Mit einer Genossenschaft gegen den Pflegenotstand: „Leute, organisiert euch!“ – Unsere Autorin ist Altenpflegerin, hielt es aber nicht im Beruf aus. Mit einer Pflegegenossenschaft wollte sie es besser machen – und stieß auf ungeahnte Schwierigkeiten.
Wenn ich als staatlich anerkannte Altenpflegerin etwas verinnerlicht habe, dann dass man aus wenig etwas machen und in unterschiedlichen Perspektiven denken können muss. Wo eine pflegerische Mangelwirtschaft herrscht, muss man erfinderisch werden. Wo man mit Menschen arbeitet, muss man Beziehungen gestalten, nicht verwalten.
Als Pflegefachkraft lernte ich vor der Einführung des Marktprinzips in der Pflege noch die Sonnenseiten des Berufs kennen. Ich konnte Bewohner ausfahren und mit ihnen zum Wochenmarkt gehen. In Frühstückspausen hatten wir 1991 so viel Personal auf dem Wohnbereich, dass man nacheinander zum Personalfrühstück gehen musste, weil es keinen Sitzplatz gab. Nach einem den kollegialen Zusammenhalt stärkenden Frühstück konnte man in Ruhe mit Bewohnern sprechen und echte Beziehungsarbeit leisten und damit die Ausgangsbasis für gute Pflege und beidseitiges, psychisches Wohlbefinden stärken. Tätigkeiten, die später einer rein funktionalen Pflege wichen.
Meinen Traumberuf verließ ich dann aber nach 5 Jahren hauptberuflicher Tätigkeit, da die Folgewirkungen der Einführung der sozialen Pflegeversicherung 1995 meine 21 Fächer umfassende psychosoziale – pflegerische Berufsausbildung, konterkarierten. Staatlich anerkannte Altenpflegefachkräfte wurden einst dafür qualifiziert, alte und hochaltrige Menschen ganzheitlich zu pflegen und zu betreuen. Das berührt auch die Würde des Menschen, es geht darum, die Einheit von Körper, Seele und Geist zu achten. Das ist heute nicht mehr möglich. Pflegekräfte wurden zur ausschließenden Verrichtung von Grundpflege an Bett und Waschbecken degradiert, während andere, auch sinnstiftende Tätigkeiten von anderen Berufsgruppen übernommen wurden.
Die vergangenen 31 Jahre habe ich genutzt, um mir verschiedene Nischen, des Sozial- und Gesundheitswesens, des öffentlichen Dienstes und der Weiterbildungsbranche anzusehen und immer weiter zu lernen.
Demografischer Wandel und Machtlosigkeit des Pflegepersonals
2015 entschloss ich mich dazu, Organisationsentwicklung zu studieren. In der Masterthesis untersuchte ich, welche Vorteile aus der Kundenperspektive entstehen können, wenn man Pflege anders organisiert und die Beteiligten anders miteinander kooperieren lässt. Ausschlaggebend war für mich die Erkenntnis, dass pflegebedürftige Menschen und Pflegefachkräfte miteinander korrespondierende Bedürfnisse haben, sich aber in Strukturen bewegen müssen, die fachfremde Professionen festlegen. Erschwerend kommt hinzu, dass sie machtlos sind.
Im Studium entstand deshalb der Gedanke Strukturen zu entwickeln, die Pflegefachkräfte und pflegebedürftige Menschen optimal unterstützen. Dabei ging ich auch der Frage nach, welche Rechts- und Organisationsform diesen Gruppen eine tatsächliche Gestaltungsmacht übertragen könnte. Eine solche Struktur sollte zugleich die Profitorientierung und Gewinnstreben ausschließen, damit das Geld ausschließlich im Pflegesystem bleibt.
Neben dem anhaltenden „Pflexit“ infolge schlechter Arbeitsbedingungen und der katastrophalen Versorgungslage der alten Menschen, beschäftigte mich auch der demografische Wandel, der die heute schon brenzlige Situation noch zu verschärfen droht: Während meiner Ausbildung wurden Absolventen bereits ausgezeichnete Beschäftigungsperspektiven bescheinigt. Anhand von Statistiken und Graphiken hörte ich als 18-jährige im Fach Alterssoziologie von der Bevölkerungskohorte der Babyboomer, deren pflegerische Versorgung ab den 2020er Jahren von den kleineren nachrückenden Bevölkerungsgruppen organisiert werden müsste. Im Mai 2024 schätzte man, dass bis zum Jahr 2030 ca. 500.000 Pflegekräfte fehlen würden.
Ich suchte also auch nach einer Möglichkeit, wie man der pflegerischen Herausforderung in Zukunft gemeinschaftlich begegnen könnte. In meiner Masterarbeit entwickelte ich ein Konzept für eine gemeinnützige Pflegegenossenschaft.
Der Journalistin Ina Wagner hatte ich früh von meiner Idee erzählt. Sie hatte das Konzept sofort verstanden und war begeistert. Gemeinsam gründeten wir eine Bürgerinitiative, aus der heraus sich die Genossenschaft entwickeln sollte. So riefen wir ab 2018 unsere Region dazu auf, sich für bessere Pflege einzusetzen. Die Idee war folgende:
Die Genossenschaftsbeiträge finanzieren einen eigenen, genossenschaftlichen Pflegedienst, nur für die Mitglieder der Genossenschaft. Dieser Pflegedienst muss nicht gewinnorientiert arbeiten, hier findet keine hektische Pflege am Fließband statt, was letzten Endes allen Beteiligten zugutekommt. Das Pflegepersonal erhält dafür besondere Freiräume, ohne hierarchische Strukturen. Eigenverantwortung soll an die Stelle von Anweisungen treten. Die zeitliche Limitierung und Taktung von Dienstleistungen werden aufgehoben. Stattdessen bekommt jeder Patient so viel Zuspruch und Versorgung, wie er benötigt.
Sorgegemeinschaften gegen Einsamkeit und Überlastung
Neben dem eigenen, professionellen gemeinnützigen Pflegedienst sah das Konzept auch vor, dass die Genossenschaftsmitglieder kleine Sorgegemeinschaften bilden und sich gegenseitig unterstützen – eine Art nachbarschaftliches Netzwerk, zusätzlich zur professionellen Pflege. Es könnte vor Einsamkeit im Alter schützen und die Profi-Pflege oder auch Angehörige im Alltag entlasten. Selbstverständlich würden die Ehrenamtlichen von der Genossenschaft geschult und unterstützt, wo nötig.
Darüber hinaus hatte ich mir viele Gedanken zum Thema Prävention gemacht. Ich wollte, dass die Genossenschaft auch dazu beiträgt, dass die Mitglieder so lange wie möglich gar nicht erst pflegebedürftig werden. Gelingen sollte das durch präventive Hausbesuche und durch die aktive Einbindung in die Sorgegemeinschaft. Der Einzelne wird gebraucht und ist Teil einer Gemeinschaft. Das sorgt für regelmäßige Aktivierung, positive Gruppenerfahrungen und insgesamt zu einer gesundheitlichen Stärkung.
Wohlgemerkt versteht sich dieses Angebot als ein gemeinschaftliches Engagement für die Menschen einer Region. Es geht nicht um ein gewinnorientiertes Dienstleistungsanbot, sondern darum, dass sich Bürger und Bürgerinnen darüber bewusst sind, dass Pflegekräfte angemessene Arbeitsbedingungen brauchen, um langfristig im Beruf wirken zu können. Und dass angesichts der demografischen Entwicklung zu viele Bürger Hilfe brauchen werden, um sie ausschließlich von Pflegediensten erhalten zu können.
Auch die regionalen Kommunen sollten ein großes Interesse daran haben Pflegebedürftigkeitsprävention und bestmögliche Arbeitsbedingungen zur Stärkung der Profipflege zu ermöglichen. Ein Arrangement wie die gemeinnützige Pflegegenossenschaft könnte Versorgungsengpässe mindern, Kosten über einen längeren Zeitraum verteilen, Pflegepersonal im Beruf halten oder vielleicht sogar anlocken. Es geht letzten Endes darum den absehbaren Zusammenbruch der Pflegeinfrastruktur zu verhindern! Davon würden auch regionale Betriebe profitieren. Denn deren Arbeitskräfte stünden im Falle eines Zusammenbruchs nicht mehr oder nur äußerst eingeschränkt zur Verfügung, weil sie mit der Pflege ihrer Eltern beschäftigt wären. Viele pflegende Angehörige gehen heute schon physisch und psychisch über ihre Grenzen.
Unsere gesamte Gesellschaft, wir alle, sollten daher ein großes Interesse daran haben, Pflegebedürftigkeit und Vereinsamung, die zusätzlich krankt macht, möglichst lange zu verhindern, um die potenziell große Gruppe pflegebedürftiger Babyboomer zu strecken, damit das Pflegesystem nicht vollends kollabiert. Die Pflegegenossenschaft könnte ein Unterstützungsnetzwerk aus Professionellen und Nicht-Professionellen sein, in dem sich alle gemeinsam darum kümmern, dass wir in Würde altern können.
Wir suchten also Mitstreiter für unsere Idee. Im Jahr 2020 gründeten wir tatsächlich die Genossenschaft und 89 Bürger traten anschließend im Laufe der Jahre bei. Schnell fand das Projekt auch überregionale Anerkennung. 2021 wurden wir mit dem Deutschen Demografie Preis in der Kategorie New Work ausgezeichnet. 2024 wurde das Projekt als Good Practice Beispiel im DAK-Pflegereport aus Niedersachsen gewürdigt.
„Tolle Sache. Aber ich fühle mich noch zu jung.“
Doch trotz dieser ermutigenden Signale stagnierte das Projekt. Die Pandemie erschwerte die weitere Arbeit. Treffen der Genossenschaftler wurden zu komplizierten Aktionen, deren Ablauf genau ausgetüftelt werden musste. Für uns Initiatoren war es ein quälendes Erlebnis, schließlich waren wir bereits seit 2018 mit den Vorbereitungen zur Gründung beschäftigt und hatten in diesen Jahren Hunderte von Menschen angesprochen mit Flyern, Gesprächsangeboten, Vortragsveranstaltungen, Treffen. Oftmals war die Reaktion ambivalent: „Tolle Sache. Aber ich fühle mich noch zu jung. Mir geht es ja noch gut. Aber viel Erfolg! Macht weiter so!“
Andere missverstanden unsere Idee als Dienstleistung und fragten: „Was bekomme ich dafür, wenn ich Mitglied werde?“ Der Jahresbeitrag beträgt 80 Euro, also 6,60 Euro im Monat und im Zentrum steht die gegenseitige und nachhaltige Unterstützung, eine Art Altersvorsorge, die eben auf gemeinschaftlichem Engagement beruhte und nicht wie eine anonyme Versicherung funktionierte. Offenbar war genau das schwer zu vermitteln.
Schwer taten sich auch die Kommunen, regionale Institutionen, Politik und Verbände. Allen Kommunen in meiner Region wurden Vorhaben und Hintergrundidee vorgestellt. In zwei Kommunen blieb es bei einer Präsentation und vielfachen, einseitigen Bemühungen, um Folgegespräche. In der Stammkommune begrüßte man uns zunächst mit großem Interesse. Später gab es eine kleine finanzielle Unterstützung zur Altenarbeit, eine kleine anteilige Unterstützung für eine landesgeförderte Projektstelle für ein Jahr und eine Gratisnutzung eines Raums. Ein intensiver organisationsübergreifender Austausch und Kooperation zum Aufbau des preisgekrönten Vorschlags konnten nicht erreicht werden.
Die von der Stadt benannten städtischen Austauschpartner und die der örtlichen Hochschule konnten trotz zahlreicher Anfragen nicht für handlungsorientierte Gespräche aktiviert werden.
Die Stadt wollte auch der Genossenschaft selbst nicht beitreten. In einer Sitzung, in der wir für einen Beitritt der Stadt warben und die Probleme in der Pflege deutlich machen wollten, sagte mir einer der obersten Verwaltungsbeamten, dass es die beschriebenen Probleme gar nicht gebe. Als staatlich anerkannte Pflegefachkraft, die in fünf stationären und ambulanten Angeboten in seiner Stadt gearbeitet hatte, verschlug es mir da kurz die Sprache.
Auch die Mühlen der Bürokratie begannen bald, uns auszubremsen. Obwohl wir eine winzige Bürgerinitiative und noch ohne Geschäftsbetrieb waren, bestand der Genossenschaftsverband auf Einhaltung aller Vorschriften, wie sie auch für mächtige Genossenschaften wie Edeka oder die Volksbanken verpflichtend sind. Als kleine Bürgerinitiative vor Geschäftsbetrieb wurden wir wenige Monate nach der Gründung und dem Lockdown direkt mit der ersten Prüfung bedacht, die Zeit und Kraft beanspruchte. In einer Zeit, in der wir unbedingt für das Projekt aktiv werden wollten, absolvierten wir Verwaltungsaufgaben und gaben unsere kleinen Fördertöpfe und Genossenschaftsbeiträge für die Prüfung aus. Ähnlich verhielt es sich mit der nächsten Prüfung (immer noch ohne Geschäftsbetrieb). Der Aufbau eines Projektes mit der Kraft einer Handvoll Menschen geht langsam voran, wenn die Dinge am Feierabend und am Wochenende stattfinden müssen. Daneben liefen weitere Verwaltungsverpflichtungen an (z.B. Eintrag ins Transparenzregister) oder Überführungen der Homepage in neue Systeme, die der Betreiber verlangte.
Das Elend mit den Förderanträgen
Und dann begann das Elend mit den Förderanträgen. Wir wollten viel erreichen, hatten große Pläne, aber nicht genügend Geld. Die Suche nach Fördermöglichkeiten ist kein Problem. Im Gegenteil, wir staunten anfangs, wie viele es gibt. Recht bald machten wir aber die Erfahrung, dass man eine straffe Auswahl treffen und die Förderrichtlinien sehr genau studieren muss, denn auf die ersten Anträge erfolgten ablehnende Rückmeldungen: Genau für unser Vorhaben sei man nicht zuständig, die Bewerbungsfrist sei abgelaufen, die Jury habe gerade erst getagt und werde sich erst in einem halben Jahr wieder treffen, man empfehle, sich bei einer anderen Einrichtung oder Stiftung zu bewerben …
Immer wieder füllten wir dicke Förderanträge aus, erfuhren nebenbei, dass es Büros gibt, die nichts anderes tun als für ihre Kunden derartige Anträge zu stellen – allein, dafür hätten unsere geringen Mittel nie ausgereicht. Also dilettierten wir weiter, bis wir eine gewisse Routine erlangten. Einen Großteil dieser Arbeit übernahm ich selbst, ehrenamtlich.
Als wir irgendwann eine Förderrichtlinie zur Förderung sozialer Innovation entdeckten, war die Freude groß. Der Topf sei leer, teilte man uns mit, aber eine Antragstellung sollte ca. ein halbes Jahr später wieder erfolgen können. Wir knieten uns also abermals rein, wieder unentgeltlich. Unser Antrag wurde in der ersten Bewertungsrunde als grundsätzlich förderungswürdig zur zweiten Runde zugelassen. Nun mussten zeitintensive Überarbeitungen vorgenommen werden, die in Gesprächen mit Beauftragten zur Betreuung der Förderrichtlinie und am Wochenende erarbeitet wurden. Dann wurde der Antrag erneut eingereicht. Entscheidungsträger waren Vertreter der großen Wohlfahrtsverbände und Verwaltungsmitarbeiter aus den Ämtern z.B. für Regionalentwicklung oder der N-Bank. Nach all der ehrenamtlichen Arbeit warteten wir zuversichtlich auf die Entscheidung.
Doch dann erreichte uns eine niederschmetternde Nachricht: Der Aufbau eines gemeinnützigen Pflegedienstes innerhalb der Genossenschaft würde ein eigenes Wirtschaftsinteresse darstellen und könne nicht gefördert werden. Wir konnten es nicht fassen. Um diesen Fördergegenstand war es doch die ganze Zeit gegangen! Zumal auf der Homepage der Förderrichtlinie sich geförderte Projekte in gewinnorientierten Rechtsformen fanden. Wie konnte das sein? Mir wurde angeboten, die nötigen Anpassungen vorzunehmen und den Antrag in einem halben Jahr im nächsten Förderaufruf erneut zu platzieren. Wovon ich ein weiteres halbes Jahr meinen Lebensunterhalt finanzieren könnte, stand hier selbstredend nicht zur Debatte. Die Alternative sei, den Antrag zurückzuziehen. Wir zogen zurück.
Zwar gibt es die gemeinnützige Genossenschaft noch immer und das Ziel bleibt die Gründung eines Pflegedienstes innerhalb der Genossenschaft, aber ich selbst habe für mich an diesem Punkt, nach acht Jahren ehrenamtlichen Engagements und großer persönlicher Opfer, einen Schlussstrich gezogen. In meiner Region fehlen offenbar die nötige Unterstützung und Energie.
Die 89 Bürger, die Genossenschaftsmitglied geworden sind, sind noch immer bereit für Pflege zusätzliches Geld und Engagement einzubringen, aber es braucht auch einen politischen und gesellschaftlichen Veränderungswillen. Seit 2023 gehen die geburtenstarken Jahrgänge in die Rente und werden alt. Offenbar wollen die Wenigsten wahrhaben, wie schlecht es schon heute um die Pflege bestellt ist. Und kaum jemand scheint ernst zu nehmen, was uns in Zukunft erwartet. Ich habe mich bemüht und bin gescheitert, aber mein Appell ist heute noch genauso richtig, wie vor 10 Jahren: Leute, organisiert euch!
Ute Tobias ist Expertin für Organisationsentwicklung, Sozialmanagement, Soziale Arbeit, integrierte Altenhilfeplanung und bürgerschaftliches Engagement. Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und der Berliner Zeitung und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden.
Genossenschaftlichen Modellen im Bereich der Pflegegehört ein Teil der Zukunft. Bürokratishe und gesellschaftliche Widerstände kann ich mir lebhaft vorstellen. Allerdings ist die Zeit vor der Pflegereform alles andere als nachträglich erstrebenswert.