Außer, dass ihm der Kaffeefilter beim Wasser einfüllen auf der Spüle umgekippt war, die Küche danach überall dunkle Sprenkel aufwies, was sie aussehen ließ wie eine Dalmatinerfalle, die Alwys dann seinerseits fluchend grob wegwischte, gab es kein größeres Ungemach am Morgen zu meistern. Eine Stunde später klingelte es an der Wohnungstür. Alwys las gerade auf der „Seite für die Frau“ in der WG-Tageszeitung aus der nahen Bankenstadt, dass Paare auch dann zusammenblieben, wenn sie selbst genau wüssten, dass sie eine schlechte Beziehung führten. Schon geschiedene Probanden hätten indes angegeben, dass sie ihre zweite Ehe schlechter als die erste empfänden.
„Schön bekloppt!“ war sich Alwys sicher, dass ihm so etwas niemals passieren würde und drückte bei diesem Gedanken auf den Türöffner.
Drei Minuten später stand Nasser in Alwys Zimmer, erwartungsfroh für eine neue Gitarrenstunde. Nasser war politischer Redakteur bei der Tageszeitung am Ort, wohnte weit draußen Richtung Pirmasens, also in der Alten Welt, wie er sie nannte, weil außerhalb der Einflugschneisen des Frankfurter Flughafens gelegen – noch – und fuhr einen alten 123er-Benz, grün-metallic. So einen stabilen, bevor dünneres Blech für die Karosse genommen wurde. „So einen Bauernbenz?” hatte Alwys gefragt.
„Ja, den lass’ ich aus ökologischen Gründen stehen und nehme meistens öffentliche Verkehrsmittel, außer, wenn ich abends noch Termin habe. Sonst komme ich nicht mehr heim.“
„Ihr grüner Benz fällt neben den Weiden und Weinbergen da draußen ja nicht so sehr auf. Das ist auch Umweltschutz.“
„Ich war mal beim Stern,” hatte sich Nasser bei Alwys seinerzeit auf seine Zeitungsannonce „Gebe Gitarrenunterricht“ vorgestellt. „Bin dann wieder zurück nach M., der Druck war mir in Hamburg zu hoch. Da läuft ja jeder mit einem gezückten Messer ‘rum. Und nach den Hitler-Tagebüchern hatten die da einen immensen Verschleiß. Dann lieber wieder hier: „Jedes lokale Ereignis ist ein Erfolg!“
Sein Redaktionshaus lag eine Straßenbahnstation nach der von Alwys, also gleich hinter dem Schwesternwohnheim, wo er am Schwarzen Brett ebenfalls Gitarrenunterricht angeboten hatte. Von Zeit zu Zeit kam eine Krankenschwester und ließ sich unterweisen. Deren Schichtdienst stand einem regelmäßigen Üben im Weg. So blieb es meist bei romantischen Gitarrenintros.
Nasser präsentierte das gut Geübte mit Anspruch, Segovia-Repertoire. Alwys saß ihm ruhig gegenüber und korrigierte Handhaltung und Anschlag: „Schultern nicht hochziehen, die rechte Hand ganz entspannt über dem Griffbrett baumeln lassen und den linken Daumen schön parallel zum linken Mittelfinger wie auf einer Schiene auf- und abgleiten lassen, wenn’s ins hohe Register gehen sollte, ok?“
„Ziehen Sie um?“ fragte Nasser ob der vielen Bananenkisten im Raum.
„Ja, am Samstag, ist noch Stadtbusbereich.“
„Hoffentlich komm’ ich dann rechtzeitig zur Konferenz, wenn ich vorher bei Ihnen bin.“ Er sah auf die im Zimmer verteilten Seiten der zweiten Tageszeitung am Platz. „Sie haben einmal für den neuen Zeitungsableger aus Koblenz geschrieben?“
Alwys hatte tatsächlich einmal dort damit begonnen über Musik zu schreiben. Aus purer Geldnot, wie das meiste, was er tat, gleichzeitig auch, um zu testen, ob es schon eine Möglichkeit gäbe, von dem, was man studierte irgendwann einmal zu leben, zumindest teilweise. In der Studieneinführungswoche wurde Mitte der 80er Jahre den Anfängern die geisteswissenschaftlich orientierte Art der Existenzbestreitung von den Professoren mit mehr oder weniger Ironie ausgetrieben: „Ihr Idealismus imponiert mir. Wenn sie als Taxifahrer gute Bücher lesen, können Sie sich auch selbstverwirklichen,” demotivierte mancher ordentlich bestallte Professor.
„Erst K-Gruppe, dann Verbeamtung,“ meinte Alwys diese fadenscheinige Arroganz zu durchschauen. „Ich studiere nicht, um dann wieder den gleichen Scheiß’ zu machen, wie vorher,” ärgerte er sich über soviel Nonchalance: „Dann hätte ich ja auch im Kaff bleiben können. Für ein Black Föss-Cover vom “Meiers Kättsche” hätte es dann auch gereicht!“
Vor Kurzem war tatsächlich eine zweite Zeitung in die Stadt gekommen, und Alwys dachte, die brauchen Leute, die sich hier auskennen, ging schnurstracks in die Kulturredaktion, sprach: „Ich schreibe über Musik“ und bekam gleich einen Auftrag, ein Sub-Pop-Festival in der Stadt. „Schreiben Sie viel mit Doppelpunkt. Das machts knackig,“ hatte ihm der leutselige Kulturredakteur noch nachgerufen.
Zwei Tage später stand in der Zeitung: „Oasis lässt grüßen: Früh übt sich.” Alwys war die meiste Zeit des Sub-Pop-Konzerts backstage, weil er den Lärm vor der Bühne im ranzigen Elzer Hof nicht aushielt und fragte die jungen Musiker nach ihren familiären Verhältnissen und damit nach ihren narzisstischen Kränkungen aus, warum gerade diese Musik et cetera. Immer schön mit Doppelpunkteinsatz. Das kam in der Redaktion sofort gut an, führte dazu, dass er auf diesen Sub-Pop festgelegt wurde. Deshalb hörte er nach einiger Zeit damit wieder auf, obwohl er das Geld dringend brauchte. „Falsches Metier, die Youngsters! War irgendwie leicht verdient, führt in die Sackgasse der Kulturindustrie!” fand Alwys voller Ehrgefühl, mit etwas zu viel Pathos – wie meist. Das Wort Kulturindustrie hatte er im Studium Generale an der Uni gehört, als es um die Frankfurter Schule ging, Horkheimer, Adorno, „Dialektik der Aufklärung“, die 68er-Bibel – und seine. Kulturindustrie war für Alwys als ein gesellschaftspolitischer Kampfbegriff das Gleiche wie für Harry das Wort Gesamtkunstwerk als Kulturmenschausweis. Beide waren, jeder auf seine Weise, nicht nur irgendwie, sondern ganz konkret in ihren Überzeugungen meist bornierte Zeitgenossen, die aus dem einmal eingeschlagenen Belehrungsmodus nicht mehr zurück ins profane Leben fanden.
Das Schreiben ging Alwys ganz gut von der Hand. Hinsetzen, nachlauschen, in die meschanische Adler auf Zeilenpapier den Text stanzen, und die Short Story mit dem Rad zum Verlagshaus bringen, auf das es gesetzt werde, dann hoch an die Uni. Fehler oder verworfene Gedankengänge wurden einfach durchgeixt. Diese Art unter Zeitdruck zu schreiben machte ihm richtig Spaß. Es war handwerklich, intellektuell und musisch zugleich herausfordernd. Der mit vierzehn Jahren im dörflichen Feuerwehrhaus absolvierte Schreibmaschinenkurs, sein juveniles kulturelles Highlight im Kaff, zahlte sich jetzt richtig aus, denn es musste schnell gehen, gewissermaßen Al-Fresco-Technik, den Gedanken sofort fixieren. Sätze formulieren beim Denken à la Jean Paul.
Der Jungkritiker Alwys überraschte sich selbst mit dem, was dann am Ende auf dem Zeilenpapier stand. „Wollte ich immer mal wissen!” klopfte er sich selbst auf die Schulter. Und sowieso: Sich am nächsten Tag gedruckt in einem recht auflagestarken regionalen Blatt lesen zu können, das war für Alwys jedes Mal wie ein Etappensieg über das System. Dabei half ihm seine Borniertheit durchaus, denn er konnte links und rechts alles ihn Ablenkende ausknipsen, wenn er sich konzentrieren musste und wollte: „Wahnsinn, ich denke, also verdien‘ ich!“ So konnte es bleiben, meinte er etwas selbstverliebt.
„Ja, habe ich, aber wieder aufgehört,“ antwortete Alwys auf Nassers Nachfrage nach dem Schreiben.
„Warum denn?“ Alwys hatte das Gefühl, Nasser recherchierte gerade und er wäre sein Objekt.
„Die hatten mich auf solche lauten Popsachen festgelegt, das ging mir auf Dauer auf die Ohren.“
„Ich glaube bei unserem Ableger in R. wird gerade jemand gesucht. Die haben da ein Theater mit Orchestergraben und allem Klimbim, aber kein Ensemble. Dafür jede Menge Gastspiele, glaube ich. In dem Theater macht Opel immer seine Pressekonferenzen. Rufen Sie da mal beim Kollegen an. Die bezahlen nix, oder fast nix, sag’ ich Ihnen gleich. Schönen Gruß von mir. Der Typ, der das macht, heißt Dakell, Betonung auf ‘ell!’, hab’ mit dem volontiert.“
„Hm,” sagte Alwys, „ich probier’ mal den zu erreichen. Welche Etüde hatten wir noch begonnen? Von Tarrega die mit den Skalen?“
Alwys und Nasser mochten sich. Die Scheidungsphase Nassers schlug gerade in eine Versöhnungsphase um. „Ich glaube, wir ziehen wieder zusammen,” sagte er zwischendurch. „So etwas stand auf der Frauenseite nicht, klingt aber vernünftig. Weil die zweite Ehe ja die schlechtere wird. Dann lieber auf altes Vertrauen wieder aufbauen,“ dachte Alwys und er fand Nasser noch sympathischer. Ehrlich, unverstellt und deshalb sympathisch.
„Ja? Schön! Ist auch sparsamer, nicht? Bitte nicht die rechte Schulter beim Spielen wieder hochziehen. Die Verkrampfung geht Ihnen bis in die Hand rein. Dann ist nichts mehr mit ‘Greensleves’ gepickt.“
Als Nasser wieder draußen war, rief Alwys direkt in R. an. „Dakell,” meldete sich eine etwas wellenartig singende Stimme, die mit langgezogenem A Anlauf für die kurze Schlusssilbe mit nachwippendem „LL“ nahm.
„Guten Tag, mein Name ist Alwys, der Herr Nasser erzählte mir, dass Sie jemanden für Ihre Konzertbesprechungen suchen. Das interessiert mich.“
„Jaaa, der Nasser, gibt’s den noch? Ich dachte der wäre beim Stern. Ach, der kam ja wieder zurück. War dann ‘ne Nummer zu groß für ihn.“ Dakell lachte das hämische Lachen der Ideotes, wie Daheimgebliebene und jede Auseinandersetzung scheuende Menschen schon in der griechischen Antike genannt wurden. „Ja, wir suchen jemand, das stimmt. Unser bisheriger Mann wechseld auf die Autotestseite, klar, und demnächst haben wir hier noch einige Kulturtermine. Haben Sie schon einmal Kritiken geschrieben? Bei uns ist meistens E gefragt. Klassik, Oper, Kammermusik, manchmal Jazz. Alles Gastspiele oder Tourneetheater.“
Alwys machte mit ihm einen Termin für Freitagnachmittag aus. Das Redaktionsgebäude sei vom Bahnhof aus gut zu Fuß zu erreichen. Da fände alles statt. Pro Zeile gäbe es 29 Pfennig, er könnte ruhig immer schön viel schreiben, dann käme auch schon was zusammen für ihn.
„Bringen Sie mal ein paar Arbeitsproben mit.“
„OK, bis Freitag dann.“
Alwys überlegte. „Scheißwenig. Sind ja pro Abend nur fünfundzwanzig Mark, höchstens, S-Bahn muss man noch abziehen. Ein Hungerlohn. Lohnt sich ja nicht mal die Anfahrt.“
Alwys packte nach dem Anruf nach kurzem zweitem Frühstück seine Sachen weiter zusammen und stellte sie für den kommenden Umzug ordentlich zueinander. „Öfter mal umziehen, dann kommt Ordnung rein,“ lautete seine Schlussfolgerung, die ihn amüsierte. Die Stereoanlage ließ er noch stehen. Das rote Plüschsofa aus dem Sperrmüll mitsamt dem chippendaleimitierten runden Tisch, ebenfalls vom Sperrmüll, blieb genauso an seinem Platz unter dem Fenster. Von hier aus konnte Alwys weit ins Land blicken und wusste schon eine viertel Stunde vorher, wann es regnen würde. Nicht unbedingt ein notwendiges Wissen, meinte er, doch er sollte sich noch täuschen, in welche Dimensionen ihn die Wetterthematik noch katapultieren würde.
Den Futon rollte er vom Bett und kippte den unten offenen Bettkasten fast senkrecht gegen die Wand. Mit mehreren Schraubenziehern machte er sich an den Schrauben der Winkelmetalle zu schaffen. Das alles nutzte nichts. Die Schlitze waren hin. „Vielleicht hat Josh eine Idee,” vertraute Alwys auf seinen Freund.
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
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