Wenn @3sat zur Abstimmung über den vom Sender vergebenen Publikumspreis aufruft, dann ist das auch eine Inventur der herausragendsten TV-Produktionen eines Film-Jahres. Ich sage Ihnen nicht, wie Sie abstimmen sollen. Aber ich verrate Ihnen gerne, warum ich heute für diesen Film von Marc Brummund gestimmt habe.
Diesen Film kann ich unmöglich besprechen, ohne über Christian Baron, den Autor der autobiografischen Erzählung zu schreiben, welche dem Drehbuch von Nicole Armbruster und Marc Brummund und damit diesem Film zugrunde liegt. Denn in der Analyse der deutschen Wirklichkeit stehen wir ganz eng beieinander.
Der Autor
Baron ist glatte 20 Jahre jünger als ich. Ein Altersunterschied, der es wahrscheinlich verhindert hätte, dass wir uns in unserer sozialen Realität als Kinder oder Jugendliche jemals begegnet wären. Was uns aber über diese zwei Jahrzehnte Unterschied verbindet, ist unsere Herkunft. Präziser: Unsere Klassenzugehörigkeit…:
„’Klasse‘ – das klingt nach Arbeiterbewegung und Vergangenheit. Dass die Klassenfrage heute wieder ein hochaktuelles, wenn auch vernachlässigtes Thema ist, belegt die Textsammlung „Klasse und Kampf“. Autor Christian Baron hat sie mit herausgegeben.“
Christian Baron im Gespräch mit Joachim Scholl/DLF-Kultur
So habe ich auch seinen Roman „Schön ist die Nacht“ (2022) gelesen, auf den ich nur aufmerksam wurde, weil Elke Heidenreich für die Süddeutsche Zeitung darüber geschrieben hat: „Ich bin als Arbeiterkind im Ruhrgebiet aufgewachsen. Ich kenne das, was Baron erzählt. Ich sehe im Park, durch den ich täglich mit dem Hund gehe, jeden Morgen den alten Mann, der zwischen Abfall und Hundescheiße die leeren Bierflaschen aus den Papierkörben fischt und denke: Ja. Es ist noch relevant. Ich hab einfach nur mehr Glück gehabt als Horst und Willy.“
Elke Heidenreich – Süddeutsche Zeitung, 25.07.2022 (Paywall)
Frau Heidenreich ist nun noch einmal mehr als 20 Jahre älter als ich, mehr als 40 Jahre als Christian Baron. Und auch bei ihr ist wieder dieses „Ich kenne das…“, weil es sich über Generationen manifestiert und fortgeschrieben hat – auch wenn unsere Familiengeschichten individuell und jeweils sehr unterschiedlich verlaufen sind.
„Ein Mann seiner Klasse“ (2024)
Mit „Ein Mann seiner Klasse“ hat Baron seinen Vater beschrieben. Es hätte ebenso mein Vater sein können. Ich hatte nur mehr Glück, auch weil mein Vater einfach sehr viel mehr Glück als „Ottes“ hatte. Und so vererbt sich das Glück, wie das Unglück über Generationen.
Und warum ist es „Glück“, das darüber entscheidet, was aus uns wird? Warum ist es die Herkunft, die bestimmt, was aus uns werden kann?
Wenn Sie den Fernseher einschalten, dann bekommen Sie, in der Regel, keine Antworten auf diese Fragen. Jedenfalls nicht in der Spielfilmmassenware, die produziert wird, um die scheinbaren Bedürfnisse eines Publikums zu erfüllen und damit die Einschaltquoten zu erzielen, die letztlich das System in der Form seiner Existenz rechtfertigen sollen.
Das trifft im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ganz ebenso zu, wie bei seinen kapitalistischen Konkurrenten. Filme, welche die Wirklichkeit zeigen, und sei es auch nur ein Ausschnitt daraus, haben das Potenzial ihr Publikum nachhaltig zu irritieren, ja, es zu eigenen Schlussfolgerungen oder gar Erkenntnissen anzuregen. Und damit meine ich explizit nicht den generischen Fernsehkrimi oder gar die Sozialpornos auf RTL2.
Würde das System – hier das Genre des Fernsehfilms – selbst die Klassenfrage stellen, dann wäre auch die von ihm abgebildete Wirklichkeit ganz schnell eine andere. Etwa genauso wie es in diesem Film stattfindet.
Hier werden seine Protagonist:innen nicht vorgeführt, sondern ihre Geschichte aus einer tiefen Solidarität mit den Figuren erzählt. Keine Frage, dass dafür zuvorderst das Buch von Baron zugrunde lag. Doch braucht es bei einer »Literaturverfilmung« ja immer noch erst eine geeignete Übertragung in ein Drehbuch und dann, ja, vor allem, auch ein:e Regisseur:in (Marc Brummund), die dem Material gerecht zu werden in der Lage sind.
All das hat sich für diesen Fernsehfilm gefunden.
Der größte Verdienst an dem Gelingen dieses seltenen Filmes gebührt, für mich, den überaus hervorragenden Darsteller:innen, zuvorderst den Kindern und den großartigen Frauen, Mercedes Müller und Svenja Jung. Denn ihnen wird von der ziemlich schonungslosen Inszenierung dieser Wirklichkeit tatsächlich eine Menge abverlangt.
Der Aufsteiger
Keine Frage, Christian Baron, der Autor und Schriftsteller aus Kaiserslautern, ist ein „Aufsteiger“. Ein Mann, der sich über die „Klasse“ seiner Herkunft erhoben hat. Die alte Geschichte also, die wir uns so gerne erzählen lassen:
„Wenn du dich nur genügend anstrengst, dann kannst du alles schaffen.“
So eine Geschichte, wäre eigentlich genau in der Norm dessen, was uns das deutsche Fernsehen und auch Hollywood gerne erzählen – doch es ist ganz und gar nicht die Geschichte dieses Filmes. Denn Baron ist ganz und gar kein Held. Er weiß, er hatte nur „Glück“, aus all dem Elend und der Tragik seiner Kindheit entkommen zu können, weil er an entscheidenden Punkten seines Lebens Menschen an seiner Seite hatte, die sich für ihn eingesetzt haben. Nur deshalb konnte er aus einem prekären Leben, eben „seiner sozialen Klasse“, das für ihn mit überragender Wahrscheinlichkeit vorbestimmt gewesen ist, eine ganz andere, seine eigene Geschichte machen.
Schauen Sie sich den Film an! Das nützt auch Ihrem Klassenbewusstsein!
Er ist eine Ausnahme der Regeln unserer Wirklichkeit.
Content-Warnung: Dieser Film handelt, unter anderem, von schwerem Alkoholmissbrauch und enthält drastische Szenen expliziter häuslicher Gewalt gegen Frauen und Kinder.
Wählen Sie hier Ihren eigenen Favoriten für den 3Sat-Publikumspreis
„Ein Mann seiner Klasse“ – Die Doku von Kai Diezemann, SWR 2024
„Ein Mann seiner Klasse“ – in der 3Sat-Mediathek bis 22.02.2025
„Ein Mann seiner Klasse“ – in der ZDF-Mediathek bis 01.11.2025
Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog des Autors, mit seiner freundlichen Genehmigung.
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