Auf die lokale Küche sind in Belém alle stolz
mit Update 23.9.
Wer in den Norden Brasiliens reist, gelangt in eine andere Welt – auch wenn die Ankunft in der Millionenstadt Belém erfolgt. Hier im Amazonasgebiet ist das Klima heiß und feucht. Trotz ihrer mittlerweile beachtlichen Skyline bleibt Belém unordentlich, die offenen Kanäle und Abwässer in den Straßen sorgen für einen markanten Geruch. Rund um die COP30 ist eine Debatte entstanden, die viele Menschen aus Pará, die „Paraenses“, als Belém-Bashing empfinden. Ein gutes Beispiel dafür war ein Artikel im The Economist, der die fehlende Infrastruktur in Beleḿ beklagte und eine COP des Chaos vorhersagte. Die Probleme lassen sich nicht leugnen, und die Kritik trifft die Bewohner*innen durchaus. Da ist es mehr als günstig, dass es wenigstens einen Punkt gibt, auf den alle Paraenses stolz sind: die regionale Küche.
Kulinarisch betrachtet ist die Amazonasregion im Norden Brasiliens wirklich eine andere Welt. Der Stolz der regionalen Küche beruht auf Gerichten und Zutaten, die aus einer indigenen Tradition stammen und die in anderen Teilen Brasiliens und der Welt so nicht zu finden sind.
Rote Fahnen sieht man besser – und sie sind in Belém allgegenwärtig: kein politisches Zeichen, sondern Hinweis auf einen Açaí-Verkaufspunkt. Das Produkt einer Palmfrucht ist das auffälligste und wohl bekannteste Flaggschiff der paraensischen Küche. Inzwischen ist Açaí in ganz Brasilien angesagt. Die Paraenses haben nur Verachtung dafür übrig, wie Açaí außerhalb Amazoniens in der Regel konsumiert wird: gesüßt und mit Früchten. In Belém ist Açaí Grundnahrungsmittel, das in einer breiigen Form als Beilage zu Fisch, aber auch zu fast allem anderem gegessen wird. Dabei wird es nicht mit Zucker, sondern mit dem anderen großen Exponenten der regionalen Küche, dem Maniok, vermischt.
Maniokprodukte und Açaí sind die überragenden Elemente der paraensischen Küche. Deshalb war die Aufregung groß, als sie die Organisation der COP30 für die Verpflegung im offiziellen Bereich der COP nicht zulassen wollte. Ein Aufschrei ging quer durch alle politischen Lager. Prompt wurde eine Korrektur der ursprünglichen Liste veröffentlicht, und die Organisation der COP entschuldigte sich sogar: Auch die Delegierten für die COP dürfen nun Açaí verspeisen.
Wunderfrucht Açaí
Açaí hat in den letzten Jahren eine atemberaubende Karriere hingelegt. Es wurde zum „superfood“ und in ganz Brasilien, aber auch in den USA und Europa zum Trend. Mit Oakberry hat sich eine globale Lebensmittelkette auf Açaí spezialisiert. Sie wirbt damit, dass organisches Açaí nun „Teil des gesunden Lifestyles von Millionen Menschen und vieler Länder ist“ und zudem Entwaldung verhindere. Die Zahlen, die den Aufstieg von Açaí dokumentieren, sind eindrucksvoll: Von 1987 bis 2022 stieg die Produktion von 145000 Tonnen auf 1,9 Millionen Tonnen. 94 Prozent davon stammen aus Pará. Die Açaí-Exporte steigen zwar steil an, haben aber 2024 mit 8000 Tonnen weiterhin nur einen bescheidenen Anteil an den nationalen Exporten. Trotz des ganzen Hypes ist Açaí ein Produkt von Kleinproduzent*innen und Ribeirinhos und Ribeirinhas (Flussrandbewohner*innen) geblieben. Die Kleinstadt Abaetetuba liegt knapp zwei Stunden Fahrtzeit von Belém entfernt und ist der zweitgrößte Açaí-Produzent des Bundesstaates. Die Inseln rund um die Kleinstadt sind ein wichtiger Lieferant für die Hauptstadt. Die am Flussrand stehenden Häuser, umgeben von Açaí-Palmen, sind allgegenwärtig. Viele Menschen sind in den letzten Jahren zurückgekehrt und haben die Anbauflächen für Açaí ausgeweitet. Die Häuser sind besser geworden, ebenso die Boote. Açaí hat hier zu einem sichtbaren Aufschwung geführt.
In Belém wird die andere Seite des Açaí-Booms offensichtlich. Die Beschwerden über den hohen Preis sind allgegenwärtig. Im Juni 2025 lag der Preis mit 30 Reais (derzeit umgerechnet 4,70 Euro) pro Kilo in Rekordhöhe, im Juli gab es einen leichten Rückgang auf 29 Reais. Aber nicht nur die steigende nationale und globale Nachfrage ist schuld, auch eine schlechte Ernte im vergangenen Jahr aufgrund der Trockenheit, für die viele Wissenschaftler*innen den Klimawandel verantwortlich machen, treibt den Preis. Von all dem abgesehen ist da zudem noch der unvermeidliche US-Präsident Trump. Auf der Liste der Produkte, die von den USA mit einem Zoll von 50 Prozent belegt werden sollen, steht auch Açaí.
Maniok – das Geschenk Amazoniens an die Welt
Die Wurzelknolle Maniok (oder Mandioca) stammt vermutlich aus dem Amazonasgebiet und wurde vor etwa 9000 Jahren von indigenen Völkern kultiviert. Relativ unbeachtet in Europa ist Maniok zu einer der wichtigsten Kulturpflanzen der Welt geworden, als Grundnahrungsmittel für über 800 Millionen Menschen weltweit. Heute liegt Brasilien nach Nigeria, DR Kongo, Thailand und Ghana nur noch an fünfter Stelle der globalen Produktion. Der Sklavenhandel hatte einen wichtigen Anteil an der globalen Verbreitung des Knollengewächses.
Gebratene Mandioca (auch als Aipim bekannt) kann überall im Lande gegessen werden, Maniokmehl (Farinha und angereichert als Farofa) ist als Beilage äußerst populär. Der größte Maniokproduzent Brasiliens ist zwar Pará, aber anders als Açaí wird Maniok auch viel außerhalb Amazoniens angebaut. Die Besonderheit in Pará ist die überaus vielfältige Verwendung von Maniok, der deshalb zu dem vielleicht wichtigsten Element der paraensischen Küche wird, insbesondere als Tucupi, einer Flüssigkeit, die aus Maniok gewonnen wird. „Pato (Ente) no Tucupi“ ist eines der herausragenden Gerichte der paraensischen Küche. Nicht nur Ente, auch Fisch, Huhn oder Schweinefleisch kann mit Tucupi zubereitet werden. Allgegenwärtig auf den Straßen von Belém ist das zweite Gericht auf Tucupi-Basis, Tacacá, das an zahlreichen Ständen in einer pflanzlichen Schale (Cuia) serviert wird, Streetfood also. Dabei kommt zum Tucupi noch eine Art Paste (Goma) hinzu, die ebenfalls aus Maniok gewonnen wird, sowie die Pflanze Jambú und Garnelen. Zu den paraensischen Besonderheiten gehört die Verwendung der Mandioca Brava, die aufgrund ihres Blausäureanteils eigentlich hochgiftig ist. Durch einen aufwändigen Verarbeitungsprozess können die Cyanide entzogen werden.
Ein weiteres Maniok-Gericht ist Maniçoba, das aus den Blättern des wilden Manioks gewonnen wird. Sie müssen tagelang gekocht werden, um die giftigen Substanzen zu entziehen. Der so entstandene Brei wird mit verschiedenen Fleischsorten, vor allem Schwein, vermischt. Die Zutaten sind ähnlich wie bei der Feijoada, es kommen also auch Ohren und Füße zum Einsatz. Das Ergebnis ist eine schwarz-grüne Masse, die an Grünkohl erinnert. Wegen der aufwendigen Zubereitung ist Maniçoba eher ein Festessen und kein alltägliches Gericht.
Fische, Krokodile und Schildkröten
Neben den besonderen Zubereitungsarten beruht die Küche Parás auf der Verarbeitung von Fisch. Auf dem berühmten Ver-o-Peso-Markt lassen sich die amazonischen Fische bewundern, die oftmals aus dem Übergangsbereich von Fluss und Meer stammen und deshalb als besonders schmackhaft gelten. Flaggschiff der Küche ist der Filhote, ein riesiger Süßwasserfisch, der auch Menschen schmecken sollte, die sonst keinen Fisch mögen.
Natürlich gib es noch viel mehr Ingredienzen und Gerichte, die die paraensische Küche ausmachen. In einer Welt, die auf Exotisches Jagd macht, kann die paraensische Küche nicht unentdeckt bleiben. Die arbeitsintensiven, durchaus nicht immer gefälligen Gerichte sind eher etwas für die ambitionierte Küche. Salonfähig hat insbesondere „Chef“ Saulo Jennings die paraensische Küche gemacht. Der Starkoch stammt aus Santarém und hat inzwischen schicke Restaurants in São Paulo und Rio de Janeiro eröffnet. In Belém können internationale Gäste im „Casa das Onze Janelas“ die hochpreisige Küche von Saulo Jennings genießen.
Ein weiteres Element der Maniok-Familie hat es in Brasilien zu landesweiter Verbreitung geschafft: Tapioka ist vielen als aus Maniok gewonnene Stärke bekannt. Das Wort bezeichnet auch ein daraus hergestelltes Produkt, eine Art Crêpe, die unterschiedlich gefüllt wird. Da Tapioka glutenfrei ist, ist es zu einem beliebten Produkt auf Straßenmärkten in ganz Brasilien geworden und ist auch in Deutschland zu finden. Allerdings ist Tapioka kein Monopol der paraensischen Küche und wird von vielen Brasilianer*innen eher mit dem Nordosten Brasiliens verbunden.
Die Trias Açaí, Maniok und Fisch ist in Belém allgegenwärtig und unerschöpflicher Quell paraensischen Stolzes. Aber sie sind nicht die ganze Wahrheit. Wieder muss man bis Abaetetuba fahren und dort auf den Markt gehen. Hier kann ein anderes Element der indigenen Tradition erspäht werden: essbare Tiere, die gejagt werden. Sofort sichtbar sind die Krokodile, die zum Verkauf angeboten werden. Anderes Wild wird eher versteckt angeboten: Capivara (Wasserschwein), Tatu (Gürteltier), Cutia (Aguti) und Mucura (Opossum). Noch schwerer zu bekommen ist eine bei Indigenen beliebte Speise, Schildkröten. Mit etwas Herumfragen finden sich aber auch in Belém Bars von Schmuggelfamilien aus Abaetetuba, wo das Fleisch einer kleinen Wasserschildkröte (Muçuã) verspeist werden kann. Der Verzehr dieser Tiere ist verboten. Allerdings wird bei Krokodilen inzwischen ein Auge zugedrückt, da sie nicht mehr als bedroht gelten. Traditionelle Gemeinschaften dürfen Wildfleisch verzehren, aber nicht verkaufen.
Wer mit der Zubereitung eines Krokodils überfordert ist, dem kann geholfen werden. Zum Glück gibt es indigene Foodblogger*innen. Eine der bekanntesten ist Romanã Waipi, aus dem benachbarten Bundesstaat Amapá. Auf Facebook kann man ihr bei der Zubereitung eines jungen Krokodils zusehen. Für Veganer*innen ist eher ihr Video über die Zubereitung einer indigenen Seife empfehlenswert.
Widerstand gegen Fastfood und Agrobusiness
Allerdings sind die paraensischen Gerichte nicht nur exotische Bereicherung einer globalisierten Küche. Açaí und Maniok und andere Elemente der paraensischen Küche sind Lebensmittel, die nicht vom Agrobusiness produziert werden: anzestrale, also von Generation zu Generation weitergegebene Lebensmittel der indigenen und traditionellen Gemeinschaften sowie von Kleinbäuer*innen. Das Überleben dieser Gesellschaften und ihrer Kulturen trotz Agrobusiness, McDonalds und Co. ist eine Praxis des Buen Vivir, des Guten Lebens, des antikolonialen Widerstandes – so sehen es Food-Aktivist*innen. Die wohl bekannteste ist Tainá Marajoara. Sie kritisiert die „Gourmetalisierung“ der paraensischen Küche, die damit ihrer sozialen Kontexte beraubt werde. Die Produktion dieser Lebensmittel hängt von der Verteidigung der Territorien ab, auf denen sie produziert werden. Sie hat nur eine Zukunft als Widerstand gegen die Ausweitung von Agrobusiness und Monokulturen. Tainá schaut nicht auf die Küche des neuen Chefs, sondern auf die sozialen Bewegungen und arbeitet mit der Kleinbauernvereinigung MST zusammen. In Belém betreibt sie das Zentrum „Iacitatá“. Besucher*innen der COP können dort also anzestrales Essen des Widerstandes ausprobieren.
Der Autor hat selbst knapp fünf Jahre in Belém gelebt, und seine brasilianische Familie stammt aus Abaetetuba. Dieser Beitrag ist eine Übernahme aus ila 488 Sept. 2025, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Einige Links wurden nachträglich ergänzt.
Update 23.9.
Redaktionelle Ergänzung: ab 24.9. mittags auf Arte: “Küchen der Welt Brasilien: Acarajé – Aafro-brasilianische Bohnenbällchen: Acarajé / Nostalgiegeschmack: Carolina, eine Brasilianerin in der Pariser Vorstadt / Ran an die Töpfe!”

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