Altenpflege — Eigenanteile steigen, aber für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Personal reicht es immer noch nicht

Im Herbst dieses Jahres sind die Preise für die ambulante Pflege und Pflegeheime zum Teil deutlich gestiegen. Der Grund: Die Beschäftigten bekommen mehr Geld. Zum einen ist der Pflegemindestlohn deutlich angehoben worden. Für Pflegefachkräfte steigt er auf 17,10 Euro, für Pflegeassistenzkräfte auf 14,60 Euro und für Pflegekräfte ohne Ausbildung auf 13,70 Euro. Weitere Steigerungen sind für das kommende Jahr bereits vereinbart.

Hinzu kommt die sogenannte Tariflohnpflicht. Für die Einrichtungen muss entweder ein Tarifvertrag gelten, sie müssen sich bei der Bezahlung ihrer Pflege- und Betreuungskräfte an einem orientieren oder sie müssen das durchschnittliche tarifliche Entgeltniveau des jeweiligen Bundeslandes einhalten. Sonst werden sie nicht zugelassen.

Damit wollte die damalige schwarz-rote Bundesregierung die Tarifbindung der Branche und damit auch die Situation der Pflegekräfte verbessern. Im Gegenzug sollen die Pflegekassen bei den Verhandlungen über die Vergütung von Pflegeleistungen diese Kosten berücksichtigen und rückfinanzieren.

Halbgare Pflegereform

Die Verhandlungen über die Pflegesätze finden in der Regel nur einmal im Jahr für das Folgejahr statt. Das bedeutet, dass die jetzt steigenden Kosten in den meisten Fällen noch nicht berücksichtigt sind. Und unabhängig davon: Die Leistungen der Pflegekasse sind gedeckelt. Hinzu kommen Inflation, steigende Lebens mittel- und Energiekosten, was damals noch nicht absehbar war. Für Pflegebedürftige und ihre Angehörigen bedeutet das noch stärker steigende Eigenanteile, und das in einer Zeit, wo ihr Geld durch Inflation und steigende Preise auch immer knapper wird.

„Den Schlamassel haben wir jetzt“, sagte Matthias Gruß, der im ver.di-Bereich Gesundheitswesen/Gesundheitspolitik für die Altenpflege zuständig ist. Die schwarz-rote Pflegereform bezeichnet er als „halbgar“. In deren Zug wurde auch die Dynamisierung der Leistungen für fünf Jahre ausgesetzt. Es räche sich, dass die damalige Regierung nicht bereit war, die Eigenanteile fest zu begrenzen. Doch dazu und zu einer Bürgerversicherung, bei der mehr Menschen in die Pflegeversicherung einzahlen, konnte sich auch die jetzige rot-grün-gelbe Bundesregierung nicht durchringen. Im Koalitionsvertrag ist nur von einem Prüfauftrag für eine freiwillige Vollversicherung die Rede. ver.di macht sich seit vielen Jahren für eine Solidarische Pflegegarantie stark, damit jede*r die Leistungen bekommt, die im Alter gebraucht werden.

Doch jetzt gibt es erst einmal böse Überraschungen für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, wenn die neuen Abrechnungen kommen. 1.000 Euro mehr seien nicht selten, sagt Gruß. Es hänge in erster Linie davon ab, wie hoch die Bezahlung der Beschäftigten vorher gewesen sei. Er kritisiert aber auch, dass bei der Tariflohnpflicht nachträglich auf Betreiben der kommerziellen Träger die Möglichkeit geschaffen worden sei, sich nur im Durchschnitt am regionalen tariflichen Entgeltniveau zu orientieren. Dies verwässere die Tariflohnpflicht dann gänzlich. Prüfen müssten das die Pflegekassen, doch bei 30.000 Betrieben, die es bundesweit gibt, könnten sie das höchstens in Stichproben.

Lange Wartelisten

Dass die höheren Eigenanteile dazu führen, dass Menschen ihre Angehörigen wieder aus dem Heim nach Hause holen oder weniger Pflegeleistungen in Anspruch nehmen, kann sich Ilka Steck nicht vorstellen. Sie ist Vorsitzende der Konzernmitarbeitervertretung der Evangelischen Heimstiftung, die 90 Pflegeheime, 40 ambulante Dienste und 25 Tagespflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg betreibt. „Es gibt keinen Wettbewerb um Kunden. Die Leute sind froh, wenn sie überhaupt einen Platz bekommen oder einen ambulanten Dienst finden“, ist ihre Erfahrung. Da zählten Wohnortnähe oder gute Pflege mehr als der Blick auf die Preisliste. Denn oft könnten die Suchenden ihre Angehörigen zu Hause nicht mehr angemessen versorgen, seien am Ende ihrer Kräfte. Doch die Wartelisten sind lang.

Was den Einrichtungen jedoch fehlt ist Personal. Und um das zu finden, reichten weder die Erhöhung des Pflegemindestlohns noch die Tariflohnbindung. Sie nennt als Beispiel ein Pflegeheim ihres Trägers, in dem von 99 Betten zehn geschlossen wurden. Mit weniger als 90 Betten ist die Pflichtbesetzung mit Personal geringer. „Wir müssen die Arbeitsbedingungen verbessern, verlässliche Dienstzeiten bieten, kein Holen aus dem Frei“, sagt Steck.

Und das müssten die Pflegekassen refinanzieren, ohne Wenn und Aber. Das gilt auch für die derzeit stark steigenden Kosten für Lebensmittel und Energie. Sparen, sparen, sparen, heiße derzeit die Devise, die Frage sei nur: Wo? Denn dort, wo alte, kranke oder demente Menschen seien, könne man nicht einfach die Temperatur absenken oder auf Einsicht setzen. Allerdings wird in den Dienstzimmern und Büroräumen inzwischen weniger geheizt, daher wurden jetzt Fleecejacken für die Mitarbeiter*innen angeschafft.

Silke Behrendt, Mitglied des Betriebsrats der Awo in Nordrhein-Westfalen, weist auf ein weiteres Problem hin. Gemeinnützige Träger, wie etwa die Awo, dürften keine Rücklagen bilden. Daher haben sie in der jetzigen Situation auch keinen finanziellen Puffer. Und die steigenden Eigenanteile führen dazu, dass das ErspARTE der Pflegebedürftigen schneller aufgebraucht ist. „Da ist die Lebensleistung, das, was diese Menschen über viele Jahre erwirtschaftet haben, schnell weg“, sagt Silke Behrendt. Da Kinder erst ab einem Jahreseinkommen von mehr als 100.000 Euro herangezogen werden dürfen, bliebe den Pflegebedürftigen keine andere Wahl als zum Sozialamt zu gehen. Ein Schritt, der für viele mit Scham belastet ist, sagt Silke Behrendt. Und der dazu führt, dass die Kommunen die Mehrkosten übernehmen müssten – obwohl auch deren Kassen leer sind.

Personalmangel, starke Belastung, hohe Kosten für Pflegebedürftige. „Es passiert all das, was wir als Gewerkschaft lange geunkt haben“, sagt die Altenpflegerin. Ein hoher Krankenstand verschärfe die Situation für die Beschäftigten aktuell zusätzlich: „Die Verantwortung belastet.“ Es werde Zeit, dass ausreichendes und qualifiziertes Personal verpflichtend ist und damit auch finanziert werde.

Auch Matthias Gruß sieht ein großes Problem in den derzeitigen Arbeitsbedingungen. Zudem brauche es eine wirkliche Pflegereform, die diesen Namen auch verdient, die dem derzeitigen Stückwerk ein Ende macht. „Dahinter steht auch die Frage, wie menschlich und solidarisch unsere Gesellschaft ist“, sagt er. Vorschläge dazu gibt es, wie die solidarische Pflegegarantie. Bis dahin sei es als Sofortmaßnahme möglich, die Beitragsbemessungsgrenzen anzuheben und alle Einkommensarten, also auch Einnahmen durch Mieten oder Vermögen, mit Beiträgen zur Pflegeversicherung zu belegen. Mit den Mehreinnahmen sei es möglich, die Pflegebedürftigen zu entlasten, Gerechtigkeitslücken zu schließen. Doch die derzeitige Bundesregierung, die seit einem Jahr im Amt ist, hat das Thema scheinbar erst mal auf Pause gestellt.

Mehr zur Solidarischen Pflegegarantie hier.

Dieser Beitrag ist eine Übernahme von ver.di publik, mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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