Wir sollten ein wenig systematischer an die ARD-Veranstaltung mit der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel am vergangenen Wochenende herangehen.

1. Es ist nicht das erste Mal, dass ein Interview beziehungsweise eine Stellungnahme unterbrochen wurde. Das geschah in der Bundesrepublik Gott weiß wie oft.

2. Der Unterschied zu sonstigen Unterbrechungen/Störungen eines Redeflusses beziehungsweise zu Erklärungen politisch aktiver Personen bestand darin, dass Hunderttausende dies dieses Mal in Echtzeit miterleben konnten – und darunter auch eine beträchtliche Zahl Journalistinnen und Journalisten.

3. Die Herausforderung der Weidelschen und Preissschen Stimmbänder erfolgte nicht durch Repräsentanten einer Massenorganisation, sondern durch eine kleine Gruppe, die gemeinhin als etwas durchgeknallt und elitär gilt. Die „political Beautys“ stellen nach eigener Darstellung Gegenöffentlichkeit dar, sie haben (hatten?) gar eine „informelle Kanzlerin“ in ihren Reihen.

4. Die einen erregen sich darüber, dass ihre schwer rechtslastige „Queen“ gestört wurde; einige wenige sehen die Meinungsfreiheit beschnitten und die meisten werden wohl irgendwie augenzwinkernd – verblüfft – ungläubig daheim gesessen haben, um zuzugucken.

5. Weiter ist nichts geschehen. Die Tagesschau hat nicht verzögert begonnen, in der Koalition gabs keine Kontroverse, die Tiefs zogen weiter über den Atlantik in unsere Richtung und die Autobahnen waren voll.

6. Leute, die behaupteten, das Ganze sei eingetütet worden, um vom „Fall“ Brosius-Gersdorf für wenige Stunden abzulenken, sind – echt – nicht für voll zu nehmen.

7. Es war im Übrigen eine Geschichte ohne Putin, Xi, und Victor Orban.

8. Die ARD überlegt dem Vernehmen nach, solche Interviews auf eine Hallig oder auf die Zugspitze zu verlegen.

So weit so wie auch immer. Das Betrübliche ist, dass die erwähnten Hunderttausende nicht vollständig mitbekommen haben, welch gefährlichen Unsinn die AfD- Chefin verzapft hat. Sie meinte, der Staat benötige keine neuen Schulden, es reiche, so richtig in die Ausgaben hinein zu schneiden, vor allem in den Sozialhaushalt. Der Lärm der Leute vom Zentrum für politische Schönheit verdrängte die Folgen der Weidelschen Erklärungen: Renten runter, Wohngeld weg, Bürgergeld mehr oder weniger komplett weg und natürlich die Steuern runter – 50 000 Euro Freibetrag für Einkommensteuerzahler und -zahlerinnen.

Der letzte, der ein „Konzept“ mit ähnlichen Folgen für das Land vorschlug, der hieß Henry Morgenthau, war US- Finanzminister. Der wollte nach dem 2. Weltkrieg aus Deutschland ein reines Agrarland machen. Er nannte das einen „harten Frieden“ aufzwingen. Jetzt wissen Sie, lieber Leser und liebe Leserin, was Ihnen blüht, wenn Weidel uns in die Hände kriegt.

Über Klaus Vater / Gastautor:

Avatar-FotoKlaus Vater, geboren 1946 in Mechernich, Abitur in Euskirchen, Studium der Politikwissenschaft, arbeitete zunächst als Nachrichtenredakteur und war von 1990 bis 1999 Referent der SPD-Bundestagsfraktion. Später wurde er stellvertretender Sprecher der deutschen Bundesregierung. Vater war zuvor Pressesprecher des Bundesministeriums für Gesundheit unter Ulla Schmidt, Sprecher von Arbeitsminister Walter Riester, Agentur-, Tageszeitungs- und Vorwärts-Redakteur. Mehr über den Autor auf seiner Webseite.