Tödliche Gewalt gegen Frauen in Brasilien

25. Dezember 1997. Ich war zehn Jahre alt. Zu Weihnachten hatte ich ein Fahrrad bekommen. Ich war außer mir vor Freude, dass ich jetzt ein großes 26er hatte. Ich war ja auch viel gewachsen. Sofort wollte ich es ausprobieren. Mein Vater stellte den Sattel ein, und ich fuhr auf der Straße herum, die wegen der Feiertage ziemlich leer war. Meine Eltern erlaubten mir, mich höchstens 200 Meter vom Haus wegzubewegen, denn das Viertel war gefährlich. Es gab Drogenhandel und viele Überfälle. Ich fuhr also zwei Querstraßen weit und drehte wieder um. Immer wieder. Beim vierten oder fünften Mal sah ich zwei Jungs auf dem Bürgersteig sitzen. Einen davon kannte ich. Der rief mich zu ihm hin und sagte in ernstem Tonfall: „Wenn du noch einmal hier vorbeifährst, vergewaltige ich dich.” Einfach so. In meinem Leben habe ich viele Gewaltsituationen erlebt, auch als Kind. Doch ich wollte mit dieser Geschichte anfangen, denn mit dieser Drohung begriff ich schlagartig, dass mein Körper ein umkämpfter Raum ist, auf den andere Anspruch erheben. Und dass ich im öffentlichen Raum nicht sicher bin. Und zwar deswegen, weil ich als Frau gelte.

Gewalt gegen Frauen in Brasilien ist ein Erbe der Kolonialzeit. Bestes Beispiel ist das erste offizielle Dokument nach der Konstituierung der Kolonie Brasilien, ein Brief, den Pero Vaz de Caminha am 1. Mai 1500 an den portugiesischen König Dom Manoel I. schickte. Darin beschreibt Caminha Brasilien mit den Worten, die Vulven der „indischen“ Frauen seien so perfekt, dass die Europäerinnen sich schämen müssten. Wie die Aymara-Feministin Julieta Paredes in ihrer Untersuchung über die Verankerung des Patriarchats in Amerika darlegt, ist die Epidemie geschlechtsspezifischer Gewalt, die wir heute erleben, ein Erbe der europäischen Kolonisation, die sich gewaltsam auf unserem Territorium durchsetzte. Um die physische und symbolische Auslöschung von Frauen in Brasilien zu verstehen, muss man sich klar machen, dass soziale Klassifizierungen von Ethnie (raça) und Geschlechtsidentität die Situation noch komplexer machen.
Laut dem brasilianischen Jahrbuch für öffentliche Sicherheit 2024 wurden im Jahr 2023 mehr als 1,2 Millionen Frauen Opfer einer Art von Gewalt, darunter Mord, häusliche Gewalt, Drohungen, Stalking und Vergewaltigung. Davon waren 1500 Opfer von Feminiziden. Sie starben, weil sie Frauen waren. 64 Prozent davon waren Schwarze Frauen, 71,1 Prozent waren zwischen 18 und 44 Jahre alt, und 64,4 Prozent wurden bei sich zuhause umgebracht. Eine Schwarze Frau in Brasilien zu sein bedeutet, bevorzugt Opfer eines Feminizids zu werden. Die Daten der letzten Jahre zeigen, dass Feminizide an weißen Frauen leicht zurückgehen, die Feminizide an Schwarzen Frauen jedoch steigen. Gewalt gegen Frauen hat eine Farbe.

Derselben Quelle zufolge wurden 2023 mehr als 83000 Frauen vergewaltigt. Die tatsächlichen Zahlen liegen weit höher, denn nicht jede Vergewaltigung wird angezeigt. Selbst diese Zahlen bedeuten, dass alle sechs Minuten eine Frau in Brasilien vergewaltigt wird. Während du diesen Text liest, wird eine Frau in Brasilien vergewaltigt. In den letzten 13 Jahren stieg die Zahl der Vergewaltigungen um 91,5 Prozent! Überwiegend sind Schwarze Mädchen (52,2 Prozent) bis 13 Jahre (61,6 Prozent) betroffen. In den meisten Fällen ist der Vergewaltiger ein Mitglied der Familie oder ein enger Bekannter. 84,7 Prozent dieser Mädchen wurden von einem Bekannten oder Familienangehörigen vergewaltigt, 61,7 Prozent gar in ihren eigenen vier Wänden.

Potenziertes Unheil

Wenn es um trans*Frauen oder Transvestiten geht, ist das Szenario noch verheerender. Nach Daten von ANTRA (Nationaler Zusammenschluss von trans Personen) ist Brasilien eines der Länder mit der höchsten Mordrate an trans*Personen weltweit. Diese Verbrechen werden oft nicht angezeigt und sind unzureichend dokumentiert. Die Transfeindlichkeit in der brasilianischen Gesellschaft verhindert oft, dass diese Menschen gehört und geschützt werden.

13. April 2016. Ich erinnere mich an den Mord an Luana Barbosa. Luana wurde im Landesinneren von São Paulo geboren und war eine Schwarze, lesbische Frau. Sie wohnte mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Sohn zusammen. Bei einer Polizeirazzia bat sie darum, von einer Polizistin durchsucht zu werden, was in Brasilien verfassungsrechtlich garantiert ist. In ihrer Verzweiflung zeigte sie den Polizisten ihre Brüste, um zu zeigen, dass sie eine Frau war. Es nützte nichts: Luana wurde ermordet, weil sie „wie ein Mann“ aussähe. Sie wurde ermordet, weil sie eine Frau war, weil sie Schwarz war, weil sie arm war und weil sie nicht der hegemonialen Weiblichkeit entsprach. Die Mörder von Luana Barbosa, Staatsbeamte, wurden nicht zur Rechenschaft gezogen.

15. Dezember 2018. Ich könnte auch von Mariana Ferrer erzählen, die einen Geschäftsmann anzeigte, der sie vergewaltigt hatte. Der Prozess wurde online übertragen, Teile der Aufzeichnungen wurden im Internet verbreitet, darunter die beleidigenden und herabsetzenden Äußerungen des Anwalts der Gegenseite. Der Angeklagte wurde freigesprochen. Zum ersten Mal in der Geschichte der brasilianischen Justiz wurde ein Angeklagter mit der Begründung freigesprochen, er habe eine „fahrlässige Vergewaltigung“ begangen: Er habe zwar vergewaltigt, aber nicht mit der Absicht, dies zu tun.

Zwischen 2003 und 2022 stieg die Zahl der Morde an indigenen Frauen und Mädchen um 500 Prozent, laut den Daten des „Berichts zu Tötungsdelikten gegen indigene Frauen und Jugendliche in Brasilien“ (herausgegeben von der Staatlichen Universität von Paraná UFPR und dem Ministerium für Indigene Angelegenheiten MPI).

25. April 2023. Ein 12-jähriges Mädchen wurde von mehreren Bergarbeitern in der Gemeinde Aracaçá im Yanomami-Land (Bundesstaat Roraima) zu Tode vergewaltigt. Während die Gemeinde auf der Jagd war, drangen die Bergleute in das Dorf ein und entführten eine Frau und zwei Mädchen, eine 12-Jährige und eine 4-Jährige. Das 12-jährige Mädchen wurde von mehreren Männern vergewaltigt, bis sie starb, und dann in den Fluss geworfen. Die Leiche der 4-Jährigen, die ebenfalls von den Bergarbeitern vergewaltigt worden war, wurde nie gefunden. Die Vergewaltiger arbeiteten im illegalen Goldbergbau, der in der Region weit verbreitet ist.

Handlungsmacht der Feminist*innen

Zwischen dem 1. Mai 1500 und dem 25. April 2023 hat sich in dem Land, das sich Brasilien nennt, eine Menge verändert. Dennoch bestimmt das koloniale Patriarchat immer noch das Leben von uns Frauen. Transgender und Cisgender, Indigene, Schwarze und Weiße, Mädchen, Erwachsene, alte Frauen, vom Land und aus der Stadt – wir alle sind in unseren Lebenserwartungen bedroht, nur weil wir Frauen sind.

Wir sind ständig damit konfrontiert, dass versucht wird, unsere Rechte zu beschneiden und einzuschränken. In Brasilien ist eine Abtreibung nur bei Vergewaltigung, Anenzephalie (sehr schwere Fehlbildung des Ungeborenen) und Lebensgefahr für die Schwangere erlaubt. In letzter Zeit versuchen rechtsextreme Politiker*innen durchzusetzen, dass Frauen, die abtreiben, kriminalisiert werden, selbst wenn die Schwangerschaft Ergebnis einer Vergewaltigung ist. Das Strafgesetzbuch soll geändert werden und Frauen, die als Vergewaltigungsopfer nach der 22. Schwangerschaftswoche abtreiben, für sechs bis 20 Jahre ins Gefängnis. Die Höchststrafe für Vergewaltiger ist die Hälfte davon, zehn Jahre. Aber hier zeigte sich, dass die brasilianischen Feministinnen eine der am besten organisierten sozialen Bewegungen des Landes sind. Wir sind auf die Straße gegangen, haben die sozialen Netze geflutet und erreicht, dass das Gesetz auf Eis gelegt wurde.


In einem solch düsteren Szenario beschwöre ich die Handlungsmacht von Frauenorganisationen. Ich lade Sie ein, mehr über die Tausenden von Fraueninitiativen zu erfahren, die jeden Tag in Brasilien das Leben anderer Frauen retten. Organisationen wie das Coletivo Corpos Indóceis e Mentes Livres (Kollektiv Unzähmbare Körper und Freie Köpfe) in Salvador da Bahia, das von Dr. Denise Carrascosa koordiniert wird, für Frauen im Gefängnis kämpft und sich für die Abschaffung des Strafvollzugs einsetzt; RENFA (Nationales Netzwerk antiprohibitionistischer Feministinnen), ein Netzwerk aus elf Organisationen, das für eine Reform der Anti-Drogenpolitik kämpft, unter der vor allem die Schwächsten, eingesperrte Frauen und ihre Familien, Sexarbeiterinnen, Mütter, die Opfer von Staatsgewalt wurden, Obdachlose und LGTBQ+ leiden; das Kollektiv Mães de Maio, (Mai-Mütter), die Gerechtigkeit für Schwarze und arme Menschen fordern, die in den Außenbezirken von São Paulo ermordet werden; das Coletivo Katahirine, das audiovisuelle Produktionen von indigenen Frauen fördert. Dies sind nur einige Beispiele für die vielen Initiativen, die die politische Kraft der selbst organisierten brasilianischen Frauen in all ihrer Vielfalt zeigen.


Um das Patriarchat zu bekämpfen, das die Nekropolitik gegen Frauen verursacht, müssen wir vor allem gegen die verschiedenen Formen des Kolonialismus kämpfen, auf der unsere moderne kapitalistische Welt beruht. Die Gewalt, die ich als Kind und Erwachsene erlitten habe, haben mich gelehrt, dass die Grenzen der Welt durch meine Ängste gesetzt werden. Wenn ich mich selbstbestimmt mit anderen Frauen organisiere, habe ich weniger Angst. Singen wir also weiter, für die Befreiung aller Frauen, zusammen mit Nina Simone: Freiheit heißt, keine Angst haben!

Isadora Machado ist Schriftstellerin, Linguistin und Aktivistin gegen psychiatrische Anstalten. Als Linguistikprofessorin lehrt sie an der Bundesuniversität von Bahia. Kontakt: isadoram@ufba.br. Übersetzung: Laura Held. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 479 Okt. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Links wurden nachträglich eingefügt.

Über Isadora Machado / Informationsstelle Lateinamerika:

Die Informationsstelle Lateinamerika e. V. (ila) ist ein gemeinnütziger Verein mit Sitz im Oscar-Romero-Haus in Bonn. Das Ziel des Vereins ist die Veröffentlichung kritischer und unabhängiger Informationen aus Lateinamerika. Der Schwerpunkt liegt auf Nachrichten und Hintergrundinformationen aus basisdemokratischer Perspektive. Die Informationsstelle Lateinamerika begreift sich als Teil der politischen Linken und engagiert sich in übergreifenden politischen Bündnissen wie der Friedens- und Antikriegsbewegung oder Attac. Der Verein besteht seit 1975 und gibt die gleichnamige Zeitschrift ila heraus. Alle Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit freundlicher Genehmigung.