Alwys, Jelena und ihr kleiner Bruder gingen gemeinsam hinüber zum Haupthaus. Er achtete sehr darauf, nicht schneller als die beiden zu werden. Es waren nur zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Meter. An Jelena bemerkte er, wie sich ihr Gang vom Kaffeetisch hinüber zu ihrer Familie, änderte, härter wurde, etwas weniger elegant. Ihre Körpersprache war jetzt eine ganz andere. Es wirkte alles viel gedrängter, die Gesten und der Körper. Jelena sprach mit ihren Eltern – es mussten wohl ihre Eltern gewesen sein, die etwas zerknirscht Fragen an Jelena richteten – in ihrem Dialekt mit vielen slowakischen Worten dazwischen. Es ging wohl um den Ausflug mit ihrem Bruder. Warum sie so schnell wieder da gewesen wären? Franticek hätte sich so auf die Radtour gefreut. Alwys wurde keines Blickes gewürdigt. Dann stellte Jelena ihn kurz vor und in dem Moment erstarrte das bis dahin ganz wuselige großfamiliäre Treiben in einer recht bedrohlichen Stille. Jelena sagte nur, “Das ist Always. Der wohnt seit gestern bei Josh und Angel. Er möchte nur einen Artikel mit dem Blatttelefon verschicken. Ich zeige es ihm.“

Der Vater blickte sehr kurz aus seinen runden Augen zu Alwys, der brav ein Lächeln aufgesetzt hatte. Dann ging Jelena voraus in das ziemlich stattliche Gebäude mit hohem Treppenhaus und einer galerieartig angelegten Zimmerverteilung über zwei Stockwerke. Der Boden war aus geschliffenen kleinen Kieseln, typisch für die Gegend am Rhein. Von ihm ging eine erfrischende Kühle aus. Im Haus roch es etwas nach Kohl, frischen Kräutern, starkem Kaffee und – natürlich! Alwys Körpergedächtnis lieferte sofort die Antwort – nach Langosz.

„Deine Langosz gestern abend, die waren genau richtig,“ sagte Alwys.

„Ja? Haben Sie Dir geschmeckt? Freut mich,“ antwortete Jelena knapp, während sie eine große Flügeltür aufschloss, hinter der sich tatsächlich eine Art Büro verbarg, zumindest stand auf einem großen Tisch mit gedrechselten Beinen eine modernere Kugelkopfschreibmaschine und daneben ein Faxgerät, das fast doppelt so groß war wie die Schreibmaschine.

„Ok, nur habe ich meinen Artikel jetzt gar nicht dabei,“ fiel Alwys etwas verlegen ein.

„Dann kommst du eben wieder,“ meinte Jelena besänftigend und wirkte jetzt überhaupt nicht mehr slowakisch streng, wie Alwys es für sich nannte, wie eben noch bei Ihrer Familie.

„Dann komme ich eben wieder,“ wiederholte Alwys Jelenas Worte für sich.
„Ja, hast du noch soviel Zeit, dass ich die Blätter holen könnte?“

„Nein, habe ich eigentlich nicht,“ sagte Jelena bestimmt, „ich muß noch lernen, aber für dich mache ich eine Ausnahme?“

Alwys wurde rot und wäre am liebsten weggerannt und gar nicht mehr wiedergekommen.

Jelena bemerkte es und konnte sich jetzt aber auf ihre, in langen Eiskunstlaufjahren gesammelte Erfahrung gegenüber verlegenen jungen Männern stützen und blieb ganz ruhig. Sie registrierte auch, dass es sich ja eigentlich für eine junge Frau aus der Ostslowakei nicht ziemte, so lange mit einem anderen jungen Mann alleine in einem großen altdeutschen Zimmer zu bleiben. Alwys erschrak über seine Verlegenheit, Jelena erschrak über ihre Erinnerung an den östlichen Verhaltenskodex für unverheiratete junge Frauen.

Wie sie sich also in diesem unmöglich halb aus Sperrmüll und halb aus altem Familienbesitz stammenden möblierten Raum gegenüberstanden, fielen Jelena ihre Laufpartner auf dem Eis ein. Mit ihrem ersten Partner lief sie zwei Jahre. Petr war drei Jahre älter als sie. Er war zwölf, sie war neun, als ihre Trainerin eines Tages mit ihm ankam.

Das ist Petr, rief ihr die Trainerin zu, der wird dich ab heute stemmen?
Der Satz stand damals wie ein erstarrter Wasserfall in der Halle, als ob sich die plane Eisfläche im Nu in ein Nagelbrett aus umgedrehten Eiszapfen verwandelt hätte, die Jelena durchbohrten. Die Stimme der Trainerin klang bedrohlich, fremd, gegen Jelenas Natur. Sie wollte nur ihre Runden drehen, schwerelos tanzen und manchmal graziös springen. Warum also sollte sie von jemand gestemmt werden?

Petr war im Stimmbruch, hatte etwas Flaum über der Oberlippe, weiche Gesichtszüge und wache blaue Augen. Jelena übte zu sehr pädagogisch klingender Klaviermusik einige Drehungen und genoss den kühlen Wind der Halle auf ihrer Gesichtshaut. Das war ihr größtes Glück in der Kindheit gewesen.

Manchmal war sie noch glücklicher, wenn sie ihr Vater mit seiner Beiwagen-MZ vom Training abholte und sie zwischen den Feldern auf holprigem Asphalt dahinbrausten. Dann war der Fahrtwind im Sommer zwar wärmer als der Luftzug in der Halle, aber auch viel stärker. Vater hatte in einem Plastewerk von einem Freund eine Extra-Windschutzscheibe aus Plexiglas für den Beiwagen schneiden lassen, der die Zugluft eigentlich an ihr vorbei leitete. Eine Erkältung konnte sie sich noch nie leisten, denn es gab auch neben dem Training sehr viel Arbeit. Daheim wurden alle Hände gebraucht. Die Familie hatte es trotz Planwirtschaft und Kommunismus geschafft, eine Gemüseplantage zumindest autonom bewirtschaften zu dürfen. Ihre eingelegten Paprika in den grellsten Farben gingen direkt ins Ausland und brachten Devisen. Die teilten sie eins zu fünf mit dem Staat. Oder anders gesprochen, sie teilten die Devisen, französische Franc, D-Mark, Pesetas, Lira und jede Menge griechische Drachmen mit dem örtlichen Parteisekretär. Was der damit machte, war ihnen egal, sie behielten jedenfalls ein Fünftel des Ertrags für sich. Denn dass sie irgendwann einmal aussiedeln wollten, stand schon lange fest und darauf wurde hingespart. Nicht erst seit dem Besuch eines Staatssekretärs vom westdeutschen Aussenminister Genscher in Käsmark zur Glockenweihe in der pietistischen Gemeinde. Die Partnergemeinde im Schwäbischen hatte jahrelang dafür gesammelt. Vieles von den Überweisungen versickerte jedoch während der Transfers. Für die Ausstellung der Ausreisepapiere brauchten sie jede Valuta als Bestechungsgelder auf mittlerer Beamtenebene.

Egal aber, wie warm es draußen war, wenn sich im Frühsommer die trockene Kontinentalhitze von Osten her über das dünn besiedelte slowakische Grenzland breit machte und die drückende Schwüle die Wahrnehmung verlangsamte: Die erfrischende Kühle der Eislaufhalle setzte für Jelena alles bisherige Geschehen zurück auf Null und alle Chancen des Lebens waren für sie ganz allein jeden Tag wieder neu offen. So empfand sie es jedenfalls – als Kind.

Wenn in der Ebene dann die Luft auch abends nicht mehr abkühlte und zu flimmern begann, zogen Sie einfach in das ehemalige Winterolympiadengelände in die Hohe Tatra um. Der Kader wohnte im abgegriffen wirkenden Grand Hotel von Stary Smokovec – einem burgähnlich aufragenden Denkmal einstiger Noblesse im Fin de siécle aus grauem Bruchstein und Fachwerk an den Giebeln. Für den Weg zur Eishalle bei den einstigen Wettkampfstätten, die jetzt immer mehr zerbröselten, nahmen sie den romantisch feuerroten Schienenbus, dessen Gleisbett auf tschechoslowakischer Tatra-Seite einmal an der Kontur des kleinsten Hochgebirges der Welt entlang führte. Hier oben wirkte sowieso alles wie eine ideale Spielzeugeisenbahnlandschaft, wenn es nicht eine Diktatur und eben kein Spiel gewesen wäre. Die Stimmung im Höhenlager, wie sie es nannten, war wie bei einer Klassenfahrt – bis auf die strengen Trainerinnen, die als Armeeangehörige im Dienstgrad einer Offizierin standen. Im Kriegsfall hätten sie die Grenze sichern müssen.

Die eigentlich nur aus der Not heraus burschikose Jelena, weil sie sich um alles, was ihr wichtig war, selbst kümmern musste, übte mit Petr an diesem Morgen in der Eishalle einfache Runden, synchron Hand in Hand. Das gefiel ihr nicht unbedingt, denn sie merkte sofort, dass damit ihr Freiheitsdrang eingeschränkt werden würde. So fuhren sie vorwärts Hand in Hand, rückwärts Hand in Hand, und obwohl es in der Halle kühl war, der Fahrtwind die Glieder noch mehr abkühlte, zumindest am Anfang, wurden Petrs Handflächen innen feuchtwarm. Das war der ziemlich direkten Jelena unangenehm. Das ungute Gefühl wurde später immer wieder bestätigt, wenn Petr im Training und auch bei Wettkämpfen die zum Glück nicht zierliche Jelena beim Stemmen regelmäßig gegen die Bande warf.

Als sie zwei Jahre später zu wachsen begann, Petr damit aber schon wieder aufhörte, musste nach einem neuen Partner Ausschau gehalten werden.

Tatsächlich stellten sich mit Milan die sportlichen Erfolge wie von selbst ein. Jelena fühlte sich bei dem intellektuell-hager durchtrainierten Milan auch in der Luft einfach nur sicher. Er war fünfzehn und rauchte vor dem Training hinter der Eishalle. Jelena fand das zwar nicht schön, weil es stank, aber immerhin verwegen und der Regelverstoß imponierte ihr. Der traut sich was, dachte der Backfisch. Vielleicht war Milan ihre erste Liebe. Sie konnte es später nur noch als die Silhouette einer Schwärmerei nachempfinden, so weit weg war alles aus ihrem ersten Leben als sportliche Avantgarde im Kalten Krieg. Wenn aber der grazile Milan zur bombastischen Musik von Johann Sebastian Bachs  naturgewaltiger Orgel-Toccata Jelena für die Todesspirale auf dem Eis stark am Handgelenk umfasst hielt und ihren Körper ganz flach und dicht über dem Eis zirkulieren ließ, so dass auch ihr kräftiges dunkles Haar über die spiegelnde Fläche glitt, war er für sie ihr Übermensch. Zwischen männlichem und weiblichem Körper war ein Kontinuum entstanden. Dann konnte sie das Eis förmlich riechen. Es war der Geruch von schmelzendem Eis und kalt-feuchtem Metall. Durch die Reibung ihrer Kufen schmolz das Eis und wurde wieder zu Wasser. Und genau so, wie das Wasser unter ihrem Tanz den Aggregatzustand von einem festen wieder zu einem flüssigen Körper wechselte, so befreite sich Jelena beim Tanzen von ihrer körperlichen Trägheit und verschmolz mit den Klängen der Musik zu einer flüchtigen Linie in der Zeit, zu einem  „Child in Time.“

Ein schrilles Piepen des Faxgeräts riss Jelena gewaltsam aus ihrem Tagtraum. Vor ihr stand nicht der verwegene Milan, der später in den USA in einer Las Vegas Eisshow Karriere machte, sondern Alwys, der nur seinen Artikel faxte und eine Mark fünfzig neben das Gerät gelegt hatte. Das Piepen meldete den Anschluß des Empfängerfax. Mit dem schon moderneren Gerät in der Republik freier Flaschenhals konnten bis zu zehn Blätter auf einmal eingelesen werden. Als es das letzte der drei Blätter durch das Erfassungslicht gezogen hatte, war Jelena wieder ganz in ihre neue Welt zurückgekehrt. Jetzt wusste sie auch, an wen Alwys sie erinnerte oder besser: Seine erst auf den zweiten Blick durchdringende Entschlossenheit und sein ebenfalls fester, warmer und trockener Händedruck erinnerte sie an Milan, an die Sicherheit, die sie empfand, wenn sie sich auf dem Eis buchstäblich in seine Hände begab.

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

Über Arthur Zupf:

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