Christian Lindner hat sich (fast) unter Tränen von seiner Partei verabschiedet und ihr empfohlen so weiterzumachen, wie bisher. Der mandatslose Exvorsitzende der FDP- Bundestagsfraktion, Christian Dürr, wurde zu seinem Nachfolger gewählt und bekräftigte, dass die FDP so weitermachen wird, wie bisher. Das hat überrascht: Mancher hätte nach dem Regierungsdesaster der Ampel Veränderungen oder wenigstens deren Ankündigung erwartet.

Ein paar Forderungen nach liberalen Bürgerrechten etwa, um bei den Grünen etwas zu knabbern. Oder ein bisschen sozialer Liberalismus – damit die Linke nicht ganz alleine dasteht und die SPD sich ärgert. Keine Sorge, das wird nicht passieren, Christian Dürr wird die FDP stabil unter 5% halten, wo sie seit Februar steht. So stabil, dass sie nur noch in Baden-Württemberg und Niedersachsen auf 5% nach Umfragen kommt, in den meisten Bundesländern unter die feststellbare Stelle in Umfragen gerutscht ist. Die FDP will weiterhin die Partei der Eigeninitiative und Selbstverantwortung der Wohlhabenden und Erfolgreichen bleiben. Nun ja: a propos Eigeninitiative und Verantwortung. Messen wir doch mal Herrn Lindner an den eigenen Maßstäben der FDP und seinen Erfolgen:

Eigenwillige Definition von Karriere

Christian Lindners militärische Karriere begann er als Kriegsdienstverweigerer auf einer FDP-nahen Zivi-Stelle als Hausmeister in der Theodor-Heuss-Akademie Gummersbach. Solche Stellen waren auch bei uns Jungdemokraten in den 70er Jahren beliebt. Keine nennenswerte Arbeit und viel Zeit für Politik!  Nach der Ableistung dieses “schweren Dienstes”, den er nach eigenem Bekunden absolvierte, um seine 1997 begonnene “unternehmerische Tätigkeit” als Berater fortzuführen, machte er die erste Kehrtwende und wurde während des Studiums Reserveoffizier. Als solcher führte er bei Wehrübungen in Köln-Wahn Einsatztagebücher und wurde vom Oberleutnant 2008 zum Verbindungsoffizier – Rang: Major der Reserve (Major: dafür musste mein Onkel von 1955 bis 1972 uns alle 17 Jahre lang vor “dem Russen” schützen). Lindner machte auch das nebenbei, während er längst seit 2000 im Landtag NRW saß!

Der “Jungunternehmer”

Wir erinnern uns: geboren 1979, war er ab 1997 als “Unternehmensberater” tätig. Auch der Autor dieses Artikels hat nach insgesamt 22 Jahren Politik mit 46 Jahren diesen Beruf ergriffen – aber wer honoriert  ernsthaft den Rat eines 18-jährigen? Lindner wurde dann 2000 Teilhaber und Geschäftsführer der Firma Moomax GmbH, die nach etwa einem Jahr ihn und seinen “JuLi”-Kollegen Knüppel feuerte – was der Firma nichts mehr half, die wenig später Konkurs anmelden musste. Die Kreditanstalt für Wiederaufbau verlor dabei 1,2 Mio. €. In der Folgezeit kokettierte Lindner damit immer wieder und behauptete, “zwei Unternehmen” gegründet zu haben, das “eine erfolgreich, das andere lehrreich”.

Scheinbar unaufhörlicher Aufstieg

Er wurde Generalsekretär der FDP NRW und schleßlich 2013 der jüngste FDP-Vorsitzende aller Zeiten, nachdem sein Vorgänger Phillip Rösler bei der Bundestagswahl 2013 die FDP erfolgreich unter die 5% Marke gebracht hatte. Der rhetorisch zweifellos begabte Lindner errang 2017 mit der FDP 10,7% und führte sie zurück in den Bundestag. Die folgenden vier Wochen “Jamaica”-Koalitionsverhandlungen endeten nach seinem Willen mit einem politischen Desaster. Mit der Begründung “Lieber nicht regieren, als falsch regieren!” flüchtete die FDP vor dem Schwarz-Rot-Gelben Bündnis in die Opposition und errang damit den historischen Titel als Erfinder des “Politischen Coitus Interruptus.”

Die “Ampelkoalition” historisch zwingend

Die historische Situation Deutschlands 2021 hatte einige Parallelen zu 1998. Damals stöhnte das Land unter der Lähmung von 16 Jahren Helmut Kohl, wirtschafts- und sozialpolitischem und vor allem ökologischem Stillstand. Rot-Grün wurde innenpolitisch als Befreiung erkannt, verstrickte sich aber vom ersten Tag an in den Kosovo-Krieg, der die Grünen als Partei spaltete, und leitete mit Hartz 4 eine von der Wirtschaft begrüßte, aber die SPD dauerhaft spaltende Reform ein.

2021 hatten die Versäumnisse der “Groko” vor allem in der Umweltpolitik und in der liberalen Gesellschaftspolitik nach 16 Jahren Stillstand unter Angela Merkel einen Politikwechsel hin zu gesellschaftlichen Reformen und sozialer Aussöhnung geradezu erzwungen. Nach sechs Wochen Koalitionsverhandlungen schien das einzutreten, was viele Linksliberale wie Gerhart R. Baum herbeigesehnt hatten. Dass die FDP erkennt, dass sie den Grünen gesellschaftspolitisch viel näher steht, als der CDU/CSU und das “Feindbild” Grüne zu überwinden ist, und diese wiederum Freude an einer Kooperation mit marktwirtschaftlichen Mechanismen fänden. Eine zum Erfolg verdammte Konstellation – das suggerierten auch die ersten “Selfies” der Verantwortlichen, bei denen der integre Volker Wissing Regie führte..

Ein Krieg und seine profilierungssüchtigen Querschläger

Was 1999 die Rot-Grüne Koalition als Kosovo-Krieg wie beschrieben an den Abgrund der Handlungsfähigkeit brachte, was die Beteiligten aber mit Entschlossenheit – zumindest bis zur Selbstaufgabe 2005 – weiterführten, geriet 2022  durch den Überfall Russlands auf die Ukraine ins Wanken. Dass ein historisch neuer und existenziell gefährlicher Krieg alles ändert und von der Haushaltspolitik bis zur Schuldenbremse alles auf den Kopf stellt, dem war die Schlüsselfigur, Finanzminister Christian Lindner offensichtlich intellektuell nicht gewachsen. Trug die FDP noch die Zeitenwende und die “Sonderverschuldung von 100 Mrd. €” fürs Militär mit, erklärte Lindner danach jenseits jeder Vernunft die Schuldenbremse zum politischen Fetisch. Die aus heutiger Sicht angesichts 500 Mrd. Sonderschulden heuchlerische Klage der Union vor dem Verfassungsgericht gegen die Umschichtung von lächerliochen 60 Milliarden aus den Corona-Mitteln für die Reformprojekte konnte der Ampelkoalition nur deshalb den Garaus machen, weil Lindner von Anfang an schlampig gearbeitet und die verfassungsrechtlich fragwürdige Umschichtungsmaßnahme nicht erkannt oder nicht zur Kenntnis genommen hatte. Als das Kind in den Brunnen fiel und die CDU in Karlsruhe obsiegte, folgte Lindner seinem alten Reflex. Wenn es eng wird, aus der Verantwortung zu flüchten und sich an ideologischen Leerformeln festklammern. Damit hat er zeitweilig seinen Gegenspieler Robert Habeck in die Verzweiflung getrieben, aber letztlich viel schlimmer: die gesamte Regierung während ihrer schwersten Bewährungsprobe öffentlich an die Wand gefahren.

Freiheit für Egomanen?

Mit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine wurde die Ampelregierung obendrein durch profilierungssüchtige Egomanen aus den eigenen Reihen systematisch in der Öffentlichkeit geschwächt und diffamiert. Toni Hofreiter (Grüne), der nicht Agrarminister geworden war, Marie-Agnes “Flak-” Zimmermann (FDP), die gerne Verteidigungsministerin geworden wäre und Michael Roth (SPD), der seinen Staatssekretärsposten im Auswärtigen Amt verloren hatte, torpedierten öffentlich und systematisch den Kurs ihrer eigenen Regierung durch Reisen in die Ukraine, in Talkshows, öffentlichen Auftritten und innerparteilich, um sich zu profilieren, ihre eigene Regierung zu diskreditieren, ohne dass ihnen Einhalt geboten wurde. Die Fraktionsvorsitzenden (Dürr, Hasselmann/Dröge und Mützenich) hatten entweder nicht genügend “Eier in der Hose”, um diesen Heckenschützen ihr übles Treiben zu unterbinden oder keinen ausreichenden Rückhalt in den eigenen Fraktionen. Als ehemaliger Vorsitzender einer Landtagsfraktion in der rot-grünen Regierung 1995-2000 mit einigen Krisen stehe ich diesem fahrlässigen und zahnlosen Umgang mit Heckenschützen in den eigenen Reihen immer noch fassungslos gegenüber. Fraktionsspitzen, die so etwas nicht zu unterbinden schaffen, sollten statt im Parlament  im Sandkasten weiterspielen.

Das Kabinett als Lindners intrigante Spielwiese

Wie die profilierungssüchtigen Egomanen der drei Parteien führten auch die eigentlichen Chefs dieser Koalition Scholz, Lindner und Habeck das Regierungsschiff zu keinem Zeitpunkt vertrauensvoll miteinander. So gab es weder eine Abstimmung des Kanzlers und ehemaligen Finanzministers Scholz und Lindner im Bezug auf die Verfassungsklage der CDU wegen der Corona-Gelder und der Schuldenbremse. Lindner sah sich vom ersten Tag der Koalition an bemüßigt, Sachverhalte an die BILD-Zeitung durchzustechen, wie etwa den vorläufigen von Habeck intern in die Ressortabstimmung gegebenen ersten Entwurf des Gebäudeenergie- oder “Heizungsgesetzes”, um gegen den oder die Koalitionspartner Stimmung zu machen.

Was hat Lindner erreicht?

Die gravierendeste Verantwortungslosigkeit Lindlers liegt zweifellos in der ideologischen Verblendung bei der “Schuldenbremse” trotz geopolitischer Umwälzungen und eines unverhofften Krieges in Europa. Er hat sich weder als einsichtsfähig in die politischen Probleme des Landes, noch die notwendige Verantwortungsübernahme seiner eigenen Regierung in dieser prekären Situation in Europa gezeigt. Lindner hat gehandelt, wie ein 17-jähriger Pennäler, der sich als “Weltstar” fühlt, wenn er mit Kumpels auf der Autobahn Fußball spielt. Er hat die “Ampelkoalition” gegen die Wand gefahren und er hat die FDP als Partei gegen die Wand gefahren. Sie ist 2025 zum zweiten Mal aus dem Bundestag geflogen und stagniert nun weit unter 5%.  In drei  Bundesländern ist sie sogar unter der wahrnehmbaren Schwelle von 1%.

Desaster säumten seinen Weg

So schlimm stand es in der Geschichte der FDP bundesweit noch nie. Das ist die Bilanz des Unternehmensberaters und Politikers Christian Lindner. Nicht einmal die profillosen Vorgänger Kinkel, Westerwelle oder Rösler konnten diesen Negativrekord toppen. Die FDP, aus den Lehren der “Weimarer Republik” 1947 in Heppenheim neu gegründet, umfasste damals einen nationalen und nazi-nahen, einen wirtschaftsliberalen und einen dezidiert linksliberalen Flügel. Die Jungdemokraten und die sozialliberale Regierung führten ab 1969 zum Absterben der nationalen Kräfte um Mende und Zoglmann. Sie ermöglichten die Entspannungspolitik, die Strafrechtsreform, soziale Reformen, wie die Mitbestimmung, eine Bildungsreform und Frauenrechte, wie die Reform des § 218. Sie schafften die Gewissensprüfung für Kriegsdienstverweigerer und die Berufsverbote ab, schufen eine (fast) paritätische Mitbestimmung in großen Unternehmen.

Genschers großer Irrtum

1982 vertrieb Genscher mit der “Wende” die Linksliberalen aus der FDP und machte sie in der Folge durch Vergraulen jeglicher Reste linksliberaler Opposition  zur rechtsliberalen “Blockpartei” an der Seite der CDU/CSU. Als Helmut Kohl 1989 ohne Konsultation seines Koalitionspartners FDP das “10-Punkte-Programm” zur Wiedervereinigung im Bundestag vorstellte gefror Genschers Miene auf der Regierungsbank zu Eis. Das war der Beginn des manifesten  Bedeutungsverlustes der FDP. Das Verhalten der ostdeutschen Landesverbände, das in der Wahl Kemmerichs zum 3-Tage Ministerpräsidenten von AfDs Gnaden in Thüringen gipfelte, kündigte vom Niedergang der FDP im Osten. Lindner hat sich wohl keine Minute seiner Amtszeit mit der Frage beschäftigt, warum die FDP im Osten marginalisiert wurde. Wo Genscher noch 1990 über 20% in Halle holte.

Und das egomane parteipolitische Bashing, das Lindner in der brenzligen Situation eines nicht vorhergesehenen Krieges in Europa durch den völkerrrechtswidrigen Überfall Putins ungeniert und ohne Rücksicht auf Verluste für das ganze Land vor allem gegen Robert Habeck und die Grünen betrieb, ist wohl der Gipfel der Verantwortungslosogkeit eines Koalitionspartners in einer Bundesregierung seit 1949. Das wird so schnell historisch niemand toppen können.

Als Unternehmer und Politiker eine Niete

Christian Lindner verdiente zweifellos einen Preis fürs  “schöner Scheitern”.  Promi-Hochzeit auf Sylt mit einfliegendem Friedrich Merz, weiterhin reiche Fans unter den Politiksimulatoren (Maischberger ca. 990.000 € p.A.) Markus Lanz (ZDF), in ähnlichen Spären), Maybrit Illner (ZDF) und die Gewogenheit der konservativen Damen und Herren des Berliner Journalismus – von  Eva Quadbeck, (RND), über  Helene Bubrowski (FAZ, Table Media), Robin Alexander (Die Welt), und vor allem zur BILD-Zeitung. Wenig oder keinen Inhalt, schon gar keine politische Linie – außer Rhetorik nix gewesen. Seine einzige Stärke: Zwei Stunden am Stück quatschen ohne Manuskript oder Spickzettel – das wars. Digitalisierung first – Bedenken second – so tönt 2021 eine ehemalige Bürgerrechtspartei – nur noch peinlich, oberflächlich, substanzlos.

Sogar Merz hat es erkannt

In seiner Regierungerklärung hat Friedrich Merz für wenige Minuten wirklich überrrascht. Als er sich Olaf Scholz und Robert Habeck zuwandte und – entgegen seiner Wahlkampfrhetorik – für einen Augenblick anerkannte, dass diese Regierung unter nicht vorhersehbaren und nie zuvor gekannten Rahmenbedingungen Bemerkenswertes geleistet hat. Das hätte die Öffentlichkeit nach drei Jahren Ampelkoalition eigentlich ebenso wissen sollen.

Es ist vor allem Christian Lindners “Verdienst”, dass dem nicht so ist und dass nun eine Regierung den Weg in die 60er Jahre antritt, deren Kanzler mit rechten Sprüchen und rechter Politik die AfD verdoppelt hat. Weil viele das für besser halten, als das Gekeife und sinnlose Selbstzerfleischen der Ampelkoalition, für die vor allem der Name Christian Lindner steht. Aber keine Sorge: für diesen demokratischen Bankrott wird er fürstlich finanziell belohnt werden. Blackrock oder gar Elon Musk warten schon.

 

Über Roland Appel:

Avatar-FotoRoland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland. Mehr über den Autor.... Sie können dem Autor auch im #Fediverse folgen unter: @rolandappel@extradienst.net