„Ursula von der Leyen muss Wort halten“ – Europas Lieferkettengesetze galten als Meilenstein beim Schutz von Menschenrechten, jetzt werden sie dem „Bürokratieabbau“ geopfert.

Darüber haben wir mit Kristina Hatas und Christian Rumu von Amnesty International gesprochen. Ein Interview über Kobalt aus dem Kongo, koloniale Kontinuitäten und die Verantwortung Europas.

Von Berlin und Nairobi aus engagieren sich Kristina Hatas und Christian Rumu für Menschenrechte. Die eine ist Expertin für Klimagerechtigkeit, Wirtschaft und Menschenrechte bei Amnesty International Deutschland, der andere leitet Amnesty Internationals regionales Programm gegen Geschlechterungleichheit in der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda und Burundi. Beide sind überzeugt: Gerade ist ein entscheidender Moment, um für mehr Gerechtigkeit in globalen Lieferketten zu sorgen.

Unverzichtbar für die digitale und grüne Transformation

Die weltweite Nachfrage nach Kobalt ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. 2023 lag die Fördermenge mehr als zwanzig Prozent über dem Vorjahr. Warum ist das Erz so begeht?

Kristina Hatas: Kobalt ist sowohl für die digitale als auch für die grüne Transformation unverzichtbar. Es wird unter anderem für Lithium-Ionen-Batterien benötigt, die in Smartphones, Laptops und E-Autos verbaut sind. Gerade Elektromobilität ist ein großer Treiber. Zwar werden heute Batterien entwickelt, die kein Kobalt benötigen, aber für die meisten Modelle ist dies der Standard. Deshalb sind die Zahlen in den vergangenen Jahren geradezu explodiert, die Vorhersagen gehen von massiv steigendem Bedarf aus.

Drei Viertel der weltweiten Kobaltförderung finden in der Demokratischen Republik Kongo statt. Welche Folgen hat das?

Kristina Hatas: In der Demokratischen Republik Kongo gibt es die mit Abstand größten Vorkommen. Das führt zu einem riesigen globalen Ungleichgewicht – beim Export und Import von Kobalt, aber vor allem dabei, wer von der Förderung profitiert und wer die Nachteile des Bergbaus trägt. Hier kommt es zu massiven Verletzungen von Arbeitsrechten, Menschenrechten und Umweltschutz.

Menschen müssen Minen weichen

Bei den Recherchen für mein Buch über digitalen Kolonialismus habe ich gelernt, dass man zwei Arten des Kobalt-Bergbaus unterscheiden muss, die je ganz eigene Probleme mit sich bringen. Welche sind das?

Christian Rumu: Da ist zum einen der industrielle Bergbau mit großen Minen, die von internationalen Rohstoffkonzernen betrieben werden und riesige Krater hinterlassen. Zum anderen der Kleinbergbau, bei dem die Menschen mit einfachen Werkzeugen Tunnel graben, um an das Kobalt zu gelangen. Das alles findet im Südosten des Kongos statt, im sogenannten Kupfer-Kobalt-Gürtel.

Fangen wir mit den großen Minen an. Welche Probleme gibt es bei der industriellen Kobaltförderung?

Christian Rumu: Das beginnt schon mit der Korruption bei der Vergabe der Abbaulizenzen. Das größte Problem sind aber wohl die Menschenrechtsverletzungen beim Erschließen neuer Minen. Seit mehr als zehn Jahren dokumentieren wir Landraub und Zwangsumsiedlungen. Denn die Konzerne erhalten immer wieder Lizenzen für Gebiete, in denen Menschen leben oder Landwirtschaft betreiben. Oft wenden die Konzerne Gewalt an, um die Anwohner:innen zu vertreiben, auch mit Unterstützung der kongolesischen Armee und Polizei.

Diesen Menschen wird damit ihre gesamte ökonomische Grundlage entzogen. Es gibt zwar vermeintliche Kompensationen, aber die sind nicht ausreichend. Ich habe einen der Umsiedlungsstandorte besucht, dort gab es weder Wasser noch Elektrizität. Die Menschen werden teilweise aus Orten mit Kirchen, Schulen, Ärzt:innen und anderer grundlegender Infrastruktur an andere Orte versetzt, an denen es nichts gibt. Oft bekommen die Bewohner:innen auch nicht genug Zeit für die Umsiedlung, es sind dabei sogar Menschen gestorben.

Auch beim Umwelt- und Gesundheitsschutz soll es Probleme geben.

Christian Rumu: Man kann das gut am Beispiel von Kolwezi erklären [eine Provinzhauptstadt mit mehr als einer halben Million Einwohner:innen im Kupfer-Kobalt-Gürtel]. Die Minen befinden sich hier mitten in der Stadt, es sind riesige Krater. Man kann sich vorstellen, was die Anwohner:innen dort täglich einatmen müssen, auch das Wasser ist verschmutzt. Wenn wir diese Probleme ansprechen, sagen uns die Behörden dort: „Wir müssen die Rohstoffe abbauen, aber dort leben Menschen. Was sollen wir machen?“ Wir können sie nur daran erinnern, dass sie es in der Hand haben, ob Kolwezi eine nachhaltige Stadt ist, ja, eine Stadt in der man überhaupt leben kann. Aber die Behörden denken nur an das, was sich in der Erde befindet.

Wie steht es um die Arbeitsbedingungen der Bergleute?

Christian Rumu: Wenn man etwas Positives nennen will, dann den Arbeitsschutz. Die Bergbaukonzerne halten sich hier überwiegend an die Vorgaben, stellen ihren Arbeiter:innen zum Beispiel Schutzausrüstung. Aber auch hier gibt es problematische Entwicklungen, weil immer mehr Firmen ihre Bergleute nicht mehr direkt anstellen, sondern als Subunternehmer über Drittfirmen. Das sorgt für zunehmende Spannungen zwischen den Minenarbeiter:innen und den Konzernen.

„Extraktivismus seit dem Kolonialismus“

Womit wir direkt beim Kleinbergbau sind. Mir hat es mal jemand so erklärt, dass das Kobalt in dieser Region so nah unter Erdoberfläche liegt, dass Menschen einfach hinter ihrer Hütte anfangen können zu graben. Dort ist es mit Arbeitsschutz nicht weit her, oder?

Christian Rumu: Nein, dort haben die Menschen oft gar keine Schutzausrüstung. Es gibt immer wieder tödliche Unfälle. Männer und Frauen arbeiten dort unter großem gesundheitlichem Risiko. Das gilt insbesondere für schwangere Frauen, weil sie bei der Reinigung der Mineralien chemischen Substanzen ausgesetzt sind. Trotzdem gibt es große Einkommensunterschiede zwischen Männern und Frauen.

Auch Kinderarbeit ist im Kleinbergbau ein großes Problem. Es hat sich zwar viel getan, seit wir 2016 einen Bericht dazu veröffentlicht haben. Es gab sehr überzeugende Initiativen sowohl von der Regierung der Demokratischen Republik Kongo als auch von privaten Unternehmen, die die Zivilgesellschaft dabei unterstützen, Kindern den Weg aus der Bergbauarbeit zu ermöglichen. Aber das reicht nicht, die Analyse muss größer ausfallen.

Inwiefern?

Christian Rumu: Wenn wir das Gesamtbild betrachten, sehen wir ein extraktivistisches Modell, das seit dem Kolonialismus vorherrscht. Die Frage sollte nicht sein: Wie kriegen wir die Kinder aus den Minen? Sondern: Was für Verhältnisse sind es, die Kinder in die Minen treiben? Da sind wir schnell bei den ökonomischen Bedingungen. Denn die Arbeiter:innen im Kleinbergbau haben wenig Verhandlungsmacht gegenüber den Konzernen und Zwischenhändler:innen. Es gibt ein großes Problem mit der Lohnungerechtigkeit. Denn es ist ja so, wie Kristina gesagt hat: Es geht um einen kritischen Rohstoff, den Treibstoff für die vierte industrielle Revolution. Und die Menschen an vorderster Front bekommen nichts dafür. Das ist Ausbeutung, man kann es nicht anders ausdrücken.

Hier fährt niemand Tesla

Ich war erstaunt zu lernen, dass es eine belgische Rohstofffirma gibt, die schon zu Zeiten der blutigen Kolonialherrschaft Belgiens im Auftrag des Staates Rohstoffe im Kongo abgebaut hat. Heute spielen sie im Handel mit Kobalt eine wichtige Rolle. Wer profitiert von dem rücksichtslosen Extraktivismus, also dem Entnehmen von Rohstoffen?

Kristina Hatas: Es sind vor allem Firmen aus dem Ausland. Allen voran aus China, aber auch aus Nordamerika und Europa. Es mag da zwar durchaus Abstufungen bei der Einhaltung der Menschenrechtsstandards geben, aber keines von ihnen erfüllt die Anforderungen. Als wir im vergangenen Jahr Emmanuel Umpula Nkumba von der kongolesischen NGO Afrewatch zu Besuch in Berlin hatten, habe ich ihn gefragt, wie viele Menschen in Kolwezi ein E-Auto haben. Seine Antwort: niemand.

Christian Rumu: Es sind definitiv nicht die Menschen in der Demokratischen Republik Kongo, die profitieren. Es gibt zwar eine Provinzregierung, die auf einen schönen und modernen Flughafen-Neubau verweisen kann. Verbessert das die Mobilität der Menschen im Kongo? Oder dient das nicht eher dem Export der Rohstoffe? Das schürt natürlich die Ablehnung der Menschen. Wer sich fragt, warum die Menschen im Kongo so sauer auf die Europäer:innen sind, der findet hier eine der Antworten: Sie haben nichts von dem natürlichen Reichtum ihres Landes. Allerdings muss man sagen, dass es auch hausgemachte, nationale Probleme gibt.

Worauf spielst du an?

Christian Rumu: Nehmen wir zum Beispiel die Kooperativen. Sie sollen eigentlich die Verhandlungsmacht der Kleinbergleute gegenüber den Konzernen stärken, die das Kobalt von ihnen kaufen. Doch einige Kooperativen gehören führenden Politiker:innen, sodass es dort mehr um deren Interessen geht als um die der Arbeiter:innen. Die Zusammenschlüsse erhalten oft auch keine offiziellen Lizenzen der Regierung, sondern werden lediglich geduldet. Nach dem Motto: „Wir tun euch einen Gefallen, dass wir euch das Kobalt abbauen lassen, also seid ihr uns etwas schuldig.“

Dabei sind die Arbeiter:innen im Kleinbergbau doch sogar verpflichtet, sich in Kooperativen zu organisieren, oder?

Christian Rumu: Genau, das ist gesetzlich vorgeschrieben. Man muss sagen, dass der rechtliche Rahmen echt in Ordnung ist, jedenfalls auf dem Papier. Es gibt ein starkes Bergbaugesetz. Natürlich gibt es auch da Raum für Verbesserung, aber die großen Probleme sind die Implementierung und die Durchsetzung der Vorgaben. Und zwar wegen eines sehr schwachen Staates, in dem die Korruption von der Hauptstadt Kinshasa bis zum Chief in einem kleinen Dorf reicht.

Ein „kritischer Rohstoff“ für die EU

Das alles hat die Europäische Union nicht daran gehindert, Kobalt kürzlich als kritischen Rohstoff nach dem Critical Raw Materials Act zu definieren und eine strategische Partnerschaft mit der Demokratischen Republik Kongo abzuschließen. Wie kann das sein?

Kristina Hatas: Es gibt in Europa keine Vorkommen an Kobalt und anderen kritischen Rohstoffen wie Lithium oder Nickel, die in relevanten Größenordnungen abgebaut werden können. Es liegt deshalb im strategischen Interesse der Europäischen Union, Zugang dazu zu erhalten. Das ist verständlich. Was nicht nachvollziehbar ist: Dass das nicht Hand in Hand mit einem Bemühen um eine Verbesserung der Situation vor Ort geht. Es ist sehr beunruhigend, dass Erfolge wie die Lieferkettengesetze jetzt schon ausgehöhlt werden, bevor sie überhaupt Wirkung entfallen.

Bevor wir über die Lieferkettengesetze sprechen: EU-Vertreter:innen würden jetzt wahrscheinlich darauf hinweisen, dass der Critical Raw Materials Act ein Zertifizierungssystem vorsieht, um Menschenrechts- und Umweltstandards sicherzustellen. Funktioniert das?

Kristina Hatas: Zertifikate, Audits, Multi-Stakeholder-Prozesse und andere Instrumente können ergänzende Maßnahmen sein, um Firmen bei der Einhaltung ihrer Sorgfaltspflichten zu unterstützen. Sie sind aber kein Ersatz für solche Pflichten. Wir sehen immer wieder, dass solche Initiativen zu reinen Stempel-Verfahren werden und für Greenwashing genutzt werden. Firmen beteiligen sich für das gute Image, halten sich aber trotzdem nicht an Sorgfaltspflichten.

Freiwillige Maßnahmen reichen nicht aus

Lieferkettengesetze sollen das verhindern. Wie?

Kristina Hatas: Grundsätzlich sind im internationalen Recht Staaten für die Einhaltung von Menschenrechten verantwortlich. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte [PDF] stellen jedoch fest, dass auch Unternehmen Pflichten haben. Sie sollen Menschenrechte achten, Verstöße untersuchen und Betroffene entschädigen. Untersuchungen von Amnesty International und anderen Organisationen zeigen jedoch immer wieder, dass freiwillige Maßnahmen nicht ausreichen. Es braucht verbindliche Regeln, gerade vor dem Hintergrund kolonialer Kontinuitäten, wie wir sie hier besprechen: An einem Ende die Länder, in denen Unternehmen ansässig sind, die große Profite machen, und am anderen Ende die Länder, wo Menschenrechtsverletzungen begangen werden. Lieferkettengesetze nehmen Produzent:innen und Verkäufer:innen eines Produktes in dem Land in die Pflicht, in dem sie ihren Sitz haben.

Wie sieht das praktisch aus?

Kristina Hatas: Deutschland und Frankreich haben in den vergangenen Jahren mit nationalen Gesetzen angefangen. Das deutsche Lieferkettengesetz wurde 2021 beschlossen und erlegt seit 2023 deutschen Firmen mit mehr als 1.000 Mitarbeitenden bestimmte Regeln auf. Allerdings droht ein Wettbewerb nach unten, wenn man so ein Problem nicht global regelt. Die EU hat deshalb 2024 sehr vielversprechende Haftungsregeln für den gesamten europäischen Binnenmarkt erlassen. Das ist das sogenannte EU-Lieferkettengesetz, die Corporate Sustainability and Due Diligence Directive.

Welche Regeln enthält diese europäische Lieferkettenrichtlinie?

Kristina Hatas: Firmen müssen Menschenrechte entlang der gesamten Wertschöpfungskette sicherstellen. Betroffenen von Verstößen können Schadenersatzansprüche geltend machen und ihre Fälle vor Gerichte in der Europäischen Union bringen. NGOs, Gewerkschaften und andere Vertreter:innen können zudem Verfahren im Namen der Betroffenen führen. Außerdem sieht die Richtlinie verpflichtende Klimapläne für Firmen vor.

„Das ist ein Hauptargument des Raubtierkapitalismus“

Moderne Lieferketten haben oft so viele Beteiligte, dass am Ende niemand die Verantwortung übernimmt. Damit wäre dann also Schluss?

Kristina Hatas: Ja, allerdings fordert die Industrie bereits, dass Sorgfaltspflichten nur für die direkten Geschäftspartner gelten sollen. Das wäre in den Fällen, über die wir gerade sprechen, vollkommen wirkungslos. E-Autos sind für dieses Problem ein sehr anschauliches Beispiel: Es beginnt mit industriellen Minen oder Kleinbergbau in der Demokratischen Republik Kongo. Über Händler gelangt das Erz in Raffinerien im Ausland, wird dort weiterverarbeitet, landet in Batteriefabriken und irgendwann bei einem deutschen Autobauer. Selbst für NGOs ist es derzeit kaum möglich, das alles im Blick zu behalten. Verbraucher:innen haben fast keine Chance zu erfahren, ob bei der Produktion ihres Laptops oder E-Autos Umwelt- und Menschenrechtsstandards eingehalten wurden. Deshalb sind auch die Berichtspflichten in den Lieferkettengesetzen so wichtig.

Die Industrie klagt über zu viel Bürokratie.

Kristina Hatas: Ich halte das für ein Strohmann-Argument. Niemand kann mir erzählen, dass die Rechtsabteilungen großer Konzerne von sowas überfordert sind. In anderen Bereichen haben wir deutlich komplexere Berichtspflichten, etwa bei Finanzen und Steuern. Klar kann man hier nach Überschneidungen und nach Vereinfachungspotenzial suchen, aber die Industrie will unter diesem Vorwand gleich alle Sorgfaltspflichten loswerden.

Christian Rumu: Menschenrechte bedeuten zu viel Bürokratie – das ist ein Hauptargument des Raubtierkapitalismus. Wir hören das leider immer wieder, wenn Druck auf Unternehmen aufgebaut wird. Ich begreife das nicht: Wie kann jemand bei BMW oder einem anderen Unternehmen nicht die Menschlichkeit haben, sich für das Schicksal eines Zwölfjährigen zu interessieren, dessen Haus mit einem Bulldozer abgerissen wurde, um Platz für eine Mine zu schaffen? Das Leben bestimmter Menschen ist für diese Unternehmen einfach nichts wert, gerade in dieser Region.

Kristina Hatas: Im Übrigen will niemand Firmen nutzlosen Papierkram aufbürden. Was wir brauchen, sind nicht Unternehmen, die Formulare ausfüllen, sondern die tatsächlich Sorgfaltspflichten einhalten. Genau das hätten die Gesetze auch vorschreiben können, aber es waren Unternehmen und ihre Lobby-Gruppen, die gesagt haben: Wir wollen auf keinen Fall direkt für Schäden haftbar sein, wir wollen lieber nur Prüf- und Berichtspflichten. Wenn die Industrie jetzt über zu viel Bürokratie klagt, hat sie sich das selbst zuzuschreiben.

Schwarz-Rot auf Linie mit der Industrie

Bei der Politik scheint das Argument zu verfangen. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat versprochen, die Lieferkettenrichtlinie auszudünnen. In Deutschland hatte selbst der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck signalisiert, die Unternehmen bei Berichtspflichten zu entlasten. Wo stehen wir gerade?

Kristina Hatas: Wir erleben heftige Angriffe sowohl auf das europäische als auch das deutsche Lieferkettengesetz. In Deutschland hat schon die Ampel-Regierung den Beginn der Berichtspflichten immer weiter nach hinten geschoben, sodass wir noch nicht mal sagen können, ob das Gesetz überhaupt funktioniert. Die Union hatte aus der Opposition heraus Anträge gestellt, das Lieferkettengesetz komplett abzuräumen. Im Koalitionsvertrag [PDF] wurde man sich nun einig: Das deutsche Lieferkettengesetz wird vom – dann wahrscheinlich verwässerten – EU-Lieferkettengesetz abgelöst, Berichtspflichten werden ganz ausgesetzt und Verstöße nur in Ausnahmefällen sanktioniert.

Unglaublich. Also ist das deutsche Lieferkettengesetz am Ende, bevor es überhaupt wirken kann?

Kristina Hatas: Die Ankündigung ist ein gravierender Rückschlag für die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen. Der Verweis auf die EU hilft dabei überhaupt nicht – weil das Ganze auf 2028 verschoben wurde und deutlich verschlechtert wird. Die unmittelbare Abschaffung der Berichtspflichten ist frustrierend. Die Wirtschaft darf damit weiter nach Belieben und ohne Rechenschaft gegen menschenrechtliche sowie umwelt- und klimabezogene Sorgfaltspflichten verstoßen. Wir fallen damit weit hinter die Errungenschaften der vergangenen fünf Jahre zurück.

Auch bei der EU droht ein Kahlschlag

Wie ist die Lage bei der EU?

Kristina Hatas: Ursula von der Leyen hat im November ein Gesetz angekündigt, das eigentlich nur drei EU-Gesetze effizienter machen und Überschneidungen abbauen soll: die Taxonomie-Verordnung zu nachhaltigen Investitionen, die Regeln zur Nachhaltigkeitsberichterstattung von Unternehmen und die Lieferkettenrichtlinie. Inzwischen liegt der Vorschlag vor und er geht weit darüber hinaus. Tatsächlich würden die Vorschläge der Kommission die Lieferkettenrichtlinie komplett entkernen.

Was hat sie vor?

Kristina Hatas: Wie auch bei der deutschen Variante sollten Sorgfaltspflichten in der Regel nur noch für direkte Geschäftspartner und nicht mehr für die gesamte Lieferkette gelten. Die zivilrechtlichen Haftungsklauseln sollen nicht mehr EU-weit gelten, was sie praktisch wirkungslos machen würde. Auch Vorgaben zur Einbindung von Stakeholdern sollen entfallen. Das alles sind Dinge, die die Richtlinie zu dem gemacht haben, was sie ist.

Außerdem war das EU-Lieferkettengesetz immer als Fundament gedacht und nicht als Decke, also als Minimalstandard, den die Mitgliedstaaten mit eigenen Gesetzen weiterentwickeln können. Jetzt sollen Teile der Richtlinie explizit als Maximalstandard festgelegt werden, einzelne Staaten dürften dann nicht darüber hinausgehen, selbst wenn sie wollen. Das ist ein Schlag ins Gesicht von Betroffenen durch Menschenrechtsverletzungen und es stiftet totales Chaos und Rechtsunsicherheit. Im Nachteil sind Unternehmen, die schon Schritte unternommen haben, um die Anforderungen zu erfüllen.

Das ist alles extrem beunruhigend. Was sollte die EU stattdessen machen?

Kristina Hatas: Ursula von der Leyen muss Wort halten. Das Gesetz darf auf keinen Fall den Kern der Lieferkettenrichtlinie aushöhlen, sondern sollte nur Berichtspflichten vereinfachen. Statt die Regeln schon vor dem Start rückabzuwickeln, sollten EU und Mitgliedstaaten Unternehmen besser bei der Umsetzung unterstützen. Das kann zum Beispiel mit Richtlinien und Auslegungshilfen geschehen, die zeigen, wie die Sorgfaltspflichten praktisch umzusetzen sind.

„Das ist gerade ein absolut entscheidender Moment“

Nach Zahlen der UN hat sich die Zahl der elektronischen Geräte in Westeuropa zwischen 2018 und 2023 fast verdoppelt, auf 9,4 Geräte pro Kopf. Wenn ich aktuell bei Lesungen über die kolonialen Kontinuitäten im Rohstoff-Bereich spreche, sind die Menschen sehr schockiert. Viele wissen nicht, wie viel Ausbeutung in ihren Telefonen und Elektroautos steckt. Was können sie tun?

Kristina Hatas: Verbraucher:innen können auf zwei Ebenen aktiv werden. Die eine ist bewusster Konsum. Wir müssen einfach runter mit unserem Verbrauch. Wer das Rad oder den ÖPNV nehmen kann, sollte das tun. Das beste E-Auto ist das, das nicht produziert wird. Was es heute an Transparenz gibt, sollten wir nutzen, um die Firmen zu unterstützen, die die Standards einhalten. Der andere Ansatz ist Druck auf den Staat. Wir können natürlich nur auf öffentlichen Verkehr umsteigen, wenn es entsprechende Infrastruktur gibt. Staaten müssen die Möglichkeiten für bewussten Konsum schaffen und sie müssen Unternehmen dazu zwingen, ihre Lieferketten in Ordnung zu bringen. Da müssen wir Druck machen.

Also Briefe an Abgeordnete schreiben?

Kristina Hatas: Unbedingt. In Deutschland nimmt die neue Koalition die Arbeit auf, Parlamentarier:innen müssen jetzt hören, dass Deutschland seine Verantwortung ernst nehmen muss. Und auch wenn Brüssel sich für viele weit weg anfühlt, sind auch Europaabgeordnete nicht unerreichbar. Das ist gerade ein absolut entscheidender Moment.

Christian Rumu: Vielleicht gibt es unter euren Leser:innen auch Menschen, die in die Firmen investieren, über die wir heute gesprochen haben. Die können auch etwas bewirken. Sie haben als Investor:innen zum Beispiel das Recht, Fragen an die Firmen zu stellen. Sie sollten sie dazu bringen, die Menschenrechtslage beim Abbau der Rohstoffe zu verbessern. Diese Botschaft versuchen wir gerade sehr stark zu machen: Auch Investor:innen tragen eine Verantwortung.

Ingo Dachwitz ist Journalist und Kommunikationswissenschaftler. Seit 2016 ist er Redakteur bei netzpolitik.org und u.a. Ko-Host des Podcasts Off/On. Er schreibt häufig über Datenmissbrauch und Datenschutz, Big Tech, Plattformregulierung, Transparenz, Lobbyismus, Online-Werbung, Wahlkämpfe und die Polizei. 2024 wurde er mit dem Alternativen Medienpreis und dem Grimme-Online-Award ausgezeichnet. Ingo ist Mitglied des Vereins Digitale Gesellschaft sowie der Evangelischen Kirche. Seit 02/2025 ist sein Buch erhältlich: “Digitaler Kolonialismus: Wie Tech-Konzerne und Großmächte die Welt unter sich aufteilen”. Kontakt: E-Mail (OpenPGP), Mastodon, Bluesky, FragDenStaat. Dieser Beitrag ist eine Übernahme von netzpolitik, gemäss Lizenz Creative Commons BY-NC-SA 4.0.

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