von Diana Lilia Trevilla Espinal (Übersetzung: Mirjana Jandik)
Sorge füreinander, für die Gemeinschaft und die Natur
Fürsorge geht weit über das Kümmern um die Familie hinaus und wird im lateinamerikanischen Kontext auch im Zusammenhang mit der Verteidigung von Leben und Territorien diskutiert. Im Kontext jahrhundertealter kolonialer, patriarchaler und kapitalistischer Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse, die sich in besonderer Weise auf die Körper der Frauen auswirken, gilt es, gemeinschaftliche Alternativen zu finden. Fürsorge soll dafür aus dem Bereich des Privaten herausgezogen und politisiert werden. Dabei geht es um Sorge füreinander, für die Gemeinschaft und für die Natur.
Die Menschheit befindet sich an einem kritischen Punkt. Wir müssen Alternativen schaffen, um den vielfältigen aktuellen Krisen etwas entgegenzusetzen, die wir in allen Lebensbereichen zu spüren bekommen. Diese Krisen zeigen sich in der Erschöpfung natürlicher Ressourcen und dem Klimawandel ebenso wie in der Prekarisierung des Lebens auf dem Land und in den Städten. Um unendlich weiter Kapital zu akkumulieren, werden im aktuellen Modell Menschen, vor allem Frauen, ausgebeutet, Territorien enteignet und gemeinschaftliche Strukturen zerschlagen, ohne Rücksicht auf den Erhalt des Lebens.
Feminismen des Südens
Von den Bewegungen und Organisationen der ländlichen, mestizischen, urbanen und indigenen Frauen des Kontinents kommen die Feminismen des Südens. Wir sind alle unterschiedlich positioniert und von unseren vielfältigen Standpunkten aus schauen wir einander an, fühlen und denken uns, von uns, für uns, mit uns. Wir verstehen uns als ökonomische und politische Subjekte, die ausgehend von realen, erlebten und verkörperten Erfahrungen Wissen besitzen und schaffen. Wir befinden uns in einer untrennbaren Verbindung mit der Welt. Deshalb ist es für uns so wichtig, Fürsorge gemeinschaftlich, kollektiv und von unseren Körperterritorien ausgehend zu fühlen-denken.
Vom Körperterritorium aus zu sprechen heißt, dass wir die Krise nicht nur vom individuellen Körper aus fühlen-denken, sondern als Körper, der innerhalb der Machtstrukturen in unseren Territorien existiert. Wir erleben Schmerz, fühlen die Überlastung auf unseren Schultern, sind mit Prekarität und Umweltverschmutzung konfrontiert. Wir spüren Heimweh, wenn wir migrieren müssen, um uns woanders um Menschen zu kümmern, die nicht zu unserer Familie oder Community gehören. Wir schnallen den Gürtel enger, wenn die Lebensmittelpreise steigen. Aber vom Körperterritorium aus zu sprechen, heißt auch, die vielen unterschiedlichen Mittel und Wege wertzuschätzen, durch die wir gemeinschaftlich unsere Kämpfe und Transformationsprozesse stärken. Dazu gehören Care-Kollektive, der eigene Anbau von Lebensmitteln auf dem Land und in den Städten, die Weitergabe von Wissen über traditionelle Medizin, Kämpfe um Land, Wasser und Saatgut, Kämpfe um soziale und ökologische Gerechtigkeit. Fürsorge zu denken-fühlen bedeutet in Beziehung setzen, das, was ich erlebe, mit dem, was die anderen erleben, und mit den strukturellen Bedingungen. Wenn wir davon reden, dass das Patriarchat den Frauen die Sorgetätigkeiten zugewiesen hat, müssen wir auch seine Komplizenschaft mit dem neoliberalen Kapitalismus und dem Kolonialismus benennen, denn dadurch verstärken sich Prekarität, Diskriminierung und Enteignung unserer Körperterritorien um ein Vielfaches.
Unsichtbarkeit und Entwertung
Mittlerweile wird weltweit von Care in seinen unterschiedlichen Dimensionen gesprochen. Oft geht es darum, zu zeigen, dass Frauen weltweit aufgrund der patriarchalen Arbeitsteilung nach dem Geschlecht einen Großteil der bezahlten und unbezahlten Arbeit inklusive Haus- und Sorgetätigkeiten schultern. Frauen verbringen deutlich mehr Zeit als Männer mit Sorgetätigkeiten, was wiederum ihre Möglichkeiten einschränkt, am politischen und sozialen Leben teilzuhaben.
Ein weiteres Argument ist, dass die Unsichtbarkeit und Entwertung von Care-Arbeit eine wesentliche Bedingung ist, um das patriarchale und kapitalistische Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten. Das komplexe Netz an Beziehungen, materiellen Bedingungen und Fähigkeiten, das Care-Arbeit ausmacht, bleibt im Verborgenen. Einerseits gibt es direkte Care-Tätigkeiten, die Körperkontakt erfordern: ankleiden, baden, füttern, ins Bett bringen und so weiter. Indirekte Care-Tätigkeiten hingegen stellen die materiellen Bedingungen sicher, die es zum Leben braucht. Dazu gehören einkaufen, haushalten, managen, planen.
Ein dritter Zusammenhang, in dem Care thematisiert wird, sind Forderungen nach staatlichen Investitionen und Programmen der sozialen Absicherung. Dabei geht es um öffentliche Infrastruktur, Gesundheit, Bildung und Ernährung, um Arbeitsrechte und menschenwürdige Renten, um Förderung von Programmen zur Diversitätssensibilisierung, um gleiche Bezahlung von Frauen und Männern. Zahlreiche konkrete Maßnahmen wurden schon vorgeschlagen und teilweise ins Rollen gebracht, Vaterschafts- und Mutterschaftsurlaub, Arbeitszeitverkürzung und Flexibilisierung von Schulzeiten sowie Wissenschaftsförderung, einerseits für quantitative Studien, die untersuchen, wie groß in den einzelnen Ländern der Anteil ist, den Care-Tätigkeiten zum Bruttoinlandsprodukt beitragen, andererseits für qualitative Studien zu sozialer Ungleichheit. In jüngster Zeit werden außerdem nationale Care-Systeme entwickelt.
Care-Kette
Die soziale Reproduktion funktioniert nur durch Care-Tätigkeiten, die aktuell hauptsächlich von Frauen und hauptsächlich im Privathaushalt geschultert werden. Dabei wächst gleichzeitig die Nachfrage nach Hausangestellten, die die soziale Reproduktion in fremden Haushalten sicherstellen. Es entsteht eine globale Care-Kette, in der Frauen massenhaft aus dem Süden in den Norden, vom Land in die Stadt und von ärmeren Städten in reichere Städte migrieren, um diese Nachfrage zu befriedigen.
Solche Maßnahmen, die Arbeit und Familie miteinander versöhnen sollen, sind zwar notwendig, weil der Neoliberalismus soziale Sicherungssysteme nach und nach abgebaut hat. Gleichzeitig schränken sie aber unsere Fähigkeit ein, über langfristige Alternativen nachzudenken, Alternativen, die aus anderen epistemischen und politischen Positionierungen kommen und die nicht darauf abzielen, das bestehende System zu verbessern, sondern es grundlegend zu verändern. Fürsorge muss über das bestehende System hinaus gefühlt-gedacht werden. Wir brauchen Alternativen, die das Leben in den Mittelpunkt stellen und nicht die Kapitalakkumulation. Wir müssen die patriarchale Perspektive auf die Wirtschaft überwinden und unseren kompletten Lebensstil infrage stellen – also jene Formen der Produktion und der sozialen Organisation, die zum aktuellen Kollaps der Zivilisation geführt haben.
Gewaltsituationen entstehen
Der Feminismus des Südens geht weit über den liberalen oder institutionellen Feminismus hinaus. Wir kritisieren, dass solche Maßnahmen immer noch nur für ganz bestimmte Frauen gemacht sind, für weiße, urbane Mittel- und Oberschichtsfrauen. Sie nehmen in Kauf, dafür die Unterdrückung anderer Frauen zu reproduzieren. Unsere Territorien werden enteignet, verschmutzt, verarmt und/oder der soziale Zusammenhalt derart geschwächt, dass daraus Gewaltsituationen entstehen, in denen wir und unsere Familien nicht mehr sicher sind. In der Regel sind es wir Frauen aus dem Globalen Süden, die diese Territorien verlassen, um andere Wege zu suchen, die soziale Reproduktion sicherzustellen. Die Sorgearbeit überlassen wir den Frauen, die zurückbleiben. In den meisten Fällen enden wir als Hausangestellte oder Pflegearbeiterinnen in prekären Arbeitssituationen, mit niedrigen Löhnen und langen Arbeitszeiten, in nicht weniger gewaltvollen und rassistischen Verhältnissen.
Wir als Arbeiterinnen, Bäuerinnen, indigene Frauen, Mädchen, alte Frauen, arme Frauen, rassifizierte Frauen, als Migrantinnen, Vertriebene, Lesben und trans Personen müssen unsere Positionen und Forderungen fühlen-denken und hinterfragen. So finden wir alternative Wege, um Fürsorge aus dem Privaten und aus der Familie herauszuholen und zu etwas Politischem und Kollektivem zu machen.
Die Entstehungsgeschichte unserer Bewegungen erinnert uns daran, dass wir Teil der Natur sind. Wir sind mit der Erde und dem Territorium verbunden. Weder Wirtschaft noch Politik oder die Organisation der Care-Arbeit können ohne Respekt gegenüber den Zyklen der Natur und ohne soziale Gerechtigkeit existieren. Das aktuelle Modell ist weder nachhaltig noch gerecht. Als Frauen des Südens spüren wir die verheerenden Auswirkungen in unseren Körperterritorien. Leben zu erhalten wird immer schwieriger. Frauen und Mädchen auf dem Land und in marginalisierten Stadtvierteln sind gezwungen, immer mehr zu arbeiten, sei es, weil es schwieriger wird, Trinkwasser zu besorgen, sei es, weil per Hand gewaschen werden muss, um Strom zu sparen, sei es, weil mehr Zeit für die Pflege von Familienangehörigen aufgewendet werden muss, weil die öffentliche Gesundheitsversorgung zu schlecht ist, sei es, weil sie sich um diejenigen kümmern, die ihre prekäre oder gesundheitsgefährdende Arbeit, etwa in den Minen oder der industriellen Landwirtschaft, krank gemacht hat.
Wandel kommt nur aus Widerstand
Fürsorge zu fühlen-denken heißt anzuerkennen, dass ein Wandel des kapitalistischen, kolonialen, patriarchalen Systems nur aus dem vielfältigen lokalen und gemeinschaftlichen Widerstand kommen kann. Kollektive Aktionen im Kampf um Wasser, Saatgut und Territorien oder das Knüpfen von Beziehungsnetzwerken sind Beispiele für ein Konzept von Care, das sich als Netzwerk des Lebens versteht. In dem Sinne ist das Stärken unserer gemeinschaftlichen Strukturen ein wesentlicher Pfeiler im Widerstand gegen den Neoliberalismus und den Individualismus. Indem wir Fürsorge gemeinschaftlich organisieren, sprengen wir die unterdrückende und ausbeuterische Ordnung. Unsere Aktionen müssen also eine klare Positionierung haben: antipatriarchal, antikapitalistisch, antirassistisch, kollektiv und von unten.
Das heißt aber auch, dass wir Fürsorge nicht romantisieren dürfen. In unseren Gruppen und Kollektiven müssen wir eine Diskussion darüber führen, dass Sorgearbeit nicht nur zu Hause stattfindet und wir auch in unseren Gemeinschaften Ungleichheiten reproduzieren, indem wir Frauen „weibliche“ Rollen und Aufgaben zuweisen wie Koordination, Motivation, Verwaltung, Logistik, Versorgung, Planung. Auch in unseren Basisorganisationen gibt es Arbeitsteilung nach Geschlechtern, und in der Regel werden die weiblichen Arbeiten nicht gesehen und nicht wertgeschätzt. Auch hier reproduzieren sich patriarchale Strukturen.
Unsere Kämpfe sollten wir in ihren vielfachen Verknüpfungen verstehen. Sie gehören alle zusammen, die Kämpfe um Care und den Erhalt des Lebens, die Anerkennung von denjenigen, die unsere materiellen Lebensbedingungen verteidigen, die Kämpfe um Land, Wasser, Luft und Nahrungsmittel. Wir sollten jeden Kampf unterstützen, der die strukturelle Gewalt gegen die Körperterritorien der Frauen beenden will. Schlussendlich geht es darum, Fürsorge nicht nur als individuelles Problem zu verstehen, sondern als gemeinsame Situation zu fühlen-denken, die wir vor allem in unseren als weiblich markierten Körpern erleben. Lasst uns eine Verbindung zwischen den Körpern jeder einzelnen von uns herstellen, als erstes Territorium, das es zu verteidigen gilt, und die Autonomie der Territorien einfordern, in denen diese Körper leben.
Die Autorin ist Soziologin und ökofeministische Aktivistin, u.a. beim Red de cuidados und der agrarökologischen Frauenallianz AMA AWA aktiv. Zurzeit schreibt sie ihre Doktorarbeit über „Die Bedeutung der Care-Arbeit für die Agrarökologie“. Kontakt: diana.trevilla@gmail.com. Der Text ist hier zuerst erschienen, und an dieser Stelle eine Übernahme aus ila 443, März 2021, hrsg. und mit freundlicher Genehmigung der Informationsstelle Lateinamerika in Bonn. Zwischenüberschriften wurden nachträglich eingefügt.
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