Die Kopfschmerzen wurden in der Nacht schlimmer, da half auch kein Kulenkampff mit einem Gedicht von Eugen Roth – etwa das von dem, der sich ein Kotelette briet, bemerkt, dass dieses im missriet, doch da er es sich selbst gebraten, tat er, als wäre es ihm geraten und so weiter – danach erklang ein versöhnliches Chopin-Nocturne als Ohrenyoga zum Sendeschluss und schließlich regierte das Testbild die Mattscheibe mit der akustischen Summe aller möglichen Frequenzen, genannt: Weißes Rauschen. “So muss es wohl im Mutterleib geklungen haben,” war Alwys letzter Gedanke vor dem Tiefschlaf. Allerspätestens bei diesem Weißen Rauschen war Alwys im Reich der Träume angelangt, erlebte im Bett ein Karusselfahren, was sich unmittelbar auf sein Träumen auswirkte. Das Römer-Bier war ihm allerdings wieder nicht bekommen. Vielleicht hatte er vier statt der obligatorischen drei getrunken, also eins zu viel. Gegen fünf Uhr morgens löste er im Halbschlaf eine Brausetablette gegen jede Art von Kater in einem Glas kaltem Wasser auf und kippte es fast ohne zu schlucken wie einen Schnaps.

In der Tagesschau Nachtausgabe hatte er noch gesehen, wie an diesem Montag in Leipzig für eine bessere DDR demonstriert wurde oder für mehr Demokratie dort, was auch immer. „Sitzen im Geiste mit an der Tafel,” fiel ihm dazu nur ein und meinte die Bettelbriefe von den Ostverwandten. Irgendwas tat sich politisch im Osten, seit Gorbatschow Glasnost und Perestroika propagierte.

„Da ist der Iwan eigentlich moderner als diese Scheiß-DDR,” dachte Alwys mehr unbeteiligt als interessiert, als er seine Bücher und anderen kramigen Habseligkeiten aus den Holzregalen in Bananenkisten vom Discounter packte. Harry hat sie ihm beim Discounter beiseitegeschafft. Im Break bestellten sie scherzeshalber manchmal ein Glas Nost. Wirt Stefan musste seit einiger Zeit nicht mehr darüber lachen, sondern glotzte zurück wie ein Auto.

„Noch zehn Kisten, dann hab’ ich’s. Bretter aushebeln, Stapel machen, die metallenen Querstreben abschrauben und die Seitenteile der Länge nach an den Rand legen. Wäre das auch erledigt. Muss Josh die Hecktür auflassen für die langen Seitenteile und ich hänge einen roten Wimpel mit Hammer und Sichel dran,“ freute sich Always und fühlte sich dabei wie ein Organisationstalent, wenn auch immer auf dem letzten Drücker.

Der Fernseher zeigte jetzt sein weiß-graues Griesel und rauschte wie ein Wasserfall. Alwys schaltete benommen mit dem großen Zeh aus und legte sich auf seine zu ein Meter vierzig mal ein Meter neunzig miteinander verschraubten Spanplatten auf vier Holzstempeln mit Futonauflage. Alle wollten auf Futon schlafen. Alwys war einer von allen. Futon war hart und deshalb gesund, meinte Alwys. Es gab die Rosshaarmatratzen mittlerweile zu erschwinglichen Preisen beim Discounter im Angebot.

Alwys rechnete für den Umzug kommenden Samstag mit drei Fahrten im R4 – ungefähr drei, vielleicht vier Fahrten. Nur das Bett machte ihm Sorgen. Die Kreuzschlitze der Schrauben für die Zusammenhalt stiftenden Metallwinkel hatte er beim viel zu schnellen Hineindrehen mit dem Bohrmaschinenaufsatz von Joshs Black&Decker derart ausgefräst, dass kein Schraubenzieher mehr griff.

„Wie soll ich das bloß wieder auseinanderbekommen? Wird irgendwie gehen. Zur Not geht’s ohne Bett. Dann klopp’ ich die Spanplatten einfach kurz und klein und verfeuer’ sie im Kamin. Futon direkt auf Boden ist sowieso gesünder, kommt die positive Erdstrahlung besser rüber.“

Gegen sechs Uhr wurde Alwys aus dem Schlaf gerissen. Mitbewohner Claudius brummte wieder. Das konnte der gar nicht kontrollieren, dieses tiefe Brummen. Es klang wie ein mikrofonierter Kater, er war nur keiner. Claudius absolvierte als Chemiestudent ein Praktikumssemester und wollte nicht in den überfüllten Labors Lernversuche durchführen. Deshalb war er morgens vor den anderen in der Uni. Sein schlechter Standardwitz lautete: Warum stehen Studenten schon um 6 Uhr auf? Pause. Weil um halb sieben die Geschäfte zu machen.”

Leise zu sein war nicht seine Stärke. Es war noch dunkel draußen. Geweckt hatte Alwys eigentlich nicht das Brummen von Claudius, sondern dessen Fluchen. Als Claudius das Licht in der Küche einschaltete, feierten die Kakerlaken rund um Spülbecken, Herd und Abfalleimer wieder einmal Mikro-Kirmes. Diesem Ungeziefer war nicht Herr zu werden. Was hatten sie nicht schon versucht? Bevor die vier der Zweck-Wohngemeinschaft in die Osterferien gegangen waren, hatten sie mit Atemschutzmasken alles ausgeräuchert, mit Chemiekeulen besprüht und die vier Zimmer für mindestens eine Woche kontaminiert hinterlassen. Als sie wieder eintrafen, stank es zwar immer noch nach den Giften, die Kakerlaken hatten sich jedoch bereits daran angepasst. Überhaupt, hatte einmal eine linke Tageszeitung aus Frankfurt geschrieben, würden als einzige Organismen nur Kakerlaken einen Atomkrieg überleben. Ihr Chininpanzer wären gegen Radioaktivität resistent und gegen andere Gifte würden die krabbelnden Aasfresser sofort Abwehrmechanismen entwickeln. Quod errat demonstrandum. „Vielleicht ist die neue Generation von Tschernobyl-Kakerlaken schon da,” wurde in der Tageszeitung gemutmaßt.

Claudius setzte dem nächtlichen Treiben für sich und damit auch für die anderen drei ein Ende, als er nach den Osterfeiertagen als erster wieder die Wohnung betrat. Karfreitag hatten sie noch eine große Fischpfanne verspeist – eine Mitbewohnerin aus Norddeutschland konnte Fisch ausnehmen -, niemand hatte daran gedacht, die Fischpfanne vor der Abreise zu spülen und den Abfall herunter zu tragen. Oder jeder dachte, das wird jemand anderes machen – ich mach’s nicht. Oder es dachte niemand etwas. Als Claudius Dienstag nach Ostern in die Küche trat, waren die Kakerlaken überall, mitten am Tag. Die Pfanne lebte! Claudius kam das letzte Essen hoch. Immerhin konnte er das Neonlicht einschalten und wie auf Kommando verkrochen sich die Kakerlaken in alle möglichen Zwischenräume, am liebsten in die Öffnung, aus der die Warmwasserleitung hochkam. Warm und dunkel mochten sie. Claudius reichte es jetzt. Er schrieb in seinem Ekel eine Kündigung an die Wohnungsgesellschaft. Weil sie einen Gruppenmietvertrag hatten, flogen gleich alle mit raus, Frist: Ein Monat. Es war drei Wochen vor Pfingsten und nächsten Montag lief die Frist aus.

Claudius hatte also die Kakerlaken mit dem Neonlicht vertrieben und dabei kräftig geflucht. Sobald die Kakerlaken weg waren, brummte Claudius wieder gutural. Das hatte Alwys gehört, als er schon wach war. Alwys hörte im Bett auch Claudius’ stetes Müsli-Löffeln mit anschließendem Gulp, wenn das zu Haferbrei zerkaute Müsli seinen Weg abwärts in die Magengrube nahm. Gulp war ein archaisches Geräusch wie sein Brummen. Verursacht wurde es von Claudius Kehlkopf, der in der Schluckbewegung das Müsli gewissermaßen nach unten hin katapultierte. So stellte sich Alwys das jedenfalls vor und wurde von Gulp zu Gulp aggressiver. Brumm, Gulp. Brumm, Gulp. „Gottseidank hat das Samstag ein Ende, gegen Claudius gibt es kein Spray,” sinnierte Alwys.

Als Claudius dann kurz vor sieben die Wohnung verlassen hatte, war die Welt für Alwys wieder etwas mehr in Ordnung. Hell genug, dass sich die Kakerlaken im wahrsten Sinne des Wortes verkrümelt hatten und früh genug, um sich ganz dem gesunden Morgenschlaf hinzugeben, kurz und fast kotzlos. Alwys hatte jetzt tatsächlich einen fetzigen Traum: Er träumte, er sei einer der Finger von Zappa aus dem Trickfilm “200 Motels.” Zappa spielte gerade das Solo in „Inca Roads,” an der Stelle, wo er als der einzige Gitarrist unter der Sonne überhaupt fähig und in der Lage ist, ein Wah-Wah-Pedal als eigenes Instrument an der Gitarre zu spielen. Alwys war der linke kleiner Finger von Zappa und musst sich mords nach vorne strecken, damit er die hohen Töne greifen konnte. Oder er wurde durchgeschüttelt, weil Zappa den kleinen Finger, also ihn, als Triller ständig auf die Saite aufschlug und wieder abzog, was er ja besonders gut konnte. Da wo Zappa ist, dachte Alwys im Traum und fühlte sich sehr nah’ seinem Idol mit dem merkwürdig viereckigen Kinn- und breitem Oberlippenbart, da wird der Van Alen nie hinscheißen.

Jetzt ging wirklich die Post ab im Traum, Zappa schwenkte den Gitarrenhals hoch und runter, spielte irrwitzige Skalen und zog bei fast jeder Phrase mit dem kleinen Finger, der Alwys war, die Seite noch einmal tremolierend hin und her, trat dabei wild das Wah-Wah-Pedal und die Marimba spielte dazu gegen den Grundrhythmus eine zweite Stimme.

Alwys wurde davon schlecht. Sein Kopf wurde hin und hergeworfen, ihm wurde schwindlig, beziehungsweise drehte sich ihm der Magen um. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett. Von der Zimmertür aus starrte ihn Zappa direkt an: Sie zeigte diesen wunderbaren Musiker im Starschnittformat, wie er auf der Schüssel hockt und gewissermaßen auf alles scheißt, was anderen heilig ist. Alwys blickte Zappa jetzt direkt in die Augen. „Frank,” sagte er, „du hast dir das Gitarrenspiel selbst beigebracht, und, wie ich, benutzt Du den kleinen Finger der linken Greifhand. Das unterscheidet uns von den anderen, von Eric Clapton oder Rory Gallagher, dem Bullfrog Blueser“ – Alwys sang laut: „What did you e-e-ver?“ So fing der “Bullfrog Blues” an – „oder von Jan Ackermann von Focus, der ist fast in unserer Liga und kann außerdem Jodeln.“

Alwys jodelte laut und stieg in die Jeans, als gewissermaßen das Programm wechselte. Es war kurz nach acht und die Zeitschaltuhr sprang an, beziehungsweise, die Stereoanlage begann Jessica zu spielen, weil ihr Stecker in der Steckdose der Zeitschaltuhr steckte und Strom bekam. „Jau!“ Alwys pfiff die sich hochschraubende, tänzelnde Melodie mit. „Warum Atomkraft, bei mir kommt der Strom aus der Zeitschaltuhr,” sprach Alwys und war fast wieder putzmunter, obwohl bei Leibe kein Frühaufsteher. Um zum Bad zu kommen, musste er das einzige Durchgangszimmer der Wohnung queren, das quasi unbewohnt war, außer vom Hund der Mieterin. Sie selbst war meist bei ihrem Lover mit Altersunterschied – der hasste Haustier – und kam nur kurz zum Füttern abends vorbei. Gassi gehen könnten ja die anderen damit. Warum das so war? Alwys war es egal und mit einem verständnisvollen „Arme Sau!“ traf sein Blick auf den des Hundes. „Der treueste Freund des Menschen,” dachte Alwys, „Umgekehrt stimmt’s leider nicht.“

Die „Komödie des Geldes” von Arthur Zupf erscheint mit freundlicher Genehmigung vom 1. bis 24. Dezember 2024 als Erstveröffentlichung exklusiv im Extradienst. Rückmeldungen sind explizit erwünscht.

Über Arthur Zupf:

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