Interview: Wie sich illegale Ökonomien verändern
In Europa wird so viel gekokst wie noch nie, in Berliner Clubs haben Dealer alle paar Monate eine neue synthetische Droge im Angebot. Schlagzeilen über Schießereien in Rotterdam und Hamburg lesen sich so, wie sie lange nur aus Lateinamerika bekannt waren. Das ist nur konsequent: Wo viel zu holen ist, drängen viele auf den Markt – so lange, bis sich Monopole bilden. Daniel Brombacher untersucht die aktuellen Dynamiken.
Der Kokainkonsum steigt in Europa in den letzten Jahren massiv. Wollen die Leute einfach mehr koksen oder kommt die höhere Nachfrage durch ein höheres Angebot, also wird der europäische Markt geflutet?
Wenn man Menschen direkt nach ihrem Konsum fragt, hat sich der Wert in Umfragen kaum verändert. Andere Indikatoren, zum Beispiel Kokainrückstände in Abwässern, weisen aber schon auf eine starke Zunahme hin. Auf der Angebotsseite sehen wir, dass in Deutschland 2023 acht Mal so viel Kokain sichergestellt wurde wie 2018. Das spiegelt aber erst mal nur Polizeiarbeit wider: Wer mehr kontrolliert, findet auch mehr. Zwei andere wichtige Indikatoren sind aber Preis und Reinheit. Obwohl so viel Kokain sichergestellt wurde, ist die Reinheit gestiegen und der Preis stabil geblieben. Das spricht für ein Überangebot. In Rotterdam und Antwerpen, den Haupteinfallstoren, sind die Sicherstellungszahlen übrigens wieder zurückgegangen. Aber das muss nicht heißen, dass weniger Kokain kommt, sondern vielleicht nur, dass sich die kriminellen Netzwerke schlauer angepasst haben.
Agrarprodukt mit der höchsten Gewinnmarge weltweit
Spielt für dieses Überangebot eine Rolle, dass in den USA die neue synthetische Droge Fentanyl so stark auf den Markt drängt? Wird dadurch dort der Kokainvertrieb unattraktiver?
Solche Querverbindungen mit anderen Drogen sind schwierig. Faustregel: Stimulanzien ersetzen Stimulanzien, sedative Drogen ersetzen sedative Drogen. Fentanyl ist ein Opioid, es bringt dich runter, wirkt also komplett entgegengesetzt zu Kokain. Der Hauptgrund für das Überangebot von Kokain ist einfach, dass seit dem Friedensabkommen 2016 in Kolumbien der Kokainanbau zugenommen hat und deutlich mehr produziert wird. Und dieses Überangebot findet deswegen seinen Weg nach Europa, weil es so lukrativ ist. Kokain ist vermutlich das Agrarprodukt mit der höchsten Gewinnmarge weltweit. Das Risiko scheint attraktiv, von Südamerika über teilweise zehn oder 15 Landes- und Seegrenzen hinweg Kokain nach Europa zu schmuggeln.
Es gibt also diese riesige Gewinnmarge bei Kokain. Gleichzeitig sprechen Analyst*innen seit mindestens zehn Jahren davon, dass Kartelle ihre Gewinne nicht mehr nur durch Drogenhandel erzielen, sondern zunehmend in anderen Wirtschaftszweigen: Menschenhandel, Kontrolle von Migrationsrouten, illegaler Bergbau. Hat der reine Drogenhandel an wirtschaftlichem Gewicht verloren gegenüber diesen anderen Aktivitäten?
Wir gehen davon aus, dass die Drogenökonomie in Europa wie in Lateinamerika nach wie vor die größte illegale Ökonomie ist. Die Nachfrage ist hier einfach größer als nach anderen illegalen Produkten. Aber das Phänomen lässt sich erklären, wenn wir einen Schritt zurückgehen: Die wichtigste Ressource für jedes illegale Geschäft sind Menschen, denen man vertraut, denn man kann nicht auf einen Rechtsstaat zurückgreifen. Man braucht Bewaffnung und Geldwäschemöglichkeiten, zunehmend auch Kryptomechanismen, um das verdiente Geld überhaupt nutzen zu können. Viele illegale Akteure haben gemerkt: Diese Infrastruktur ist nützlich für den Kokainhandel, aber lässt sich genauso gut für anderes nutzen, in Lateinamerika für illegalen Handel mit Holz, seltenen Tierarten, Benzin, das ist austauschbar. Es sind zusätzliche Einnahmequellen. Diese Polykriminalität sehen wir auch in Europa.
Eine gut organisierte Unternehmensholding
Der ecuadorianische Sicherheitsexperte Fernando Carrión sagt: Während früher wenige Kartelle die gesamte Lieferkette von A bis Z kontrolliert haben, operiert das transnationale Verbrechen heute wie eine gut organisierte Unternehmensholding. Wie können wir uns das vorstellen?
Es ist eine kleinteilige, dezentrale Arbeitsteilung. Bei Kokainhandel muss eine weite Strecke zurückgelegt werden, was risikoreich ist. An jedem Punkt braucht man andere Expertise und Sprachkenntnisse. Die italienische `Ndrangheta und die albanische Mafia bringen viel Kokain nach Europa und sind tatsächlich auch in Kolumbien oder Ecuador präsent, aber das ist die Ausnahme. In der Regel sind es kriminelle Netze, die dienstleistungsmäßig zusammenarbeiten, nicht dauerhaft. Man geht also auf einen Mittelsmann zu, bestellt einen Container nach Hamburg, um darauf eine Tonne Kokain zu transportieren, und wiederum andere, um das Kokain dann aus dem Hafen herauszubringen. Dann folgt die Distribution in Europa, wieder über andere Netzwerke. Und alle verdienen mit. Da ist nicht der eine Pate, der alles von oben kontrolliert. Aber das war auch schon damals bei Pablo Escobar nicht so.
Es ist also gar kein neues Phänomen?
In den 80ern gab es natürlich einen kleineren Markt. Aber die Annahme, dass es einen großen Anführer und eine pyramidale Struktur gebe, die kommt eher aus dem Fernsehen. Es ist der Versuch, eine große Komplexität fassbar zu machen.
Machen wir bei illegalen Ökonomien den gleichen Fehler wie bei legalen: Wir tun so, als wären das Problem ein paar große Köpfe, Pablo Escobar und El Chapo zum Beispiel, und ein paar große Unternehmen wie Nestlé und Bayer-Monsanto, dabei sollten wir lieber das System dahinter analysieren?
Ja, wobei diese Firmen ja tatsächlich große hierarchisch strukturierte Unternehmen sind. Das gibt es beim Kokainhandel nicht. Die Mengen sind ja auch geringer. Die jährliche Kokainproduktion liegt zwischen 2000 und 4000 Tonnen weltweit. Demgegenüber importiert allein Deutschland pro Jahr 1,3 Millionen Tonnen Bananen. Für Kokain braucht man also auch kein ganz so großes Unternehmen, eher ein paar gute Kontakte und die Möglichkeit, Geld zu waschen.
Produktions- und Transitländer haben die höchsten Kosten
In Ecuador macht gewaschenes Geld zwei bis fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Haben Staaten – weltweit – überhaupt ein Interesse daran, die illegalen Ökonomien einzudämmen? Immerhin halten sie auch die legale Wirtschaft am Laufen.
Wenn wir Verbindungen in die Politik analysieren, geht es da eher um Korruption und persönliche Bereicherung. Ansonsten würde man unterstellen, dass ein ecuadorianischer Politiker den Erfolg der Volkswirtschaft höher bewertet als die Einbußen bei Sicherheit und Stabilität. Außerdem bleibt das meiste Geld, das mit dem Kokainhandel erwirtschaftet wird, gar nicht in Ecuador, sondern am anderen Ende der Wertschöpfungskette. Ich sehe also keine Belege für diese These. Am Ende haben die Produktions- und Transitländer die höchsten Kosten, denn Gewalt und Korruption schaden dem Ruf eines Landes, sind schlecht für den Tourismus und ausländische Investitionen. Auch wenn natürlich einzelne Menschen sehr viel Geld verdienen.
Ergibt es überhaupt Sinn, zwischen legaler und illegaler Ökonomie zu unterscheiden?
Es gibt Abstufungen, manchmal bedient eine illegale Ökonomie eine legale Nachfrage, oder einem illegalen Ursprung folgt ein legaler Handel. Beide sind ineinander verstrickt, die illegale Ökonomie nutzt die Logistik, die Mechanismen und vor allem das Finanzsystem der legalen Ökonomie. Der Begriff illegale Ökonomie ist vor allem deshalb wichtig, weil er beschreibt: Es geht hier nicht um Verbrecherbanden, sondern vor allem um einen Markt.
In illegalen Ökonomien gibt es keine rechtsstaatlichen Mechanismen
Illegale Ökonomien operieren weltweit, aber nicht überall erleben wir so eine Gewaltexplosion wie aktuell in Ecuador. Warum?
Das ist die Millionenfrage. Meine Erklärung ist die Marktstruktur. In illegalen Ökonomien gibt es keine rechtsstaatlichen Mechanismen. Illegale Märkte sind nicht per se gewalttätig, aber sie werden es unter bestimmten Bedingungen, die mit der Marktstruktur zu tun haben. Wo kriminelle Akteure miteinander konkurrieren, werden sie zu Gewalt greifen, um sich durchzusetzen. Und je lukrativer ein Markt ist, desto mehr werden Akteure bereit sein, Risiken einzugehen. Wo es hingegen ein relativ stabiles Arrangement mit denselben kriminellen Akteuren gibt, wenig Konkurrenz und keine Intervention der Regierung, da muss man auch niemanden abschrecken.
Repressive Strategien wie der „war on drugs“ sind in der Praxis gescheitert. Die Zwei-Millionenfrage: Wo sehen Sie tatsächlich sinnvolle Ansatzpunkte, um illegale Ökonomien einzudämmen?
Wir sollten in Resilienz investieren, nicht nur von Staaten, sondern auch von Gesellschaften. Es wird natürlich viel darüber gestritten, ob Substanzen gesetzlich reguliert werden sollen, wie jetzt bei Cannabis. Aber wenn wir Resilienz stärken wollen, dann ja, gehört dazu natürlich auch eine moderne Drogenpolitik.
Das Online-Interview führte Mirjana Jandik am 18. Oktober. Daniel Brombacher ist Direktor des „Observatory of Organized Crime in Europe“ bei der Global Initiative against Transnational Organized Crime, einem führenden globalen Thinktank zur Bekämpfung des transnationalen organisierten Verbrechens mit Hauptsitz in Genf. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 480 Nov. 2024, hrsg. und mit freundlicher Genehemigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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