Wie der Immobilienkapitalismus Erinnerungen vernichtet

In vielerlei Hinsicht war das Ruhrgebiet immer wieder Brennglas deutscher Gesellschaftsgeschichte. Es ist der grösste urbane Ballungsraum und gleichzeitig die grösste deutsche Einwanderungsregion, darin fast den USA vergleichbar. So wie dort, ist auch hier die Einwanderung eine Erfolgsbedingung, gleichzeitig aber von relevanten Kräften des Faschismus bekämpft. Sie ist einerseits mehrheitlich sensationell gelungen, in erster Linie durch Solidarität bei der (Industrie-)Arbeit. Andererseits macht sie Probleme sichtbarer, die schon vorher da waren: die Klassenwidersprüche des Kapitalismus. Aktuell stossen die einstmals grossen Kirchen ihr Immobilienvermögen ab. Werfen sie es den Spekulant*in*en zum Frass vor?

Die Orte meiner Kindererziehung waren in Gladbeck und sehr katholisch. Ich nehme die Frage vorweg: sexualisierte Gewalt habe ich dort, wo ich war, nicht erlebt oder mitbekommen. Gewalt allgemein dagegen war in den 50ern und 60ern üblich, die Prügelstrafe in Schulen, Kirchen, Familien “normal” (erst 2000 wurde sie gesetzlich verboten). Mit 5 kam ich in den Kindergarten der St. Marien-Kirche in Gladbeck-Brauck. Dort traumatisierten mich Nikoläuse und Knecht Ruprechts, ansonsten war es ok. Das gesamte Ensemble von Kirchengebäude, Kindergarten, Pfarrhaus, weitere Wohn- und Gemeindehäuser steht zum Verkauf, wie die WAZ im Gladbecker Lokalteil (Paywall) meldet. Dummerweise ist Brauck kein Gentrifizierungskandidat. Dort ist nichts mehr zum gentrifizieren. Die Kneipe am einstigen Markt steht seit Jahrzehnten leer. Inhabergeführten Einzelhandel hat es dort in diesem Jahrtausend nicht mehr gegeben.

Ähnlich sieht es im benachbarten Gladbeck-Butendorf aus. Die Hl.-Kreuz-Kirche mit ihrem markanten Turm ist von der A2 aus gut zu sehen. Nur wenige Spurerweiterungen, und mann fährt mit dem Auto durch die Kirche durch … Hier war ich vom 8.-13. Lebensjahr Messdiener und erlernte und übte auf dem Platz hinter dem Pfarrheim das Fussballspiel. Vor den Messdienerstunden wurde auf dem betonierten Vorplatz mit Tennisbällen gekickt – das schulte das Ballgefühl im Fuss. Auch dieses architektonisch markante Ensemble soll in den Verkauf gehen. Für Butendorf gilt jedoch das gleiche, wie oben für Brauck beschrieben. In meiner Kindheit hatte die SPD hier mehr als 60%. Heute liegt die Wahlbeteiligung dort in der Regel unter 40.

Welche Investor*inn*en werden anbeissen? Was haben sie vor? Was hat an diesen Standorten (“Lage, Lage, Lage”) überhaupt Zukunft? Die Ratlosigkeit zu diesen Fragen lässt sich bis heute an den Wahlergebnissen der SPD ablesen (immerhin noch knapp 37% in Gladbeck, das im Norden auch edlere Viertel hat). Organisierte Christ*inn*en sind dort weitgehend ausgestorben. Dass ihre Kirchen knapp bei Kasse sind, ist angesichts sinkender Mitgliedsbeiträge/Kirchensteuer nachvollziehbar. Warum ihre Immobilien ihnen immer noch gehören, dagegen nicht. Da waren wir unter französischer Revolutionsbesatzung schon mal weiter.

Die Zukunft des Immobilienprofits

Das Ruhrgebiet kann hier allenfalls mit attraktiven Preisen glänzen. Mann nennt es “Wachstumspotenzial”, wie alles, was von ganz unten kommt. Aber die Renditebäume wandern woanders in den Himmel. Kennen Sie die Strüngmanns? Das sind die, die in der Coronapandemie so richtig Kasse gemacht haben. Und es gleichzeitig schafften, sich aus den Schlagzeilen fernzuhalten. Dafür hatten sie ihre Leute. Jetzt hat die SZ sie beim Bauen am Tegernsee erwischt, und noch nicht mal eine Paywall errichtet.

Wer so viel Kapital hat, kann sich das nötige Fachwissen kaufen. Um noch mehr Kapital zu machen. Es kann so herrlich sein, seinen Leuten bei der Arbeit zuzusehen. Fragen Sie den Tegernsee-er Uli Hoeness.

Über Martin Böttger:

Martin Böttger ist seit 2014 Herausgeber des Beueler-Extradienst. Sein Lebenslauf findet sich hier...
Sie können dem Autor auch via Fediverse folgen unter: @martin.boettger@extradienst.net