Alwys wurde oft All genannt. Wegen der von ihm verehrten Band The Allman Brothers. Dass Gitarrist Dickey Betts immer einen komischen Cowboyhut trug, so einen wie Hoss Cartwright, mit hoher Kalotte, Modell Sanfter Riese, ignorierte der Verdrängungskünstler Alwys einfach. Passte ihm etwas nicht ins Bild: raus aus der Erinnerung! Die nächste, er hatte allerdings noch nie eine, also: die nächste Freundin, dachte Alwys damals wie heute, sollte Jessica heißen. Wegen der Band The Allman Brothers, die mit ihrem Gitarreninstrumental „Jessica“ Anfang der siebziger Jahre ihren größten Hit hatten, so einen für die Zeitschaltuhr am Morgen. Es war heute im Break nur nichts Weibliches in Sicht, was seinem etwas holzschnittartigen Charme hätte aufsitzen können.

„Öfters mal Zähneputzen,” riet ihm Josh, wenn All sich bei ihm über sein karges Liebesleben beklagte. Da lief einfach nichts, zurzeit jedenfalls, temporär, redete er sich froh: „Ich bin übrigens für das Zölibat,” raunzte All Josh an, „Warum soll es anderen besser gehen, als mir. Scheiße.“

„Putz dir mal die Zähne,” sagte Josh trocken zum ihm. „Du stinkst aus’m Maul wie ein Wallach. Dich kann man im Break wittern, lange bevor du am Tresen sitzt.“

„Jessica“ erinnerte All irgendwie auch an früher. Früher, das konnte bei ihm vorgestern, voriges Jahr oder voriges Jahrzehnt sein, also ab fünfzehn aufwärts. „Jessica“ bedeutete Euphorie und Melancholie zugleich. Mindestens einmal pro Samstag kam „Jessica“ Mitte der siebziger Jahre in der Oldie-Sendung vom Pop Shop im Südwestfunk, seinem Ohr zur Welt. Oldies wurden nach Hörerwunsch gespielt, wenn der Hörer nur dazu eine kurze Geschichte schrieb.

Etwa so eine: „Ich trampte einmal von West-Berlin zurück in die Pampa, um meine Eltern zu besuchen. Auf der Auffahrt zur Avus stand ein junges Mädchen wartend und alleine in der Sonne und hatte einen Kassettenrekorder dabei. Es lief „Jessica“ von den Allman Brothers. Wir wollten in die gleiche Richtung, in den Westen. Das ist von West-Berlin aus meistens die Richtung, in die man will. „Jessica“ lief, schon hielt ein Auto und nahm uns mit. Sie hatte übrigens ein kleines Hündchen aus ihrer Reisetasche herausgucken und blieb eine Nacht bei uns auf dem Land. Ich brachte sie mit Vaters Wagen zur nächsten Raststätte. Gestern kam eine Postkarte aus Kreta von ihr.“

Schon hatte Frank Laufenberg die Scheibe auf dem Teller und los ging’s mit den flockigen Gitarrenriffs, spätestens gegen halb vier Samstag nachmittags.

Die treibende, leichte Melodie von „Jessica“ nahm Alwys irgendwie mit, wohin, wusste er nicht genau. Vielleicht nach Las Vegas, die Sonne putzen, wie es Udo Lindenberg sang, oder nach Mendocino? Letzteres war aber eine Liga darunter. Kein Klischee wirkte zu abgegriffen, als dass es nicht noch eine Ahnung von Aufbruch hätte vermitteln können.

„Ich werde eine Jessica finden!” war sich Alwys damals sicher. Dann schreib’ ich dem Laufenberg meine Geschichte und er muss es spielen.

Wenn es ein bisschen später wurde im Break, nannte ihn Josh, der Bassist in seiner Band „Eier and the Kartons“ – wegen unzähliger Eierkartons an Wänden und Decke im Probenkeller – Allways, es klang auch etwas nach Elvis, weil er, All, alias Alwys, die personifizierte Abkürzung von Allman Brothers, eigentlich immer nur Gitarre spielen wollte und auch konnte – egal, wo und wer ihm dann notgedrungen bis zum Abwinken zuhören musste. Josh wollte das auch und spielte – irgendwie auch ein bisschen aus Höflichkeit gegenüber Alwys – bundlose Bassgitarre. Die aber göttlich, weil er wie eine Posaune intonierte, wenn er erst nach dem Impuls auf die Seite selbige auf das Griffbrett presste.

An Alls Tisch in der Trinkbox des verqualmten Break saßen an diesem Abend aber auch Volker und Robert. Volker war Schreiner, hatte, nun ja, auch einmal Gitarre gespielt und dann – berufsbedingt – zum Schlagzeug gewechselt. Er konnte den Witz „Vier Bier für die Männer vom Sägewerk“ gewissermaßen authentisch erzählen und machte es auch: „Bringst du noch vier?“ Was dann wie das Peace-Vau wirkte, war die Lücke zwischen Zeige- und Ringfinger rechts.

Ralf war Pharmazeut, verdingte sich als Wochenendvertretung in Apotheken und sah mit seiner hohen Stirn und der blassen Hautfarbe immer so aus, als brauchte nur er ein Medikament. Keyboard hatte er sich selbst beigebracht und genau darum sollte es an diesem Abend gehen, um Dilettantismus. Um die Trennung von Volker und Ralf.

Josh und All hatten nach einem erneut schrecklichen Probenabend aber noch nicht die Kurve gekriegt, um jetzt im Break auf das sehr heikle Thema einzuschwenken. Der konfliktscheue Josh konnte das sowieso nicht. Überhaupt fand er wegen seines Übergewichts den Bandnamen „Eier and the Kartons“ einfach nur blöd. Er befürchtete, dass ihn wegen „Eier“ jeder, bzw. jede prüfend ansah. Die vielen Eierkartons hatten sie in der Osterzeit bei IKEA, wo es an einer Bude abermillionen Ostereier gab, in Joshs R4 dachhoch abgegriffen.

„Wenn du mal umziehst,” lautete Joshs Credo, „muss alles in einen R4 passen, sonst hast du was falsch gemacht.“

Aber jetzt ging es noch einmal kurz darum, Harry zu kontern. Josh stupste All schon mit dem Fuß unter dem Tisch an, um ihm zu signalisieren, dass er sich nicht mehr so aufregen sollte über Harry: “Bringt doch nix, All!”

„Ich sag’ dir was, Herr Break, dieser entsetzliche Synthibrei, den die Genesis da ständig verquirlt auf Platte gepresst haben, der erlaubt gar keine Qualität der Wiedergabe. Die wussten genau, dass deren People mit mehr als brustschwachen 15 Watt-Boxen, scheiß’ drauf, gar nicht zurechtkommen. Mutti kommt da abends das Licht ausknipsen, weil heimlich unter der Bettdecke Genesis gehört wird, was? Und, sorry, ne Scheibe „And then there were three” zu nennen. Das ist voll Verarschung. Die Genesis-zehn-kleinen-Negerlein sind nur noch drei, weil der böse Peter Gabriel sich schon längst vom Acker gemacht hat.“

All sang jetzt: „Vier kleine Genesis, die suchten ‘nen Akkord, der eine hat ihn rausg‘funden und machte sich gleich fort. Ne, geht wirklich nicht zusammen, Genesis und Zappa. Guck’ mal, der Zappa hat genau die Platte gemacht, die auf Genesis zutrifft: „We’re only in it for the money.” Nur, was der draus macht, der alte Schweineigel, das ist genial. Der ist ironisch und spielt trotzdem gut die Klampfe. Wenn einer Gesamtkunstwerk ist, dann Francesco, klar? Der hat die unendliche Melodie und spielt sie auch. Das turnt, eyh! Wie der als Zeichentrickfigur in „200 Motels“ übers Griffbrett fegt und seine Finger zu Schlangen werden. Sauglatt! Oder wie der in Po-Jama-People mit der Zunge schnalzt, als ob da der ganze Gaumen mit runterkäme. „They sure do make you sleepy with the things they might say.“ – Schnalz! – Das bringt’s, das ist Jean Paul und zwar der deutsche Ironiker und nicht der mehr Nichts-als-Sein Franzosen-Sartre mit Stumpen im Anschlag. Hast Du schon mal über Kopfhörer Zappa gehört?“

All hatte sich gerade erst, gewissermaßen symbolisch, nach Ablauf seiner Regelstudienzeit vom letzten Bafög einen Super-AKG-Parabol-Kopfhörer gekauft, dazu ein langes Kabel, um mit ihm in seinem großen Zimmer im dreizehnten Stock eines Hochhauses, aus dem er jetzt raus musste, umherlaufen zu können.

„Man gönnt sich ja sonst nichts,” hatte er bei den Hi-Fi-Profis gesprochen und legte 250 D-Mark auf den Tisch. “Ab jetzt ist Schmalhans”, dachte er dabei keineswegs resigniert. Dennoch: All brauchte dringend einen Job und zwar eher gestern als heute.

„Zappa macht Kupferstiche in Musik, so clean sind die Aufnahmen, take it like Dürer. Dann willst du nur noch beten. Von wegen, wir stellen uns mal auf die Bühne und gucken dann wie’s läuft, Du! OK, das ging wohl bei den frühen Genesis auch nicht, als die dem Collins ‘ne Eisenkugel ans Bein gebunden hatten, damit er den Beat nicht vergisst und schön in der Hütte bleibt. Aber bei dem Zappa, eyh, da kannst Du immer von ausgehen, der hat seine Leute geprobt, wie die das in der Klassik machen, so Karajan im schwarzen Rolli sonntags um zwölf auf’m Zweiten vor zehn Jahren. Wenn da ein Break nicht stimmt, da diese mit Marimba – das Wort kennt der Collins gar nicht – in ‚Inca Roads‘ auf der ‚One Size fits all‘, das ist die, wo er auch deutsch singt, ‚ich bin hier und du bist mein Sofa, ich bin der Dreck unter deinen Walzen‘. Also, wenn da einer nicht auf’n Punkt gespielt hat, dann hat der die zusammengeschissen. Mein lieber Herr Gesangsverein. Das hab’ ich mal in ‘nem Dokufilm auf’m Dritten gesehen. Aber echt mal: So ein Gitarrensolo wie in ‚Inca Roads‘, das gibt’s einfach nicht noch mal. Das! Ist! Un! End! lich! Du Arschkrampe Gesamtkunstwerk!“

Josh zog All jetzt mit freundschaftlicher Umarmung ganz rüber ins eigene Suff-Carré. Der wollte noch eins draufsetzen, hörte dann aber auf und ließ sich beruhigen. Immerhin gab es ja noch was zu erledigen.

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

Über Arthur Zupf:

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