Die Künstlerin Yaşam Şaşmazer erforscht in der Galerie Zilberman die menschliche Form als posthumane Hülle in ständiger Metamorphose

Eine auf dem Boden kauernde Figur, die weder Mann noch Frau zu sein scheint. Auf den ersten Blick wirkt die schlanke, fleischfarbene Gestalt in der Charlottenburger Dependance der Istanbuler Galerie Zilberman wie eine klassische Skulptur. Doch warum fehlt der Kopf unter den übereinandergeschlagenen Händen?

An dem Œuvre der 1980 in Istanbul geborenen Künstlerin Yaşam Şaşmazer lässt sich ein Bewusstseinswandel ablesen. Bekannt wurde die Absolventin der Mimar Sinan Kunstuniversität in ihrer Heimat zunächst mit ihren lebensgroßen Holzskulpturen von Kindern und Heranwachsenden. Wenig später trat sie dann mit ihren „Doppelgänger“-Skulpturen in die Erwachsenenwelt ein. „Das Hauptthema meiner Skulpturen ist das Menschsein“, beschrieb sie vor zehn Jahren folgerichtig ihre Arbeit. In der Folge begann sie diesen Figuren ihre Gesichter zu nehmen. Statt individueller Züge zeigen sie oft nur ein hölzernes Rechteck. Wenn sie diese zusätzlich mit Moos besetzt, zielt sie auf die „Companion Species“-Idee der amerikanischen Feministin Donna Haraway von der Geschichte des Lebens als Kohabitation der Gattungen.

Mehr und mehr streifte die Künstlerin dann die Hülle der menschlichen Form von ihren Skulpturen ab. Der vorläufige Höhepunkt dieses Prozesses ist in der jüngsten Ausstellung zu besichtigen: deformierte, wie Stoff gefaltete Rücken, kreisförmig geformte Oberkörper ohne Kopf und Arme, geöffnete Hüllen. In diesem markanten Formwandel steckt mehr als nur die Abkehr von der Tradition der Skulptur oder der Figuration.

Şaşmazer will auf ein Verständnis des Lebendigen als Prozess hinaus: Körper entstehen und verändern sich, ihre Gestalt ist uneindeutig. Sie ähneln fragilen Gefäßen des Übergangs, sind Produkte einer ständigen Metamorphose, öffnen sich zu ihrer Umgebung. Der fehlende Kopf dieser biomorphen Formen ist gleichsam das metaphorische i-Tüpfelchen auf einer paradigmatischen Auflösung der klassischen Gestalt des Menschen.

Dass sie ihre Skulpturen in einem weiteren Raum in einem weiß lackierten Industrieregal neben Moos, Steinen oder verdorrten Baumästen präsentiert, legt symbolisch offen, dass auch Kunstwerke nur aus Material gemacht sind. Sie demonstriert die Idee von Körper und Natur als Erscheinungsformen desselben Kreislaufs.

Das Echo des Posthumanen, das in Şaşmazers Arbeiten nachhallt, ist nicht als bewusste Verabschiedung des Menschen misszuverstehen. Eher arbeitet sie an dessen Relativierung im Zeitalter des Anthropozäns, in dem er sich tief in die Erde eingeschrieben hat. Subtil, formbewusst und mit einem sanft poetisch anverwandelten Gefühl ethischer Verantwortung verflüssigt die Künstlerin das Phantasma des starren Körpers. Ganz so, wie es der römische Dichter Lukrez mit der Formel „So flow the tide of things“ in seinem Gedicht „Re rerum natura“ beschreibt, der der Ausstellung den Titel gegeben hat.

Yaşam Şaşmazer: „So flows the tide of things“. Zilberman Galerie, Di.–Sa., 11-18 Uhr, bis 4. Mai. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von taz.de, mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Über Ingo Arend:

Der Autor ist Politologe und Historiker, er schreibt über Kunst und Politik. Stationen machte er beim Freitag, bei der taz und beim Deutschlandfunk Kultur. Er ist Mitglied im Präsidium der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK).