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Komödie des Geldes, 15. Dezember 2024: Interlude

Die Ewigkeit des Rock
In memoriam Andreas Obst

Als die Schallplatte noch zwei Seiten hatte, währte die Ewigkeit des Rock gerade mal eine halbe Stunde: Bis zum Umdrehen der Scheibe. Das hatte Vor- und Nachteile. Nachteilig war, dass der im Rock virulente Wunsch nach musikdramatischen Dimensionen in den durchkomponierten Konzeptalben, vor allem im sogenannten “progressiven Rock” der siebziger Jahre, eine dramaturgisch jähe Zäsur erfahren musste. Tatsächlich gab es auch im Rock eine Diskussion über den gesellschaftlichen und historischen Stand des musikalischen Materials.

Diese zeitliche und ästhetische Kluft, hervorgerufen durch das weiße Rauschen der Auslaufrille, das Heben des Tonarms, das Drehen der Schallplatte und das erneute Absenken des Tonarms mit seinem gutturalen Knackgeräusch beim Einrasten der Nadel in der Rille, konnte die von der Musik verbreitete Illusion, dass man sich klanglich mit Lichtgeschwindigkeit gerade von sich selbst entfernt habe, sich gleichzeitig allein gegen das Elend der Welt stemmte und sich eigentlich aber wünschte, die schöne Arzttochter im Freibad auch einmal ins Wasser werfen zu dürfen, gnadenlos zerstören – abgesehen von ebenfalls im Rock verarbeiteten, ganz anderen Fragen der Mensur.

Schnell bekamen Lieblingsplatten Kratzer, sonst wären es keine gewesen und natürlich meist da, wo wichtige Textinhalte oder zentrale klangliche Ereignisse transportiert wurden: Auf Lieblingsplatten war alles wichtig. Nicht auszuhalten etwa, wenn im Blockflöten-Intro von Led Zeppelins Hard Rock-Ballade “Stairway to heaven” die Abtastnadel an einer der protestantisch naiven Tonwendungen der Blockflöten im Intro hängen blieb, dadurch der chorische Klang des harmlosen Schulinstruments durch unbotmäßige Wiederholung monströse Dimensionen annahm und damit den eigentlichen Hörgenuss der gebrochen melancholischen Stimme Jimmy Pages mit seiner finalen Entladung des Gefühlsstaus in einer Schreiorgie verweigerte. Schlimm auch, wenn ganze Verszeilen vom brachialen Kratzen abgenutzter Nadeln einfach weggefräst worden waren, was mitunter Assoziationen an diktatorische Zensur hervorrief, wenn so schwarze Balkungen akustisch übersetzbar wurden – diabolo ex machina. Aber zum Glück: Es war ja nur ein mechanischer Fehler beim Abspielen der Tonkonserve und nicht der CIA im Jugendzimmer.

Manches Trauma früher Hörerfahrung hatte sich freilich auch in die Hirnrinde seiner Rezipienten eingraviert und harrte der Auf- und Abarbeitung. Sei es, weil bei bestimmten Songs eine Liebe in die Brüche ging oder eben begann, Suzanne. Sei es, dass man selbst in einer Band den Rock nachspielte, den man sich sowieso aufgelegt hätte, etwa Z.Z. Top, weil deren Musiker bereits über jene Bartlänge verfügten, die sich ein Siebzehnjähriger wünschte, um bloß keine Lehrstelle zu bekommen. Oder Wishbone Ash, weil man an deren duettierenden Gitarrensolos im Terzabstand den Unterschied zwischen Dur und Moll exemplarisch vorgeführt bekam. Dass es sich dabei um Terzintervalle handelte, musste nicht unbedingt gewusst werden. Oder man erinnert sich an bestimmte Rock- und Popmusik, weil man zu einer Zeit mit gewissen musikalischen Abwegigkeiten konfrontiert wurde, die sich nicht ohne weiteres im Alltagsgeschäft der Pubertät erklären ließen, dennoch Faszination ausübten, wie etwa George McGrays unglaublich hohe und dabei kristalline Kopfstimme in seinem einzigen Hit “Rock your baby.” Nummer eins der Charts im heißen Sommer 1976, als man in Deutschland das Autowaschen verbot. McGrays Koloraturen erfuhren allenfalls in den vegetativ aufsteigenden Melismen von Whitney Houstons scheinbar vordergründigem Liebeslied “I will always love you” eine adäquate Fortführung – von der Gesangskunst her nicht weit von der opulenten Melodieführung früher abendländischer Mehrstimmigkeit im 12. Jahrhundert entfernt.

Solchen subjektiv biographisch fest verankerten Incipits der Rock- und Popmusik aus dem Gemischtwarenladen, der unser Plattenschrank war, lässt sich nur schlecht ein Denkmal setzen. Cover-Versionen zeugen oft von Liebe und Hass auf die Vorlagen, von Nicht-Vergessen-können all dessen, was schon längst in den Orkus jener 9/10 unseres Gehirns gehört hätte, die brach liegen. Vom Schrott, vom Schrulligen, aber auch vom einfach Schönen der Rock- und Popmusik, enervierend und insistierend – aber so, als sei der Plattenspieler nicht geerdet und die fingerakrobatischen Verheißungen von Alvin Lees furiosem Woodstock-Gitarrensolo in „Going home“ würden niemals mehr durch die dröhnende Lautsprechermembran durchdringen, auf dass man sich im nachbarschaftlichen Clubsessel bei sturmfreier Bude den Kopf schwindelig schüttele.

Die Vorlagen oder Bezugswerke von Coverversionen scheinen als ganz vage zu identifizierende Originale nur mehr rudimentär durch den davor gehangenen Klangschleier aus einem sehr fein abgestuften Geräusch- und Intonationsrepertoire. Aus einem mehrfach gebrochenen Geräuschkosmos einer verzerrten und verhallten E-Gitarre steigen Stimmen Monteverdis auf, als sei es der jüngste Tag. Quietschend und krachend öffnen sich Särge, werden die Grabdeckel von innen beiseitegeschoben. In der Übersteuerung der akustischen Signale akzentuiert sich genau jenes atonale Moment der Rockmusik, dass jeder Klangverzerrung innewohnt – seit “I can’t get no satisfaction” von den Stones, dem ersten Song, bei dem der Klang der E-Gitarre verzerrt wurde. In diesem geräuschhaften Kontext, der auch von der Einsamkeit der Flughäfen erzählt, fällt dann schon nicht mehr auf, dass jene sprichwörtlich gewordenen drei Akkorde gar nicht mehr angeschlagen werden müssen, um mit dem Charme einer Kellerband zu kokettieren. Was bleibt, ist die nackte Aura des Rock, reduziert auf monadische Pixel, eine Ahnung von Aufstand und Selbstbehauptung, die sich ihre neuronalen Bahnen selbst suchen. Dies aber derart aufgebläht und unter dem intonatorischen Mikroskop derart gedreht, gewendet und archaisiert, dass man sich am Ende fragt, ob Cover-Versionen auch ohne Strom abgespielt werden könnten. Das ist die Ewigkeit des Rock.

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

Über Arthur Zupf:

Unter der Kennung "Gastautor:innen" fassen wir die unterschiedlichsten Beiträge externer Quellen zusammen, die wir dankbar im Beueler-Extradienst (wieder-)veröffentlichen dürfen. Die Autor*innen, Quellen und ggf. Lizenzen sind, soweit bekannt, jeweils im Beitrag vermerkt und/oder verlinkt.

2 Kommentare

  1. Martin Böttger

    Und was hast du beim Schreiben geraucht? Oder warst Du früher beim Radio? Obwohl: das “Oder” bitte wieder streichen.
    Das erinnert mich an einen in Beuel lebenden ehemaligen Rockmoderator von WDR1, ein echter Musikprofessor, der als “zu alt” vom WDR gefeuert worden war, als der “EinsLive” einführte. Das war der Moment, als ich mich als Hörer für den WDR auch “zu alt” fühlte.

  2. Arthur Zupf

    Blaue Gauloise, Pall Mall ohne Filter. Reval, Bastos mit Filter aus Belgien, das waren kurze und 25 in einer Packung. Sonst nichts.

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