Am 17. Oktober fand der diesjährige „Internationale Tag zur Beseitigung der Armut“ statt. Die Vereinten Nationen haben dieses Datum 1992 zum Gedenktag erklärt, um auf die humanitäre Katastrophe der weltweiten Armut aufmerksam zu machen. 1990 ging die Weltbank von 1,9 Mrd. extrem armer Menschen aus. Bis 2020 gelang es, diese Zahl auf 650 Mio. zu reduzieren. Danach kehrte sich die Entwicklung aufgrund von Corona, Ukrainekrieg und anderen Konflikten wieder um, sie soll heute rund 700 Mio. betragen. Für 2030 rechnen die Vereinten Nationen immer noch mit 500 Mio. Menschen. Ihr Ziel, die extreme Armut dauerhaft zu beseitigen, liegt in weiter Ferne.

In seiner Botschaft zum Internationalen Tag zur Beseitigung der Armut 2024 weist der UN-Generalsekretär darauf hin, dass Armut nicht unvermeidlich sei. Sie sei das direkte Ergebnis der Entscheidungen, die Gesellschaften und Regierungen treffen – oder nicht treffen. Um die weltweite Armut zu beenden und eine nachhaltige Entwicklung zu erreichen, müssten die Regierungen ihre Institutionen und Systeme so gestalten, dass die Menschen an erster Stelle stehen. Um Wege aus der Armut zu bieten, müssten sie vorrangig in menschenwürdige Arbeit, Lernmöglichkeiten und Sozialschutz investieren. „Die Beseitigung der Armut ist das grundlegende Fundament respektvoller und menschenwürdiger Gesellschaften, in denen niemand zurückgelassen wird.“

Zum Gedenktag 17. Oktober passen die Ergebnisse des G 20-Gipfels im November (Treffen der größten Industrienationen plus EU + Afrikanische Union) in Rio de Janeiro. Immerhin ist die dort von Brasilien ins Leben gerufene „Globale Allianz gegen Hunger und Armut“ inzwischen von mehr als 89 Staaten unterzeichnet worden. Im Zentrum steht eine Reichensteuer. Die Staatengemeinschaft verliert nämlich jährlich fast 500 Mrd. $ an Steueroasen und 145 Mrd. an Offshore-Konten. Gewiss wird es noch mancher Anstrengung bedürfen, diese auszutrocknen – drei Jahre haben die Staaten sich dafür Zeit gegeben. Zudem blebt fraglich, ob alle mitmachen. So wurde die im Sommer beschlossene UN-Steuerkonvention zwar von 110 Staaten unterstützt, doch waren Australien, Großbritannien, Israel, Japan, Kanada, Neuseeland, Südkorea und die USA dagegen (darunter sechs G 20-Staaten). Die EU enthielt sich.

Als extrem arm definiert die Weltbank jene Menschen, die über weniger als 2,15 $ pro Tag verfügen und unter dem Existenzminimum leben. Dieser Betrag reicht nicht einmal aus, um Grundbedürfnisse wie Hunger zu befriedigen. Die Hälfte der Menschheit muss mit einem Betrag von max. 7 $ pro Tag auskommen. Besonders betroffen sind vor allem mehrere afrikanischen Staaten südlich der Sahara. Dort stieg während der Coronakrise die Verschuldung stark an, was zu Zinssteigerungen und höheren Belastungen für Staat und Bevölkerung führte. Zudem verschärfen die internationalen Konflikte und die Klimakrise Diskriminierung und Ausgrenzung – insbesondere von Frauen und Mädchen.

Der Gedenktag steht jedes Jahr unter einem anderen Motto, um zu zeigen, wie vielfältig die Armutsproblematik ist. 2021 ging es um mehr Respekt vor armen Menschen, 2022 gegen die Diskriminierung wegen Armut, 2023 um die Forderung, sozialer und institutioneller Misshandlung ein Ende setzen, und 2024 um die Vorgabe, dass die Beendigung der Armut die Herausforderung unserer Zeit ist. Auch der Europarat engagiert sich im Kampf gegen Armut. In der Feierstunde zum Gedenktag wies die Generalsekretärin darauf hin, dass Armut zumeist Anlass für die häufigste Form des Menschenhandels ist, die illegale Ausbeutung der Arbeitskraft.

Der Einrichtung des Gedenktages vorausgegangen waren Initiativen ziviler Organisationen, die sich zum Widerstand gegen Elend und Ausgrenzung bekennen, den notleidenden Menschen Gehör verschaffen wollen und sich dafür einsetzen, auch den Allerärmsten ihre Rechte zu sichern. Am 17. Oktober 1987 versammelten sich mehr als 100.000 Menschen auf dem Platz der Menschenrechte (Place du Trocadéro) in Paris, um ihr Nein zur Armut zu verdeutlichen. Eine Marmorplatte dokumentiert dort die Anliegen dieser Bewegung und erinnert an den Ursprung des Gedenktages. Inzwischen wurden 25 Repliken dieses Denkmals an symbolischen Orten in zehn Ländern auf vier Kontinenten aufgestellt.

Beseitigung der Armut ist auch der erste Punkt der 2015 von den Vereinten Nationen verabschiedeten 17 Ziele der Agenda 2030. Die weiteren Vorgaben sind Kein Hunger, Gesundheit und Wohlergehen, Hochwertige Bildung, Geschlechtergleichheit, Sauberes Wasser, Bezahlbare und saubere Energie, Menschenwürdige Arbeit, Industrie – Innovation – Infrastruktur, Weniger Ungleichheiten, Nachhaltige Städte und Gemeinden, Nachhaltigkeit in Konsum und Produktion, Klimaschutz, Leben unter Wasser, Leben über Wasser, Frieden – Gerechtigkeit – starke Institutionen, Partnerschaften zur Erreichung dieser Ziele. Fast alle Staaten der Welt haben diese Agenda unterschrieben, mit Ausnahme von Belarus, Bolivien, Iran, Kuba, Nicaragua, Nordkorea, Russland, Simbabwe, Syrien und Venezuela.

Neben der extremen Armut steht die relative. Sie bezieht sich auf das Einkommen der Bürger/innen eines einzelnen Staates. Das Einkommen dieser Menschen liegt deutlich unter dem nationalen Durchschnittseinkommen und verwehrt den betroffenen Personen die sozioökonomische und soziokulturelle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

In Deutschland wird nur die relative Armut erfasst. Nach EU-Definition gilt eine Person als arm, wenn sie über weniger als 60% des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Dieser Schwellenwert lag 2023 bei 15.000 €/a netto für eine allein lebende Person und betraf 14,7% der Bevölkerung. Dieser Index bewegte sich im vergangenen Jahrzehnt regelmäßig zwischen 15% und 17%. Im europäischen Vergleich liegt Deutschlands Quote im unteren Mittelfeld. Am höchsten ist sie in Bulgarien, Rumänien und dem Baltikum, besonders niedrig in Tschechien, Slowenien und Ungarn.

Armut gibt es also auch in Deutschland, einem der reichsten Länder der Welt. Kindergeld, Wohngeld, Bürgergeld und Pflegegeld, Bafög, Erziehungsgeld und Kurzarbeitergeld – all das reicht nicht, um allen Bürgerinnen und Bürgern ein materiell gesichertes Dasein zu ermöglichen. Dies gesteht auch die Bundesregierung ein, nachzulesen in ihrem Armuts- und Reichtumsbericht, den sie seit 2001 in jeder Legislaturperiode veröffentlicht. Anlass waren entsprechende Aufforderungen, die der Bundestag im Januar 2000 und im Oktober 2001 beschloss. Die siebte Ausgabe des Berichts erschien im April 2024.

Diese Berichte sollen der Überprüfung politische Regelungen und der Anregung neuer Maßnahmen dienen. Angesichts der Brisanz von Verteilungsfragen erfahren die Daten dieser Berichte stets eine besondere Aufmerksamkeit. Die Berichte enthalten nämlich eine Vielzahl von statistischen Angaben, Indikatoren und Ergebnisse begleitender Forschung, die das zuständige Ministerium für Arbeit und Soziales in Auftrag gibt. In der jüngsten Ausgabe wird zudem erstmals ein umfangreicher Beteiligungsprozess von Menschen mit Armutserfahrung ausgewertet, die ihre individuellen Erfahrungen und ihre Lebenswirklichkeit einbringen. 2023 waren gut 17,7 Millionen Menschen von Armut oder  sozialer Ausgrenzung betroffen, das waren 21,3% der Bevölkerung. Der Wert war gegenüber dem Vorjahr nahezu unverändert.  

Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband veröffentlicht seit 1989 regelmäßig Armutsberichte. Gelobt wird der markante Rückgang der Kinderarmut, jedoch sei zugleich eine starke Zunahme der Altersarmut erkennbar. Daraus leitete der DPWV Forderungen nach Reformen in der Grundsicherung und der Rentenversicherung ab. Interessant ist die Struktur der armen Menschen. Zwei Drittel der Erwachsenen gehen einer Arbeit nach oder sind in Rente bzw. Pension, ein Fünftel sind Kinder. „Insbesondere Alleinerziehende, kinderreiche Familien und Menschen mit schlechten Bildungsabschlüssen oder ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind von Armut betroffen.“ 4)

Die Nationale Armutskonferenz, eine deutsche Organisation, legt den Handlungsschwerpunkt auf das Thema „Wohnen sichern“. Sie hält es nicht für hinnehmbar, dass 12% aller Haushalte einen Teil der Miete aus ihrem Bürgergeld bestreiten müssen, und fordert anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung der Armut eine Schließung der Wohnkostenlücke durch Anhebung des Bürgergelds..

Über Heiner Jüttner:

Der Autor war von 1972 bis 1982 FDP-Mitglied, 1980 Bundestagskandidat, 1981-1982 Vorsitzender in Aachen, 1982-1983 Landesvorsitzender der Liberalen Demokraten NRW, 1984 bis 1991 Ratsmitglied der Grünen in Aachen, 1991-98 Beigeordneter der Stadt Aachen. 1999–2007 kaufmännischer Geschäftsführer der Wassergewinnungs- und -aufbereitungsgesellschaft Nordeifel, die die Stadt Aachen und den Kreis Aachen mit Trinkwasser beliefert.