Was die vielen “wahren Gesichter” von Putin über den Weg in die Selbstauslöschung erzählen – Anmerkungen zu Konflikttreiberei und militärischer Eskalation

Es gibt offenbar Ansichten und Geschichten, die sind so verlockend, dass sie immer wieder aus dem Archiv geholt werden. Dazu gehört die Phrase, Putin zeige sein „wahres Gesicht“, wiederholt in zahlreichen Variationen, wie etwa hier (NZZ), hier (Politico), hier (Hamburger Abendblatt) und hier (Kölner Stadtanzeiger). Die Publikation des Kölner Stadtanzeigers (hinter Bezahlschranke) glänzt für alle, die den link dennoch anklicken, mit einer Fotomontage des Gesichts des Kreml-Chefs. Hineinmontiert ist, was einem SS-Totenkopf sehr nahe kommt. Es ist ein Archivbild aus dem Jahr 2022, das „an einem Museum in Riga“ hängen soll. Was soll ein Betrachter sich dabei denken?

Am 05.03. 2022 konnte man im Hamburger Abendblatt nachlesen: „Putin – Schon 1994 zeigte er in Hamburg sein wahres Gesicht“. Berichtet wurde, dass der estnische Präsident Meri 25. Februar am 1994 in seiner Rede beim Matthiae-Mahl am 25. Februar 1994 gesagt habe, dass Russland die „Vorherrschaft im Osten anstrebe“. Putin soll deshalb „seine Serviette entrüstet auf den Tisch geworfen haben.“ Danach, so Augenzeugen, soll er „mit durchgedrückten Knien, einen verächtlichen Blick auf den Gastgeber werfend, aus dem Saal marschiert (sein) – jeder Schritt begleitet vom Knarzen des Parketts“. Den Vorfall erzählten auch die Zeit und die Deutsche Welle. Letztere beschrieb auch die Publikumsreaktion: “Ein Raunen folgt ihm. Wer war’s? Was hat denn der? Schon donnert die Tür ins Schloss.”

Daraus kann man zumindest lernen, dass nur zwei der Teilnehmer im Raum die politische Brisanz des Geschehens verstanden. Meri bezog sich in seiner Rede unter anderem auf eine Note des russischen Außenministeriums, wonach das Minderheitenproblem der Russen in Ländern außerhalb Russlands nicht nur mit diplomatischen Mitteln lösbar sei. Er suggerierte, dass demnächst eine imperialistische Expansion Russlands ins Haus stünde.

Die russische Note, die Meri erwähnte, ist nicht auffindbar, aber in einer australischen Studie von 1995 wird die russische Außenpolitik jener Jahre beschrieben: Tatsächlich gab es Überlegungen, den russischen Truppenabzug aus Estland zu verzögern. Eine russische Expansionspolitik gehörte definitiv nicht dazu.

Die Los Angelos Times berichte 1993, dass das estnische Staatsbürgerschaftsgesetz zu einer scharfen Kontroverse führte und der russische Präsident der baltischen Republik praktisch eine „Apartheidpolitik“ vorwarf. Der russische Außenminister brachte Wirtschaftssanktionen ins Gespräch. Zwischenzeitlich stockte wohl auch die Auflösung der baltischen Flotte der Sowjetunion. Laut Independent warnte Jelzin, dass es zu zivilen Unruhen in Estland kommen könne.

Jelzin und Clinton

Kurz danach spielte diese Frage bei einer Begegnung zwischen Jelzin und Clinton in Tokio 1993 eine Rolle. Jelzin machte auf das Problem der russischen Minderheit in Estland aufmerksam und bat um Clintons Unterstützung. Jelzin glaubte nicht, dass die estnische Gesetzgebung legal war. Clinton ermunterte Jelzin, den russischen Truppenabzug zu verhandeln. Der russische Truppenabzug aus Estland gelang zum 31.8. 1994. Das Minderheitenproblem der Nicht-Esten blieb.

Ebenfalls am 31.8.1994 wurde in Berlin der Abzug der sowjetischen Streitkräfte vom ostdeutschen Territorium mit einem Festakt begangen.

Zu teuer

Zur Geschichte gehört ebenfalls dazu, dass sich Russland damals die Finanzierung der rund 6500 Soldaten in Estland nicht mehr leisten konnte. Es war zu teuer. Wirtschaftssanktionen befürchteten die Esten nicht, obwohl sie nahezu alle Energie aus Russland bezogen. Sie hätten Alternativen, war in der Los Angelos Times 1993 zu lesen. Tatsächlich importierte Estland bis 2024 Strom aus Russland. Als Waffe nutzte Russland die Energielieferungen an Estland nicht. Die Grenzstreitigkeiten wurden 1996 beigelegt.

2024 feierte der Spiegel die Hamburger Rede von Meri. Der habe schon 1994 vor Russlands „Großmachtsphantasien“ gewarnt. Der „Politik-Ausraster“ von Putin sei „prophetisch“ gewesen. Es ist schon recht kühn, wenn nach gut zwanzig Jahren ein Ereignis ohne historische Einordnung kommentiert und in ein klares Gut-Böse-Schema verlegt wird: Der kluge Meri war vorausschauender als alle; der damals noch recht unbekannte Putin konnte den tiefen Blick in die verwerfliche aggressive Seele Russlands nicht ertragen. Er zeigte Nerven. Wer sich mit dem Kontext dieser Jahre beschäftigt, kommt zu einem ganz anderen Schluss: Meri machte in wohlgesetzten Worten bösartige Unterstellungen, der anwesende Vertreter des geschmähten Russlands protestierte, indem er ging.

Meri verhielt sich allerdings in Hamburg nicht sehr viel anders als sein polnischer Amtskollege Walesa bei einem Treffen der Vertreter der Visegrad-Staaten mit Präsident Clinton im Januar 1994. Der sagte über Russland: „Russland hat viele Abkommen unterzeichnet, aber sein Wort war nicht immer gut: In der einen Hand hielt es einen Stift, in der anderen eine Granate.“ Über die anwesenden Visegrad-Staaten sagte Walesa, die würden ihr Wort halten, weil sie eine „westliche Kultur“ haben, Russland nicht. Nur Vaclav Havel verteidigte in dieser Runde Russland. Über Meri gibt es eine Dokumentation aus dem Jahr 1994 (“Meri – Ein Leben für Estland”).

Meri hat unbestreitbar das Verdienst, Estland international bekannt gemacht zu haben. In dieser Dokumentation äußerte er, was für ihn Europa ist, und was nicht: „Die Grenzen Europas waren ja immer die östlichen Grenzen der baltischen Staaten“ (er führt u.a. die Architektur und das Christentum an) und machte dann Werbung für sein Land: „Das alles ist nicht nur ein Teil Europas, vielleicht sogar ein Kern Europas, denn eben hier auf der östlichen Grenze Europas, haben sich die besten Traditionen Europas erhalten, nämlich der Glaube an den Menschen, den es in Europa viel weniger gibt als hier.“

Der selektive Charakter des „Glaubens an den Menschen“ offenbart sich im estnischen Staatsbürgerschaftsrecht von 1993. Es beruht auf Abstammung und führt dazu, dass ehemalige Sowjetbürger in Estland, allen voran ethnische Russen (also ca. 30% der Einwohner), zu „Nichtbürgern“ wurden, denen der komplizierte Weg zur Naturalisierung offen steht. Ohne Naturalisierung sind ihre politischen Rechte eingeschränkt. Der Spiegel nannte diesen Zustand 2017 eine „systematische Diskriminierung“.

Die schon erwähnte australische Studie aus dem Jahr 1995 setzte sich ebenfalls mit Behauptungen eines mutmaßlichen Wiederauflebens einer „neo-imperialistischen Politik“ Russlands auseinander, die bereits 1991/92 in den USA aufflammten. Mit dabei war selbstverständlich der Geostratege Brzezinski.

Damalige Probleme immer noch ungelöst

Was kaum einer verstand oder verstehen wollte, war, dass bei der Auflösung der Sowjetunion vieles nicht geregelt wurde. Mit der politischen Auflösung wurde ein lebendiger Organismus politisch geteilt, aber die Zusammenhänge, die in der Sowjetunion entstanden waren, blieben bestehen. Die Auflöser der Sowjetunion glaubten, das alles würde sich schon einvernehmlich irgendwie regeln, durch enge Zusammenarbeit. Da die Russische Sowjetrepublik schon die Sowjetunion dominiert hatte, war in der politischen Praxis allerdings nichts mehr einfach und die Probleme, die damals entstanden, sind teilweise immer noch ungelöst.

Aber halten wir auch fest: Für Präsident Meri endete Europa 1994 an der estnischen Grenze. Alles dahinter war dann was? Damals gab es in unserem Land die klare Einsicht, dass Russland zu Europa gehört. Die starb erst in der “Zeitenwende”. Nach Meri bedeutet der Mensch den Esten mehr als allen sonst im Westen Europas. Vorausgesetzt, der Mensch ist Este. Lech Walesa war sich sicher, dass alle, die „westlich“ sind, ihr Wort halten, bei den Russen kann man das vergessen. Die tun nur so, als wären sie friedlich.

An dieser Stelle kann man es sich fast sparen, darauf hinzuweisen, welche Seite nach 1990 in Sachen Nato-Erweiterung wortbrüchig wurde, wer viele diplomatische Begehren Russlands, die nicht in den eigenen Kram passten, seit der ersten Hälfte der 90iger Jahre abwiegelte, und wer existierende Abrüstungsverträge (ABM, INF) unter fadenscheinigen Gründen aufkündigte. Wer widersetzte sich der Umsetzung von Minsk-II oder einer diplomatischen Lösung zur Schaffung eines gesamteuropäischen bzw. transatlantischen Sicherheitsraums? Wer wollte keine strategische Abrüstungsdiskussion? Russland war das alles nicht.

Dämon ist aus der Flasche

Dennoch war es Russland, das mit der völkerrechtswidrigen militärischen Aggression gegen die ukrainische Zentralgewalt im Februar 2022 einen Dämonen aus der Flasche entließ, den es allein nicht wieder einkorken kann. Das halte ich für den strategischen Fehler Putins und seiner Umgebung. Moskau rechnete mit schwerer Bestrafung, aber es spekulierte auch darauf, sich schnell militärisch das ertrotzen zu können, was es auf dem Verhandlungsweg von den USA und der Nato nicht bekam: Die Absage an eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine.

Spätestens die westliche Verweigerung, die Ergebnisse der Istanbul-Verhandlungen 2022 zu unterstützen und einem zügigen Frieden in der Ukraine und mit Russland eine Chance zu geben, offenbarte, dass die russische Intervention der Nato genau das lieferte, was sie wollte: Russland „strategisch“ zu schwächen und wirtschaftlich über Sanktionen „zu ruinieren“. Egal, was diese hirnverbrannte Idee, die uns alle in den Untergang reißen kann, die Ukraine kostet. Die militärische Schwächung Russlands ist aktuell noch die Aufgabe der Ukrainer. Als „erste Verteidigungslinie“, wie es heisst. Und dann? Dann werden weitere „Willige“ gebraucht.

Seitens der US- und der britischen Presse ist eingeräumt, dass in diesem Krieg nicht nur Waffenlieferungen, finanzielle Unterstützung, geheimdienstliche Unterstützung, finanzielle und humanitäre Hilfe für die Ukraine geleistet werden. Das Kommando über die Kriegführung liegt bei der NATO, offenbar seit Februar dieses Jahres in britischer Hand.

“Europa ist im Kampf”

Noch immer herrscht bei der „Koalition der Willigen“ die Vorstellung eines „Siegfrieden“ vor, allenfalls unterbrochen durch ein kurzes Kräftesammeln gegen Russland. Denn ein Krieg mit Russland wird schon als nahezu unausweichlich portraitiert. „Europa ist im Kampf“, so begann die Kommissionspräsidentin ihre Rede zur Lage der Europäischen Union 2025. Russland oder wir. Das ist verheerende Logik, die die Politik der EU und der Mehrheit ihrer Mitgliedstaaten sowie von Großbritannien prägt. Sie führt dazu, dass weiter militärisch entschieden wird, was verhandelt beendet werden könnte.

Aber wie kann man verhandeln mit einem Land, das neuerdings polnisches Territorium mit Attrappen beschießt und die Nato zum schützenden Eingreifen zwingt?

Die Nato tagte und war sich uneins: War es nun russische Absicht oder nicht? Sie wird weiter prüfen und ihre militärischen Stellungen an der „Ostgrenze“ ausbauen. Der UNO-Sicherheitsrat tagte in außerordentlicher Sitzung, auf Bitten Polens. Es gibt unterschiedliche Versionen vom Geschehen, aber die Eskalation ist unbestritten.

Laut einer Visualisierung des Angriffs, die auch die polnische Zeitung Rzeczpospolita veröffentlichte, kamen die Drohnen (Attrappen) nicht aus Belarus, sondern brachen über das Territorium der Ukraine kommend in polnisches Territorium ein. Aber diese Drohnen haben nur eine begrenzte Reichweite. Also kamen sie vielleicht doch aus Belarus? Zudem wurde nun doch ein polnisches Haus beschädigt. Wie und von wem ist auch offen. So stand schließlich im Sicherheitsrat Wort gegen Wort: War es ein willentlicher russischer „Test“ der Nato, gab es eine unbeabsichtigte Umleitung dieser Drohnen oder war das ganze eine false flag? Aufgeklärt ist noch gar nichts.

Risiko der atomaren Vernichtung

Solange die Eskalation andauert, leben wir mit dem Risiko der atomaren Vernichtung, das längst höher ist als zu Zeiten der Kuba-Krise. Aber bekanntlich geht es immer noch schlimmer:
Verlieren wir 2026 den START-Vertrag, gibt es keine Grenzen mehr bei einsatzfähigen interkontinentalen Waffen, erfolgt eine weitere Beschleunigung des Rüstungswettlaufs: im atomaren Bereich, bei Hyperschallwaffen und bei der militärischen Nutzung künstlicher Intelligenz. Durch die Stationierung von US-Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden 2026, die von der russischen Seite beantwortet werden wird, wird Europa wieder in den hochgefährlichen Zustand der ersten Hälfte der 80er Jahre zurückfallen, allerdings ohne dass es noch irgendein diplomatisches Sicherheitsnetz gibt. Mit dem Feind redet man nicht. Diplomatie, Entspannung? Niemals. Wie Meri sitzen wir gerne auf höchstem Ross.

Auf Hawaii gab es einmal einen falschen Atomalarm. Die Szenen, die sich dort abspielten, waren herzzerreißend: Eltern, die ihre Kinder in Badewannen stopften oder im Gully versteckten. Niemand hatte ihnen gesagt, dass alle Anstrengungen auf Rettung vergeblich sein würden, wenn es zur nuklearen Katastrophe kommt.

Während Politik und Medien von Sicherheit durch mehr Rüstung oder „Kriegstüchtigkeit“ faseln (wegen des erfundenen bevorstehenden russischen Angriffs auf die Nato) und sich in Feindbildern suhlen, haben wir es mit einer sehr realen Gefahr zu tun. Sie ist näher, als die meisten glauben. Vor ihr verblasst alles andere. In einer dunklen, verstrahlten Welt voller Toter und lebender Toter hat die Frage von Gut und Böse, von Schuld und Unschuld, von Freund und Feind ihren Sinn verloren.

Wir fahren, um ein Bild des ehemaligen UN-Waffeninspektors Scott Ritter (es ist der Titel seines jüngsten Buchs) zu verwenden, mit Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn Richtung Hölle. Die hat noch Ausfahrten, aber nicht mehr sehr viele. Sie weisen allesamt in eine Richtung: nukleare Abrüstung, Entspannungspolitik, Zusammenarbeit. Leicht wird dieser Ausweg nicht.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus dem Blog der Autorin, mit ihrer freundlichen Genehmigung. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.

Über Petra Erler / Gastautorin:

Avatar-FotoPetra Erler: "Ostdeutsche, nationale, europäische und internationale Politikerfahrungen, publizistisch tätig, mehrsprachig, faktenorientiert, unvoreingenommen." Ihren Blog "Nachrichten einer Leuchtturmwärterin" finden sie bei Substack. Ihre Beiträge im Extradienst sind Übernahmen mit ihrer freundlichen Genehmigung.