Legu stand auf, blickte kurz in die Runde und verließ die Küche. Angel hatte ihn noch nie so entschlossen erlebt. Sein Gang war anders als bei seinen endlosen Dünenspaziergängen, fast schon rasch: Sie hörten ihn über den Schotter in seine Bibliothek schreiten, Tür auf, kurzes Knarren der Scharniere, zwei, drei Worte zu Fritz, dem Leguan gesprochen, Geraschel, ein paar Bücher purzelten wohl auf den Boden, kurzes Fluchen, wieder das Knarren der Scharniere, Tür zu, über den Schotter zurück zum Wirtschaftsgebäude und Legu stand mit einem sandsackartigen Beutel am Küchentisch wie ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal – fehlte nur noch ein Gaul zwischen seinen O-Beinen. Für dessen Schnauben wäre Harry zuständig gewesen.

„Mach’ noch eine Flasche auf, Josh,” befahl er trocken seinem Wohnungsgenossen. Josh zog gehorsam den Korken der nächsten Flasche andächtig aus dem Hals – ohne Plopp – und schenkte allen vom kühlen Portugieser ein. Die Gläser beschlugen erneut vom Temperaturunterschied. Legu stand mit seinem Beutel immer noch wie angewurzelt vor dem Küchentisch.

Mit einem leichten Ruck stemmte er ihn auf die Platte. Der Beutel stellte sich tatsächlich als ein Sandsack von der freiwilligen Feuerwehr seines Heimatdorfes heraus, wie sie bei Hochwasser als Material für den Dammbau benutzt wurden. Das Innere war von außen nicht zu identifizieren. Auf der Glasplatte des Tischs, unter dem Pendel und über der Mensch-ärgere-Dich-nicht-Intarsie klang es jedenfalls so, als hätte Legu damit das Nagellager seiner Dachdeckerverwandten geplündert. Der Sack lag jetzt mit sehr breitem Bauch auf dem Tisch wie eine vergessene Nana von Niki de Saint Phalle.

Legu setzte sich wieder in die Runde. Bis jetzt hatte niemand mehr etwas gesagt. Die Köpfe waren ihnen von dem recht anstrengenden Tag, dem Wein und den einige Zeit zur Verdauung beanspruchenden Langosz schwer geworden. Da half dann auch keine frische Frühsommerluft mehr. In ihren Mägen grummelte es, in ihren Hirnen war Leere, in ihren Herzen regte sich aber Neugier, was Legu ihnen nun präsentieren würde.

„Mach’s nicht so spannend,” forderte Harry Legu auf, das Geheimnis seines Sacks endlich zu lüften. „Ich muss gleich durch die Nacht heimradeln und würde das gerne mit einer Gewissheit mehr machen, als bevor du den Sack brachtest. Was ist drin?“

Legu band den Sack auf und griff mit beiden Händen hinein. Was sie hörten, war metallenes Klirren. Der Wetterhistoriker hob seine Hände langsam aus dem Sack in die Höhe. Als ihre verschwommenen Blicke allmählich wieder klarer wurden, konnten sie zuerst gar nicht glauben, was sie sahen: Aus seinen vollen Händen, die er wie Schaufeln eines etwas zu großen Spielzeugbaggers ineinander verschränkt hatte, fielen unzählige silberne Geldstücke in den Sack zurück. Immer noch herrschte Stille.

„Mensch, Legu,” durchbrach Alwys nach einer weiteren Gedenkminute das Schweigen, „ich wusste noch gar nicht, dass sich der Inhalt Deiner Bücher zur Geisterstunde materialisiert. Ist das aus der Schatzinsel?“

Harry, Alwys, Jelena, Josh und Angel regten sich ebenfalls jetzt wieder – mit heruntergeklappter Kinnlade. Alwys konnte sich dabei den Blick auf Jelenas geraden und vor Gesundheit weiß strotzenden Zahnreihen nicht verkneifen. Das blieb Jelena allerdings nicht verborgen und zwinkerte ihm wie die Zeitlupe des Flügelschlags eines Kolibris herüber. Alwys wusste in dem Moment nicht, welchem Zauber er erliegen sollte. Dem etwas burschikosen Charme Jelenas oder den Münzen in dem Sack. Dann wusste er es wieder.

Legu setzte sich zurück in die Runde. Harry drehte sich bedächtig eine Kippe, aber vor Aufregung mit zu viel Tabak, so dass die Klebefläche beim Anzünden auseinander glitt und das schwarz-braune Kraut sich auf der Tischplatte verteilte, als hätte Mischa Holzbein aus dem Starken Wanja eine Madenkolonie mit einem schrillen Mundharmonikaton in ewige Starre versetzt. Angel sagte nur: „Also, wenn ich dass gewusst hätte, Legu, dann hättest du bei mir ruhig anschreiben lassen können.“ Ihre Großeltern hatten in Ostpreußen einen Kolonialwarenladen betrieben. Irgendwelche Krämergene hatte sie wohl von denen geerbt. Legu schwieg dazu. Joshs Sinn für das Praktische hatte ihn mittlerweile wieder im Griff und er war eigentlich der erste, der in dieser merkwürdigen Situation scheinbaren plötzlichen Reichtums einen vernünftigen Satz heraus brachte.

„Legu, sag’ mal, was ist denn das eigentlich, kann denn keiner ‘mal das Licht anmachen? Lass’ mal bitte sehen, ob wir damit unseren ersten eigenen Wingert erstehen können.“

„Nix Wingert,” reagierte Legu knapp und drehte sich – gewissermaßen zur Feier des Tages – auch eine Kippe von Harrys Tabak, dem mit den kopftuchtragenden Jungs auf der Hülle.

Der Sack war zu zwei Dritteln seines Volumens gefüllt mit alten Fünfmarkstücken, die in den siebziger Jahren aus dem Verkehr gezogen worden waren. Die rohstoffarme Bundesrepublik brauchte nach ihrer ersten so lala durchgestandenen Wirtschaftskrise mit Bye-Bye-Vollbeschäftigung, Mittelstreifen-Wandertag und Lehrstellenknappheit das in den schweren Fünfmarkstücken enthaltene Silber als Rücklage für noch schwerere Zeiten, aber auch, um der Allianz-Versicherung und Münchner Rück Sicherheiten für das bei ihnen geliehene Geld der Staatsverschuldung zu bieten. Daher wurden die alten Fünfmarkstücke aus dem Verkehr gezogen und eingeschmolzen. Für Sie kamen dann welche, die erstens viel leichter waren und nur noch über einen Nennwert verfügten, statt an sich etwas wert zu sein. Alwys’ Vater hatte damals geunkt, da sei man der DDR mit ihrem Aluminiumspielgeld ja wieder etwas näher gekommen. Tatsächlich hatten die alten silbernen Fünfmarkstücke in den letzten zehn Jahren an den Münzbörsen erheblich an Wert gewonnen – ebenso wie der Preis für Edelmetalle überhaupt gestiegen war.

„Den Sack hat mir mein Patenonkel kurz bevor er starb geschenkt. Er hat die Fünfmarkstücke gesammelt, weil ihm ihr Wert bewusst war. Er wollte etwas krisensicheres, nachdem er nicht mehr in den Gemeinderat gewählt worden war, in dem er unermüdlich die sauren Weiden der Bauern im Kaff zu Bauerwartungsland und Bauland zu erschließen half. Dann wird hier auch nicht mehr so viel gebaut werden, und wir Dachdecker müssen den Gürtel enger schnallen und Rücklagen bilden. So lautete seine Rechnung.“

Legu erzählte weiter und die Runde hörte zu wie in Trance. Der Onkel habe dann einfach alle Fünfmarkstücke aus seinem Portemonnaie und dem Haushaltsgeld seiner Frau weggelegt und in kürzester Zeit den Sack voll gehabt. Dann fiel er vom Dach, lebte noch gut eine Woche, in der er Legu, seinem Lieblingsneffen, der gerade in der Kreisstadt ziemlich gut sein Abitur abgelegt hatte, den Sack übergab – ohne dass der Rest des Clans das mitbekommen hatte. Als Legu in der Sterbewoche des Onkels einmal mit ihm allein in dessen Haus war, wies der ihn an, aus seiner Werkzeugkiste im Keller bitte einmal so einen hellen Sack heraufzuholen. Legu schleppte den ziemlich mühsam die steile Kellertreppe hinauf zum Bett des Onkels. Der habe gesagt: „Nimm’ den an Dich, vielleicht brauchst du das Geld irgendwann einmal.“ Von dem Sack wüsste niemand und wenn Legu ja jetzt in die Stadt zum studieren ginge, brauchte das auch überhaupt niemand zu wissen. Legu wäre tatsächlich immer wieder in die Verlegenheit geraten, die mittlerweile aus dem Wirtschaftskreislauf entfernten Münzen einzutauschen. Immer aber sei es so gewesen, dass von irgendeiner Seite plötzlich wie ein guter Engel eine Lösung für seine akuten Finanzprobleme da gewesen sei. Zum Beispiel, als ihm gegen Ende seines Studiums eine Pförtnerstelle am Universitätsklinikum angeboten worden war, die er sich dann mit einem Freund teilte. Das war überhaupt der beste Lehrstuhl seiner Karriere. Für das Lesen noch Geld bekommen. Grandios. Und wenn der Rettungshubschrauber kam, war nur noch der Innenminister sein Vorgesetzter und er Herr des kleinen Krankenhausflugplatzes. Und auch jetzt, für das Große Projekt, wollte er den Wert des Geldes oder die Münzen überhaupt nicht minimieren. Das sei er auch schon seinem sparsamen Onkel schuldig. Für das, was er vorhatte und worauf er die nächtliche Runde jetzt einzuschwören gedachte, brauchte er zwar den Sack, aber eigentlich auch nicht.

„Wir werden es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen, wenn wir ihnen den Knall klauen,” sprach Legu, als wäre er jetzt selbst Moses und würde das erste Gebot verkünden.

„Dennoch aber ist es das Geld, mit dem wir bezahlen werden,” schob er nach. Jelena bemerkte dabei seine feucht gewordenen Augen und blickte fragend zu Alwys, dem dieser ungewöhnliche Ausdruck von Rührung (oder war es Schmerz?) in Legus Gesicht auch nicht entgangen war.

Harry stand kurzentschlossen auf, quetschte sein Tabakpäckchen in die Jeanstasche an seinem nicht vorhanden scheinenden Hintern und meinte: „Was bezahlen? Was für ein Großes Projekt? Legu, ich dampf jetzt ab, erzählt es mir, bitte, beim nächsten Mal.“

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

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