„Hmm,” meinte Alwys, „wie sieht’s denn aus? Müssten wir nicht für die Ziehung nächste Woche neue Lottozahlen pendeln?“
„Machen wir nach der Partie Mensch-ärgere-dich-nicht,” grummelte Josh vor sich hin, als er Legu mit einer satten drei genau vor dem rettenden Hütchenhafen hinauswarf.
Über dem Küchentisch hing eine große blaue Papppyramide, entworfen, geschnitten und gefaltet von Angel, kopfüber von der Decke herab. An deren Spitze baumelte ein kleines Lot, wie es Maurer benutzen, um festzustellen, ob die Wand wirklich senkrecht hochgezogen wurde. Auf die Glasplatte des Küchentischs, worunter sich das Spielfeld befand, wurde dann ein von den Slowakendeutschen als kleines Gastgeschenk für gute Nachbarschaft gesticktes Lottofeld gelegt und ein Pendel in kreisende Bewegung versetzt. Meistens mussten sie die anzukreuzende Ziffer raten, so ungenau war die Glücksmaschine, immerhin kam auf diese Weise ab und zu ein Vierer mit Zusatzzahl dabei heraus, so dass sich Einsatz und Gewinn in etwa die Waage hielten. Irgendwann einmal hatten Josh und Legu davon zu träumen begonnen, sich von einem fetten Lottogewinn eine Yacht zu entwerfen und auch selbst zu bauen. Sie wollten sich auf und davon machen, weg von diesem merkwürdigen Leben mit seinen Unehrlichkeiten, seinem Vertrauensmissbrauch und seinen Aufgesetztheiten.
„Dahin, wo das Wetter die beste Geschichte schreibt,” hatte Legu geschwärmt. „In die Karibik, in die Kernregion des Reggae.“
Aber halt: Bevor es mit der Yacht losgehen konnte, falls das Pendel an der Pyramide tatsächlich einen Sechser auf dem Lottoschein herbeizaubern sollte, mussten sie noch den Segelschein machen. Den wollten sie über Kurse beim Deutschen Jugendherbergswerk erwerben. Sie nannten den Segelschein ihre „Lizenz zum Törnen.” Die Yacht sollte im hinteren Hof zwischen Wirtschaftsgebäude und Schweinestall gebaut werden. Baupläne und Anregungen hatten Legu und Josh reichlich aus der Fachzeitschrift Yacht gesammelt. Einmal im Jahr, im Januar, trieben sie sich auf der Yacht-Messe in Düsseldorf herum und fühlten sich da schon halbwegs auf hoher See. Legu sollte zehn Jahre später, mit knapp über fünfzig, der einzige sein, der sich diesen Traum erfüllte. Aus dem Besitz der DDR-Parteibonzen erwarb er ein ziemlich seeuntüchtiges Exemplar mit zwei Gästekabinen, möbelte es wieder auf, machte auf dem Ratzeburger See einen Crashkurs für angehende Skipper und sollte wirtschaftlich einigermaßen rentabel zwischen dem Stettiner Haff und Kiel Touristen hin- und hergondeln. Ahnung vom Wetter und auch von dem auf Hoher See hatte er ja.
Statt eines Lottosechsers gab es jetzt, an diesem für alle eine Wendung oder Steigerung in ihrem Leben bringenden Spieleabend, nur Sechser bei Mensch-ärgere-Dich-nicht. Angel hatte schon vier Salzstreuungen vollzogen. Alwys kochte innerlich vor Wut und Harry paffte eine Selbstgedrehte nach der anderen, wobei er kläglich versuchte, Kringel mit dem Zigarettenqualm zu blasen.
„Sind gut, die Langosz,” meinte er beiläufig, „gibt es noch welche?,” fragte er leicht fordernd.
„Nein,” raunte Alwys ihn an, „die Türken haben die letzten bei Ihrem Rückzug aus Wien und vom Balkan mitgenommen.“
„Jetzt fang an,” begann Harry zu motzen, „als ob du wüsstest, wann das gewesen sein soll, mit den Türken in Wien.“
Legu war zwischenzeitlich in der Bibliothek gewesen, um dem Leguan Wasser für die Nacht zu bringen. Dabei konnte er zumindest Palatschinken in der Enzyklopädia Britannica nachschlagen.
Das Spiel ging weiter. Alwys hatte noch drei Hütchen im Häuschen. Endlich warf er drei Sechser hintereinander und befand sich jetzt wieder mitten im Spiel.
„Also wisst ihr,” meinte Josh nach einer Weile, „sollten wir nicht auch einmal das I Ging ausprobieren? Woche für Woche pendeln wir die Zahlen, OK, immerhin halten sich die Verluste in Grenzen, aber so recht kommt eigentlich nichts dabei heraus. Wir müssen das System ändern. Die in das Pendel hinein fokussierte kosmische Magie scheint ja wohl nicht zu reichen für einen Volltreffer. Oder haben die Ägypter etwa die Pyramiden auf die Spitze gebaut, oder die Azteken?“
„Die in Südamerika haben gar nicht die Azteken gebaut,” meinte Harry jetzt mit belehrendem Ton, dankbar, dass er sich in die Runde einbringen konnte. „Die haben die Außerirdischen gebaut. Das sind eigentlich Tower für die Flugplätze ihrer Raumschiffe, ich dachte, hier säße ein Zappa-Fan, eyh, Inca Roads, war doch was, oder?.“
„Danke, Harry,” meinte Alwys darauf trocken, „ich wusste gar nicht, dass du lernfähig bist, darum geht es in Zappas ‚Inca Roads‘, genau um diese Flugplätze und auch um diese riesigen blankgeschmirgelten Steinkolosse, die damals keine Maschine hätte bewegen können, außer Ausserirdische.“
„Pass mal auf, dass dein Mister Z. nicht selber bald bei den Außerirdischen ist,” grätzte Harry Alwys an.
Den hatte zwischenzeitlich Angel mit perfider Salzstreuung wieder in seine Mensch-ärgere-dich-nicht-Grenzen verwiesen. Alwys hätte sie am liebsten zu was auch immer Lebenslänglich verurteilt. Zu lebenslänglichem Würfelverbot. Aber er wusste nur zu gut, dass sie ihn in der Hand hatte mit ihrer stillen, nicht nachlassenden Art, die Dinge hier im Winzerhof so zu richten, dass es den Männern nicht auffiel, wenn eigentlich alles immer einigermaßen sauber blieb.
„Also, lieber Alwys,” sagte sie jetzt und konnte dabei auch ganz herzlich sein, „schön, dass Du da bist!“
Alle nahmen ihr schmales, hochwandiges Schoppenglas und leerten den Hauswein mit einem kräftigen Zug. Das war eigentlich nicht unelegant an dieser Stelle, denn es gab ja schließlich auch etwas zu besiegeln oder zumindest zu bezeugen, dass sie sich alle über Alwys hier freuten. Dass Josh und Alwys ihre Stücke jetzt ohne große Wege zwischen Ihnen üben konnten – wenn auch noch ohne Schlagzeuger und Keyboarder.
„Josh, sollten wir nicht ganz auf einen Keyboarder verzichten, die versauen uns mit ihren vielen Knöpfen über den Tasten nur den Sound. Wir sind eigentlich ein klassisches Trio. Schlagzeug, Gitarre, Bass. Du übernimmst mit deinem Frettless auch noch eine Posaunenstimme und ich spiele sowieso immer mehr, als eigentlich nötig. Das ist mal ein Konzept Gesamtkunstwerk, was Harry?“
„Leck, mich,” sagte Harry nur, denn der lange Samstag im Discount hatte ihn ziemlich geschlaucht. Heute war die Autoabteilung sein Revier gewesen. Felgen umsortieren, neue Preise dran und so weiter. Im Frühjahr wurden die Wagen meist schick gemacht mit so einer Sportfelge.
„War da nicht etwas mit Palatschinken?,” fragte Legu jetzt, um die Streithähne etwas auseinander zu bringen. Ich habe nachgeschlagen. Aber nicht bei Diderot, soweit waren die noch nicht. Die mussten ja erst einmal die Royalisten vom Thron, bzw. aus der Königsloge in der Comédie Française schmeißen. Das war vielleicht eine Querelle des Buffons! Dagegen seid ihr mit euerem Genesis – Zappa – Kleinkrieg die reinsten Vorschüler.
Also in meinem Kochbuch deutscher Sprachinseln, herausgegeben vom Bund der Heimatvertriebenen, steht Langosch, mit sch, tatsächlich als ein Gericht der Zipser Sachsen in der Slowakei, da wo Jelena herkommt. Die Palatschinken hat übrigens auch was mit Italien zu tun, mit dem heutigen Italien. Sie entstand in Triest gleichzeitig mit dem Espresso als sehr leichter Morgenpfannkuchen. Der Espresso wurde ja in Triest erfunden, als das alles noch k.u.k. gewesen war. Auch die Slowakei und Ungarn. Je weiter dieser sehr dünne Pfannkuchen als Mittelding zwischen Pizza und Crêpes über Graz in den Norden nach Wien wanderte, desto üppiger wurde der. Sein Siegeszug führte ihn tatsächlich über Pressburg weiter Richtung Prag. In Pressburg gab es allerdings eine seltsame Begegnung von Langosch und Palatschinken. Die Einflüsse aus Ungarn, Norditalien und eben aus dem Tatragebiet vermischten sich und es gab unzählige Teigvarianten, bis sich der heutige Standard herausbildete und sich die Gerichte wieder scharf voneinander absetzten. Im Langosch ist also immer auch etwas Palatschinken drin, zumindest in homöopathischen Dosen. Langosch und Palatschinken, die ungleichen Brüder, sind gewissermaßen Produkt eines cultural clash zu Anfang des 19. Jahrhunderts, als die Mozartkugel erst noch erfunden werden musste. Der Germknödel dagegen ist eine ursprünglich böhmische Sache, der dann mit allerlei Füllung zwischen Pflaumen, Marillen und auch Fleischfüllung seinen Siegeszug in Richtung Süden machte. Wird heute mit Vorliebe noch im Bayerischen Wald und am Lech in vielen Varianten zubereitet. Mal ganz abgesehen von den Fast Food Touristen-Varianten davon, die es überall entlang der bayerisch-österreichischen Grenze gibt.“
Von draußen hörten sie die Kiesel knirschen. „Ihr habt noch Licht,” sagte eine warme, mit leichtem osteuropäischem Akzent versehene Altstimme, kann ich noch etwas zu Euch kommen? Hallo, ich bin Jelena.“
Die junge Frau vom Haupthaus gegenüber kam direkt auf Alwys zu und streckte ihm ihre Hand entgegen.
Alwys war überrascht. Das war wohl die Frau, die den Teig gebracht hatte und Angel schien sich mit ihr angefreundet zu haben.
„Ich bin Alwys,” brachte er nur etwas stockend hervor und spürte dabei schon ihren für eine Frau recht festen und trockenen Händedruck.
Jelena war gekleidet wie sie alle, Jeans, T-Shirt, Sandalen. Nicht auffällig. Alwys fiel dennoch ihr Halskettchen auf, an dem zwei silberne, gekreuzte Schlittschuhe baumelten.
„Bisschen warm dafür,” meinte er nur und deutete auf die Kette.
„In der Halle nicht,” meinte Jelena knapp zurück.
„Jelena war mal die Hoffnung der Tschechoslowakei im Eiskunstlauf,” erklärte jetzt Angel die Anhänger. „Mit dem Antrag auf Ausreise hörte das aber schlagartig für sie auf.“
„Das Leben ist kein Wunschkonzert,” meinte Jelena dazu fast beiläufig und setzte sich auf das rote Plüschsofa. Da lagen etliche Yellow Press Zeitschriften, in denen sie zu blättern begann.
„Stört es Euch, wenn ich meinen Deutschkurs hier ein bisschen anwende?“
„Gar nicht,” meinte Legu, „hat Boris Becker schon wieder was laufen? Vorhand einmal anders! Wo krieselt’s? Bitte sag’ uns Bescheid.“
„OK,” hörten sie nur vom Sofa.
„Du sag’ mal, Jelena,” fing jetzt Legu an, „da, deine Langosz die waren ja herrlich, ist das eigentlich aus deiner Gegend aus der Tatra?“
„Nein, eigentlich nicht, da werden mehr Pfannkuchen gemacht, Küchel, wie die Zipser Sachsen sagen. Die Gegend hieß ja mal Zips. Das mit dem Langosz kam ja dann dazu und irgendwie aus Ungarn da hinauf. Und dass man so ein Gebäck mit Knoblauchtunke bestreicht, ist ja ganz untypisch für meinen Stamm. Da wird eher alles entweder gezuckert oder man macht Teigtaschen, in die dann kräftig Fleisch und Gemüse hineinkommt, so eine Art Letscho mit Fleisch.“
„Waren auf jeden Fall heute Abend genau das Richtige, die Langosch,” meinte Alwys jetzt wieder etwas weniger verlegen, als bei der Begrüßung. „Wir hatten einiges zu stemmen heute. Vielen Dank. Zur Einweihung koche ich mal was, kannst dann auch kommen, ok?“ Alwys hatte das Gefühl, als sei er Jelena schon einmal begegnet.
„Jelena, sag mir dann bitte Bescheid,” lispelte Harry. „Der Alwys würde mir das sonst verschweigen, du bringst mich dann mit.“
„Kennt Ihre euch?,” fragte Alwys etwas genervt über Harrys, wie er meinte, Unverschämtheit.
„Ja, aus dem Discount. Jelena, gell? Wenn bei Capri Sonne die Rote Grütze im Meer versinkt. Hast du nächste Woche wieder Dienst? Ich kann Mittwoch nicht, da ist Doktorandenkolloquium. Professor Schweppenhäuser aus Frankfurt kommt und spricht über die Dialektik der Aufklärung. Da müsste ich eigentlich einen Kasten Schweppes mitbringen, am besten eine Palette, was Alwys?“
Harrys Luft einziehendes, röchelndes Lachen setzte mit der Spontaneität eines Schlagbohrhammers ein.
„OK, Harry, kommst du dann zu mir an die Kasse zahlen, ich mache dann Storno,” reagierte Jelena witzig auf Harrys Frotzeln. Bei dem Wort Storno waren ihre slawischen Wurzeln deutlich hörbar.
„Eine Frau, die sinnlich das R rollt,” dachte Alwys bei sich, das wäre wirklich auch eine Alternative.
Jelena absolvierte an der Universität einen Deutschkurs und verdiente sich im Discount etwas dazu. Das durfte sie eigentlich nicht als Aussiedlerin, machte es aber trotzdem. Nicht alle von der Familie hatten sofort Arbeit gefunden. Jelenas Abitur auf einer vom Auswärtigen Amt teilweise mitfinanzierten deutschen Schule in der nahen Kreisstadt Popprad am Fuße der Tatra wurde fast lückenlos anerkannt. Aber vor dem Beginn eines Jurastudiums musste hier noch ein Zertifikat vorgelegt werden. Jelena ging das alles recht energisch an, hing zwar abends auch oft ziemlich durch, sie wusste aber, dass sich ihr Einsatz lohnen würde. Nicht mehr auf dem Eis und auch auf dem Treppchen zu stehen bedauerte sie allerdings schon in stillen Momenten. Dann war Angel, waren die Leute des Wirtschaftsgebäudes der Republik freier Flaschenhals, ihr eine willkommene Ablenkung. Denn Jelena konnte sehr großes Heimweh entwickeln, Alwys übrigens auch. Aber wonach?
Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.
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