machen und ihn nicht als versponnene Utopie verkommen zu lassen.
Auch die Vorstellung, dass Deutschland einen russischen Kriegsdienstverweigerer mit bürokratischen Begründungen, die an Zynismus grenzen, nach Russland abschieben will, nährt meine Empörung und meinen Drang zur Zivilcourage. In der Berliner Zeitung lese ich über einen solchen Fall: „Dem Ablehnungsschreiben des BAMF zufolge, scheint Russland ein lupenreiner Rechtsstaat zu sein. Für Nikita R. bestehe keine begründete Furcht vor Verfolgung, heißt es darin.“
Post vom Karrierecenter der Bundeswehr Berlin
Mein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung geht also Mitte Juni per Post an die entsprechende Stelle und schon zwei Wochen später erhalte ich zeitgleich zwei Briefe vom Karrierecenter der Bundeswehr Berlin. In dem ersten Schreiben heißt es u.a.: „Über Ihren Antrag … hat das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben (BAFzA) zu entscheiden. Dieses entscheidet über Ihren Antrag jedoch erst, wenn ein unanfechtbarer Tauglichkeitsbescheid … vorliegt. […] Daher ist vor Abgabe Ihres Antrages auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer eine ärztliche Untersuchung … durchzuführen.“
Das zweite Schreiben beinhaltet die Einladung zur ärztlichen Untersuchung. Mir ist freigestellt, den Ladungstermin zur Untersuchung abzusagen, wobei dann aber auch der Antrag auf Kriegsdienstverweigerung nicht weiterbearbeitet werden würde.
Ich bin entschlossen, meine Dienstfähigkeit vom Ärztlichen Dienst im Karrierecenter der Bundeswehr feststellen zu lassen, um neugierig den Fortgang der Bearbeitung meines Antrags zu erleben. Am 23. Juli 2024 finde ich mich um 8 Uhr im Objekt der Bundeswehr in der Oberspreestraße in Berlin-Niederschönweide ein. Kurioserweise verbrachte ich die ersten zwanzig Jahre meines Lebens in unmittelbarer Umgebung – es war zugleich eine Reise in die Vergangenheit. Das Areal war mir früher bekannt als streng bewachtes Objekt des Ministeriums für Staatssicherheit, auch wenn uns Jugendliche damals mehr das Strandbad Oberspree interessierte, wo wir an und in der dreckigen Spree unzählig frohsinnige Teenager-Sommererlebnisse einsammelten.
Warteraum und Etage des Ärztlichen Dienstes scheinen auf wenigstens eine Stunde nur für mich reserviert. Keine anderen „Patienten“, kein Warten, stattdessen eine unsagbar freundliche Schwester, die die Voruntersuchung führt, und ein ausgesprochen freundlicher Arzt – das vorneweg. Gewicht, Körpergröße, Urinabgabe, Hör- und Sehtest, allgemeine Befragung, Sichtung der Impfdokumente usw. Seriös und höflich laufen die Voruntersuchungen ab. Nach kurzer Wartezeit betrete ich das Zimmer des untersuchenden Arztes. Der Medizinaloberrat ist eine freundlich-korrekte Person, ein wenig wie einer Erzählung Anton Tschechows entstiegen: Arztkittel, kahles Haupt, schwarze Hornbrille, etwas kräftiger, ernst, zugewandt. Ich stelle mich auf wenigstens 30 Minuten intensiver Untersuchung und Befragung ein, bin neugierig und bereit. „Sie haben einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt. Ich prüfe hier als Arzt nur Ihre Dienstfähigkeit, nichts anderes. Ihr Antrag geht dann an das Familienministerium, wo darüber schlussendlich entschieden wird.“
Der Arzt beginnt mit einigen allgemeinen Fragen zu Befinden und Befindlichkeit, bezieht sich dann kurz auf ein paar grundlegende Fakten zu meinen gesundheitlichen Parametern und kommt dann zum ersten (?!) Auswertungspunkt im Dokument seines Rechners. „Sie wissen, dass Sie eine Hörminderung haben?“ Nun, manchmal entgeht mir ein Satz im Kino. Und einige Frequenzen schleifen sich im Alter oft ein wenig ab. „Sie haben im Alltag keine Probleme diesbezüglich?“ Nein, habe ich nicht. Ich höre vielleicht nicht so gut, wie ein Adler sieht, aber von Schwerhörigkeit bin ich weit entfernt. Von mir völlig unerwartet spricht der Arzt plötzlich den entscheidenden Satz: „Aufgrund Ihrer Hörminderung sind Sie dienstunfähig. Ich breche an dieser Stelle die Untersuchung ab, da Sie aufgrund der Befunde dauerhaft dienstunfähig sind.“
Ein unpatriotischer Ratschlag
Ich erwidere, dass ich mich sehr gesund fühle („Das ist ja schön für Sie.“). Ich werde deutlicher und betone, dass ich dienstfähig sein möchte, damit mein Antrag weiterbearbeitet wird. Der Arzt erklärt mir einige hörakustische Hintergründe meines Hör(-un-)vermögens und verweist nochmals darauf, dass er als Arzt den behördlichen Vorgaben entsprechend diagnostizieren muss und ausschließlich für die medizinischen Belange verantwortlich ist. Er empfiehlt mir noch, mich an einen HNO-Arzt meines Vertrauens zu wenden.
„Früher“, sage ich, „musste man regelrecht taub sein, um ausgemustert zu werden“, worauf der Arzt erwidert: „Das mag früher so gewesen sein.“ Zufrieden bin ich nicht. Ich stehe zwanzig Minuten an der Haltestelle des 165er-Busses (natürlich fällt ein Bus aus) und bin gemischter Gefühle. Einerseits bin ich dauerhaft bis zum Ende meines Lebens (und hoffentlich darüber hinaus) für den militärischen Dienst nicht fähig. Andererseits will ich nicht ausgemustert, sondern anerkannter Kriegsdienstverweigerer sein.
An dieser Stelle also ein unpatriotischer Ratschlag an jene jungen Menschen, die sich nicht für einen Kriegseinsatz interessieren: Drücken Sie beim Hör-Test den Knopf immer erst mit einer gewissen Verzögerung, nachdem Sie das Signal gehört haben! Am 25. Juli wird das Schreiben verfasst, das mich über eine förmliche Zustellung am 27. Juli erreicht. „Nach der ärztlichen Entscheidung vom 23.07.2024 sind Sie nicht wehrdienstfähig.“ Es folgen der Hinweis auf die angewandten Rechtsvorschriften (§ 2 Abs. 6 Kriegsdienstverweigerungsgesetz) und die Rechtsbehelfsbelehrung.
Gegen den Befund lege ich fristgemäß Anfang August Widerspruch ein, worauf ich am 13. und 14. August zwei Nachrichten auf meiner Mailbox abhören darf. Ein Mitarbeiter des Karrierecenters der Bundeswehr bittet mich zunächst um Rückruf, es ginge um meinen Widerspruch. In der zweiten Sprachnachricht wird die Bitte freundlich, aber eindringlich wiederholt, da sonst Folgen eintreten können, die ich mir gar nicht wünschen würde. Am selben Tag rufe ich zurück und führe ein interessantes Gespräch mit einem verständnisvollen Verantwortlichen, der mir ans Herz legt, meinen Widerspruch zurückzuziehen. Könnte ich mich dazu entschließen, würde ich für alle Ewigkeit aus dem System gelöscht werden und bräuchte nichts zu befürchten. Dass es mir um ein politisches Statement gehe, lässt der Mitarbeiter gelten, weist mich aber auch darauf hin, dass mit einem erfolgreichen Antrag und der Verweigerung des Dienstes an der Waffe nicht ausgeschlossen wäre, dass ich zu Aufräumarbeiten herangezogen würde. Fiele mir dabei ein Stein auf den Kopf, wäre mir auch nicht geholfen.
Ein letztes Mal versuche ich, meine Motivation für meinen Antrag zu beschreiben. Und ein letztes Mal bekomme ich einen sicher gut gemeinten Ratschlag. Nach einer Woche des Überlegens informiere ich das Karrierecenter der Bundeswehr über den Rückzug meines Widerspruchs und falle nun also endgültig aus dem System der Bundeswehr. Mein erfolgloser Versuch, ein anerkannter Kriegsdienstverweigerer zu werden, mag zynisch wirken angesichts der Meldungen von jungen russischen und ukrainischen Wehrpflichtigen, die sich um gefälschte medizinische Gutachten bemühen oder andere Wege suchen, sich dem Wehrdienst zu entziehen.
Mein Anliegen jedoch war gemeint im Sinne des Vermächtnisses von Antje Vollmer, sie schrieb im Februar 2023 in der Berliner Zeitung: „Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit, gerade in Zeiten großer Krisen und existenzieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren einzigartigen wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption.“
Mervin Laubisch studierte Germanistik, Musik und Schauspiel. Er arbeitet als freier Schauspieler und Lehrer in Berlin. Transparenzhinweis: Der Autor verwendet ein Pseudonym, der wahre Name ist der Redaktion der Berliner Zeitung bekannt. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
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